EWR 3 (2004), Nr. 1 (Januar/Februar 2004)

Marc-Dietrich Ohse
Jugend nach dem Mauerbau
Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974)
Berlin: Ch. Links Verlag 2003
(407 Seiten; ISBN 3-86153-295-6; 24,90 EUR)
Als Untertitel seines Buches "Jugend nach dem Mauerbau" wählt Marc-Dietrich Ohse drei Begriffe: "Anpassung, Protest und Eigensinn". Das Ansinnen des Autors und der interpretatorische Rahmen der Arbeit sind damit grob abgesteckt. Ohse will sich der Jugend der DDR zwischen Mauerbau und den ersten Jahren der Honecker-Ära aus einem methodischen Blickwinkel nähern, der geeignet ist, "Ambivalenzen der ostdeutschen Gesellschaftswirklichkeit" (16) zu erfassen. Folgerichtig will er sich nicht beschränken auf eine Untersuchung "institutionalisierter Jugendpolitik" (17), sondern in seine Analyse auch die "Entwicklung jugendlicher Alltagskultur" einbeziehen.

Generell ist ein solcher Zugang, wie verschiedene Arbeiten der aktuellen DDR-Forschung zeigen, sinnvoll und vor allem insofern ertragreich, als er vor den Einseitigkeiten totalitarismutheoretischer Deutungen zu schützen weiß. Politische Zielvorgaben und Intentionen sind das eine, Lebenswelten und Wirkungen bei den ins Visier genommenen Adressaten etwas anderes. Freilich werfen solche Forschungsdesigns die Anschlussfrage nach den adäquaten Quellen auf. Ohse muss sich deshalb wie andere eingestehen, auch auf seinem Forschungsgebiet mit einer "Dominanz von Quellen aus dem Herrschaftsapparat" (20) konfrontiert zu sein. Die Asymmetrie der Quellenlage "von oben" und "von unten" (22) lässt sich zwar nicht überwinden, zumindest aber – und so ist es das Ziel der vorliegenden Studie – kann sie mittels lokalgeschichtlich angelegter Arbeiten (Untersuchungsort ist Leipzig) und der Verwendung "kirchlicher Materialien und privater Überlieferungen" (20) bzw. von Zeitzeugeninterviews relativiert werden und so dem Forschenden doch Einblicke in den Alltag ostdeutscher Jugendlicher geben. Neben den genannten Quellen nutzt der Verf. zudem Veröffentlichungen der staatlichen Jugendpresse und Untersuchungen des bekannten Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung (21). Auch das sind sicher akzeptable Quellen, was Ohse aber versäumt, ist eine methodische Reflexion der verwendeten (und ja höchst unterschiedlichen) Quellengattungen. Welches relative Gewicht kommt ihnen jeweils zu und welcher spezifische Erkenntniswert wird ihnen beigemessen?

Als leitendes Ziel der Studie formuliert Ohse, "die Sozialisation ostdeutscher Jugendlicher im Spannungsfeld von Protest und politischer Normierung … als Interaktion von Herrschenden und Beherrschten" (23) beschreiben zu wollen. Dieser Aufgabe nun soll in der fünf Kapitel umfassenden Arbeit nachgegangen werden. Während die ersten drei Kapitel chronologisch angelegt sind, verstehen sich das vierte und fünfte als "Exkurse" zu den Themen "Verhältnis ostdeutscher Jugendlicher zu den Kirchen" bzw. "Entwicklung jugendlicher Bewusstseinsformen im Spiegel der DDR-Jugendforschung" (19).

Anhand der bekannten Stationen zwischen Mauerbau, Jugendkommuniqué und Kahlschlagplenum von 1963 bzw. 1965, den Reformen im Bildungswesen Mitte der Sechziger bis hin zum Beginn der 3. Hochschulreform, den Auswirkungen des Prager Frühlings, den Weltfestspielen von 1973 und dem Jugendgesetz von 1974 werden die verschiedensten parteistaatlichen Maßnahmen sowie jugend- und bildungspolitischen Beschlüsse in ihrem jeweiligen Kontext erläutert und als sich nach dem ambivalenten Muster von "Toleranz und Repression" (365) ändernde Herrschaftsstrategien dargestellt. Auf der Seite der Beherrschten zeigt sich ein gleichsam wechselndes Bild: die einen übten sich in Anpassung, andere zogen sich zurück, wieder andere beteiligten sich an Protestaktionen; Mischformen und Übergänge zwischen unterschiedlichen Handlungsformen sind dabei eingeschlossen. Wie Ohse am Beispiel von Lehrlingen und jungen Arbeitern resümieren kann, gab es auch Varianten eines nur "vorübergehenden Loyalitätsentzugs", wenn es zum Beispiel galt, bestimmte Forderungen mit "Eigen-Sinn" durchzusetzen (373). Unter Studierenden waren solche Formen wie "Arbeitsverweigerung oder Demonstrationen" – so das weitere Resümee Ohses – nur in Krisensituationen vorfindbar. Angesichts des erhöhten Konformitätsdruckes, dem die nach universitärer Bildung Strebenden ausgesetzt waren, mag man diesen Befund für nicht sonderlich überraschend halten, andererseits kann Ohse an vielfältigen Beispielen zeigen (etwa im Kontext des Prager Frühlings), dass es auch in der Studentenschaft und unter jungen Intellektuellen einiges an Potenzial gab, das sich der SED und ihrer Politik auch widerspenstig und gleichermaßen wie in der Arbeiterjugend eigen-sinnig entziehen konnte.

