EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)

Ulrike Graf / Elisabeth Moser Opitz (Hrsg.)
Diagnostik und Förderung im Elementarbereich und Grundschulunterricht
Lernprozesse wahrnehmen, deuten und begleiten
Baltmannsweiler: Schneider 2007
(199 S.; ISBN 3-8340-0215-0; 18,00 EUR)
Diagnostik und Förderung im Elementarbereich und Grundschulunterricht Anlass für den vorliegenden Herausgeberband von Ulrike Graf und Elisabeth Moser Opitz ist der sich derzeit vollziehende Wandel der Grundschule, der sowohl alte Aufgaben vermehrt ins Blickfeld rückt als auch neue Aufgaben mit sich bringt. Dabei handelt es sich vor allen Dingen um die beiden folgenden Entwicklungstendenzen:

  • das ZusammenrĂĽcken von Elementar- und Grundschulbereich als Folge der Flexibilisierung der Schuleingangsphase;
  • die Forderung nach einer erhöhten diagnostischen Kompetenz – auch als eine Folge der größeren Altersspanne durch diese Flexibilisierung – bei Grundschullehrerinnen und -lehrern im Zuge von Bildungsstudien wie PISA, mit dem Ziel von „Differenzierung und Individualisierung einerseits und [...] der Begleitung von individuellen Lernprozessen andererseits“ (5).


In diesem Kontext sehen die Herausgeberinnen Diagnostik als eine unabdingbare Fähigkeit, um Kinder einerseits bestmöglich fördern zu können und andererseits einen zugleich persönlichkeitsfördernden sowie leistungssteigernden Beitrag zur Entwicklung von Kindern zu leisten. Während diagnostisches Arbeiten historisch betrachtet zunächst vor allem im sonderpädagogischen Bereich angesiedelt war, zeigen die „Adressatenbezüge der Autoren und Autorinnen [...], dass die Diagnostik längst eine Entgrenzung aus dem sonderpädagogischen Bereich erfahren hat und als Grundlage jeder Lernprozessbegleitung gilt“ (7).

Das Buch ist thematisch in zwei große Bereiche gegliedert: auf der einen Seite pädagogische Beiträge und auf der anderen Seite bereichsspezifische Beiträge, die nach den Unterbereichen Sprach- und Schriftspracherwerb, Mathematisches Lernen sowie Interdisziplinäre Sachbildung differenziert sind. Perspektivisch nehmen die Beiträge des Bandes drei verschiedene Ansätze auf:

  • die theoriegeleitete Interpretation diagnostischer Ergebnisse;
  • das Einbeziehen der Sichtweise des Kindes;
  • die Vermittlung diagnostischer Kompetenzen im Lehramtsstudium.


Mit der ersten Perspektive, der schulischen Notwendigkeit, diagnostische Ergebnisse theoriegeleitet zu interpretieren, beschäftigt sich der Großteil der Beiträge des vorliegenden Bandes. Dieser Schwerpunkt ergibt sich nicht zuletzt aus der Kritik an der teilweise proliferierenden Verwendung des Begriffs der Förderdiagnostik in der Sonderpädagogik, die zuweilen den Schluss nahe legt, dass sich aus einer Diagnostik unmittelbar Förderansätze generieren ließen. Entsprechend verweisen die Herausgeberinnen auf die Notwendigkeit der Kenntnis von fachlichen, didaktischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen diagnostischer Konzepte, um zu einem konkreten Förderbedarf und zu konkreten Förderhinweisen gelangen zu können. Der erste der Beiträge, der sich thematisch diesem Schwerpunkt zuordnen lässt, wurde von Petra Schulz verfasst und setzt sich mit der Analyse der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten von Schulanfängerinnen und Schulanfängern und sich daraus ergebender Entwicklungsaufgaben auseinander.

