- zusammenfassende Darstellungen ausgewählter Ergebnisse internationaler Schulleistungsstudien zum Forschungsstand der Ungleichheit im Bildungssystem,
- mehrperspektivische Gerechtigkeitsdiskurse zur Bildung,
- Anregungen zu schulstrukturellen Ăśberlegungen im Hinblick auf Gerechtigkeit,
- Gedanken zur evangelischen Bildungsverantwortung im Elementar-, Primar- und Sekundarbereich,
- exemplarische Konzepte zur Förderung im Elementarbereich sowie
- Porträts einzelner Sekundarschulen auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit.
Das Buch ist in fĂĽnf Kapitel gegliedert und umfasst insgesamt 21 Einzeltexte. Diese Gliederungsstruktur soll hier beibehalten werden, indem die Besprechung der einzelnen Kapitel erfolgt. Den Abschluss bilden Aussagen zur Lesbarkeit, formalen Ausstattung und Zielgruppeneignung.
In der Einleitung erläutert Dietlind Fischer die Intention des Buches, nachdem einführend einige Gedanken zur Chancengleichheit und Schulstruktur dargelegt worden sind. Die aktuelle Situation im deutschen Bildungswesen wird prägnant auf den Punkt gebracht und weckt beim Leser die Neugier auf entsprechende Lösungsvorschläge: „Mehr Gerechtigkeit in den Bildungsverhältnissen, gerechte Bildungschancen für alle ist deshalb mehr denn je ein bildungspolitisches Ziel, das als solches nicht bestritten wird. Streit gibt es um die Maßgaben und Maßnahmen, die mittel- und langfristig auf dieses Ziel gerichtet sind“ (9). Zudem erfährt man, dass die vorliegenden Beiträge den Inhalt der Tagung „Jede/r anders – alle gleich?“ bildeten, die 2004 anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Comenius-Instituts als „Evangelische Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft e.V.“ durchgeführt wurde.
Im ersten Kapitel wird der Forschungsstand zur Ungleichheit im Bildungssystem dargestellt, wobei ein Text von Rösner den Band eröffnet. Mit der Aufbereitung der wesentlichen Befunde von IGLU und PISA 2000 bzw. 2003 wählen die Herausgeber einen nahe liegenden Einstieg in die Thematik. Rekurriert wird u.a. auf die Arbeiten von Baumert und Schümer [1] sowie Bos et al. [2]. Auf Ursachensuche stellt Tillmann im folgenden Beitrag die These von der „Sehnsucht nach der homogenen Lerngruppe“ (26) auf, die seiner Meinung nach die im deutschen Schulsystem herrschende Selektionspraxis antreibt. Neben PISA werden Ergebnisse der Hamburger Leistungsvergleichsstudie „LAU“ zu Schullaufbahnempfehlungen am Ende von Klasse 4 berichtet, die eine doppelte soziale Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Schichten sehr anschaulich aufzeigen. Der Verfasser plädiert für einen „Wandel in den Köpfen“ (35) und die Veränderung des selektiven Schulsystems in ein förderndes. Die zwei sich anschließenden Beiträge reihen sich in die Offenlegung der Missstände ein. Während jedoch Böttcher die zur Reduzierung herkunftsbedingter Ungleichheit eingesetzten Instrumente aktueller Bildungspolitik (Output-Paradigma; Bildungsstandards; Ganztagsschule) unter ökonomischen Gesichtspunkten kritisiert, entladen sich in dem Artikel von J. Schweitzer die zuvor systematisch zusammengetragenen und vom Leser gut nachvollziehbaren „Beweise“ der Chancenungleichheit in einer Anklage an die Verantwortlichen der deutschen Bildungspolitik.