Im Ergebnis seiner Untersuchung konstatiert Ohse für die DDR-Jugend dieser Zeit eine trotz aller auf Konformität abzielenden Jugendpolitik "nur oberflächlich [nivellierte] Differenzierungstendenz" (378), westliche Musikkulturen waren am Ende doch attraktiver als "propagandistische Großveranstaltungen" (367), und ihr Alltag hatte den Jugendlichen immer wieder vor Augen geführt, dass das "Zugeständnis geringfügiger Freiräume" stets an die "Verpflichtungen der Jugend gegenüber dem sozialistischen Staat und der Staatspartei SED" gebunden blieb. Die "kommode Wohlfahrtsdiktatur" produzierte, wie Ohse begründet abschließt, nur das ihr entsprechende Pendant, nämlich "widerwillige Loyalität" (379).

Alles in allem handelt es sich bei der vorgelegten Arbeit, die 2001 unter dem Titel "Jugend nach dem Mauerbau: Politische Normierung und Jugendprotest in der DDR, 1961-1974" von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen wurde, um eine materialreiche, lesenswerte und flüssig geschriebene Abhandlung. In der Gesamtschau der Arbeit treten die detailreichen Schilderungen in den Vordergrund, weniger Aufmerksamkeit hat der Autor der analytischen Durchdringung des präsentierten Materials gewidmet. Das zeigt sich u.a. auch in der ungenügenden Einführung und unscharfen Verwendung zentraler Begriffe (etwa Eigen-Sinn oder geschlossene Gesellschaft). Beim Lesen des Buches stellt sich zudem der Eindruck ein, dass der Autor einige seiner anfänglich gestellten Fragen und Untersuchungsperspektiven während der Arbeit aus dem Auge verliert. Das betrifft etwa die ursprüngliche Absicht etwas über die Sozialisation von DDR-Jugendlichen aussagen zu wollen, die man am Ende schwerlich eingelöst findet, das zeigt sich aber auch in der etwas konstruiert anmutenden Aufnahme des Generationenkonzepts im zusammenfassenden Teil.

Bedauerlich ist auch, dass die Interviewten nicht sorgfältiger in ihrem lebensgeschichtlichen Kontext eingeführt werden. Ausführlichere Fußnoten oder biographische Anmerkungen im Anhang zu diesen Personen wären hilfreich gewesen und hätten auch Zuordnungen zu Herkunft, Milieus, Bildungswegen und Netzwerken erleichtert. Das gilt auch für Personen, die im Kontext schriftlicher Quellen auftauchen und zur Erläuterung relevanter Vorkommnisse herangezogen werden. Nur noch mit der Materie besonders Vertraute wissen zum Beispiel, um wen es sich bei Annette Wolf (sie erscheint, obwohl wiederholt genannt, nicht einmal im Personenregister!) und Gunther Begenau handelt, was gerade sie bewogen hat, in ihrer Schule 1968 diese provokante Wandzeitung aufzuhängen (186f.) und welche Rolle sie im Weiteren in der Opposition der DDR gespielt haben. Solche Informationen wären nicht nur für den Leser mit biographischem Forschungsinteresse von Belang, sondern auch für den Historiker, der sich mit der DDR über den hier gewählten Untersuchungszeitraum hinaus beschäftigt.

Ungeachtet der kritischen Einwände und der im Hinblick auf eine Sozialisationsgeschichte offen gebliebenen Fragen bleibt insgesamt zu konstatieren: es ist ein lesenswertes Buch, das zum einen neue Erkenntnisse zur Jugendpolitik im SED-Staat vermittelt und zum anderen Einblicke gibt in den nur sehr bedingt steuerbaren Alltag ostdeutscher Jugendlicher zwischen Mauerbau und den ersten Jahren der Honecker-Ära.
Sonja Häder (Berlin / Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sonja Häder: Rezension von: Ohse, Marc-Dietrich: Jugend nach dem Mauerbau, Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974), Berlin: Ch. Links Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86153295.html