Kurt Czerwenka widmet sich in seinem Beitrag den pädagogischen Begegnungsmöglichkeiten bei Kindern mit ADHS. Die Beobachtung von literacy-Erfahrungen zu Schulbeginn und Fördermöglichkeiten wird in dem Aufsatz von Sven Nickel thematisiert. Auch die Möglichkeiten der Sprachstandsdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern finden in diesem Herausgeberband durch den Beitrag von Stefan Jeuk Berücksichtigung. Cordula Löffler beschäftigt sich mit Beobachtungsmöglichkeiten von Lernprozessen beim Orthographieerwerb. Empirische Untersuchungsergebnisse zum räumlichen und geometrischen Denken bei Vorschulkindern werden in dem Aufsatz von Elisabeth Moser Opitz, Ursina Christen und Renate Vonlanthen Perler vorgestellt und vor dem Hintergrund verschiedener entwicklungspsychologischer Ansätze der Entwicklung von räumlichem und geometrischem Denken diskutiert. Der letzte thematische Beitrag dieses Schwerpunktes von Meike Wulfmeyer setzt sich mit der Bedeutung des Begriffs der „nachhaltigen Entwicklung“ für den Sachunterricht der Grundschule auseinander.

Die zweite Perspektive des Buches versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Pädagogische Diagnostik nicht ausschließlich theoriegeleitet sein darf, sondern ebenfalls die Sichtweise des Kindes miteinbeziehen muss. Dies geschieht zum einen mit der Fragestellung, die Silvia-Iris Beutel in ihrem Aufsatz thematisiert. Sie stellt dar, wie Kinder Rückmeldungen zu ihren eigenen Leistungen erhalten und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit „dialogischen Möglichkeiten“ zur verbalen Leistungsrückmeldung. Ebenso ist die Sichtweise des Kindes von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht zu ermitteln, welche individuellen Deutungsmuster und Zugangsweisen zu verschiedenen Themen existieren. Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich Simone Seitz in ihrem Beitrag am Beispiel des Sachunterrichts.

Die dritte Perspektive der Beiträge des Bandes betrifft die Frage nach dem Erwerb von Kompetenzen, die für eine Pädagogische Diagnostik erforderlich sind, die zugleich theoriegeleitet ist und die Sichtweise des Kindes mit einbezieht. Die Umsetzung dieser Aufgabe als Bestandteil der Lehrerausbildung wird in drei der Aufsätze behandelt. Während Ulrike Graf sich dabei mit Möglichkeiten der Beobachtung und Deutung von Denk- und Lernwegen von Schülerinnen und Schülern beschäftigt, wird die Erweiterung der diagnostischen Kompetenz im Aufsatz von Argyro Panagiotopoulou konkret auf den Schriftspracherwerb am Beispiel des „Neun-Wörter-Diktats“ (nach Brügelmann) dargestellt. Der Beitrag von Heike Hahn und Regina Dorothea Müller schließlich konzentriert sich auf die Beobachtung und Begleitung mathematischer Lernprozesse innerhalb eines Förderprojektes mit Studierenden.

Der vorliegende Herausgeberband gibt nicht zuletzt aufgrund des breit gefächerten thematischen und fachlichen Spektrums sowie der multivariat angelegten Perspektive einen umfassenden Einblick in Möglichkeiten einer Diagnostik unter dem Postulat der Theoriebezogenheit sowie der Einbeziehung der Sichtweise von Schülerinnen und Schülern. Darüber hinaus werden Beispiele für die Implementierung von Bausteinen zur Vermittlung solcher diagnostischer Kompetenzen in der Lehrerausbildung gegeben.

Somit eignet sich der vorliegende Band, der sich gleichermaßen an Pädagoginnen und Pädagogen in Hochschule, Schule und Kindergarten richtet, im Besonderen als Sensibilisierung für den Bereich der Pädagogischen Diagnostik für diejenigen Leserinnen und Leser, die sich in der Ausbildung befinden. Auch für Lehrende an der Hochschule kann dieses Buch in mehrfacher Hinsicht sehr wertvoll sein. Diagnostik, die ein entscheidendes Fundament eines jeden pädagogischen Handelns darstellt, in der Lehrerausbildung häufig jedoch noch zu wenig Berücksichtigung findet, wird hier in den Fokus gerückt. Durch die Darstellung von Praxisbeispielen werden zusätzlich gezielte Anregungen für eine Umsetzung gegeben.
Margit Dreischer (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Margit Dreischer: Rezension von: Graf, Ulrike / Opitz, Elisabeth Moser (Hg.): Diagnostik und Förderung im Elementarbereich und Grundschulunterricht, Lernprozesse wahrnehmen, deuten und begleiten. Baltmannsweiler: Schneider 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83400215.html