Das zweite Kapitel umfasst verschiedene Gerechtigkeitsdiskurse zur Bildung. In den Texten von F. Schweitzer und Huber werden die Begriffe „Bildung“ und „Gerechtigkeit“ aus evangelischer Perspektive beleuchtet bzw. das evangelische Bildungsverständnis sowie Erträge bisheriger und Aufgaben zukünftiger Arbeit des Comenius-Instituts in das Zentrum der Diskussion gestellt. Mitunter ergibt sich an manchen Stellen ein erhöhter Anspruch an Teile der Leserschaft, sich auf bestimmte Gedankengänge und Argumentationswege einzulassen. Preuss-Lausitz setzt sich in seinem Beitrag mit der Idee der „Pädagogik der Vielfalt in der Gemeinsamkeit“ (74) auseinander, fasst die Ergebnisse verschiedener Studien zum integrativen Unterricht zusammen und resümiert, dass „die Praxis der integrativen Unterrichtung und Erziehung von Kindern mit Behinderungen (...) Perspektiven für ein gerechtes Schulsystem (...)“ (76) aufzeigt. Liebau erörtert in seinem Artikel die „Pädagogik der Teilhabe“ und diskutiert den Bildungsbegriff aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. In seinem Beitrag zu „Migration und Bildungsgerechtigkeit in Deutschland“ fokussiert Auernheimer drei Strukturdefizite des deutschen Schulsystems: die Gliederung der Sekundarstufe in verschiedene Schulzweige, die frühe Auflösung des ersten Klassenverbandes und den in den meisten Schulen stattfindenden Halbtagsunterricht (vgl. 85). Unter Bezug auf die PISA- und IGLU-Ergebnisse verweist der Autor auf die besondere Benachteiligung und unzureichende Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Zum Abschluss des Kapitels wirft Diemert die Fragestellung auf, ob die gesetzliche Schulpflicht gerechte Bildung zu garantieren vermag. Hierfür liefert sie interessante mit Gerichtsurteilen angereicherte Fallbeispiele, wodurch der Leser erneut eine andere Sichtweise auf die Problematik einnehmen kann.
Nach der eher ernüchternden Befundzusammenschau kann mit Kapitel drei „Gerechtigkeit durch andere Schulstrukturen“ ein inhaltlich erfrischender Schwerpunktwechsel erwartet werden. So schildert z.B. Jouni Välijärvi sehr eindrucksvoll das Prinzip des finnischen Schulsystems: von der freiwilligen, kostenlosen Vorschulklasse über die neunjährige Gemeinschaftsschule bis hin zur gymnasialen Oberstufe oder berufsbildenden Schule. Die PISA-Ergebnisse zeigen für Finnland nur geringe Kompetenzunterschiede zwischen den Schülern; gleichzeitig spielt die soziale Herkunft bei der Erklärung der Leistungsergebnisse eine untergeordnete Rolle.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage nach bestehender Ungleichheit, aber auch Veränderungsmöglichkeiten im Elementarbereich. Rauschenbach und Züchner nehmen in ihrer Analyse drei Aspekte in den Blick: „(...) den Zugang und die Inanspruchnahme der Kinderbetreuungsangebote, (...) den Prozess der Bildung in den Einrichtungen selbst“ und die „Wirkung der institutionellen Frühförderung“ (123). Tabellen und Schaudiagramme reichern die Ausführungen der Autoren an. Die folgenden zwei Beiträge von Bewersdorff und Beneke erläutern speziell die Situation in evangelischen Kindertagesstätten und beziehen Stellung zu Bildungsgerechtigkeit und -finanzierung. Abschließend wird in einem Artikel von Strotmann und Tietze am Beispiel der „Early Excellence Centres“ gezeigt, auf welche Weise in England Familien bildungsferner Schichten gefördert werden. Nachdem der Leser (wiederum) den Eindruck gewinnt, dass die Bildungspolitik in anderen Ländern generell bessere Arbeit leistet, wird gegen Ende auf ähnliche Modelle in Deutschland [3] verwiesen.
Im Kapitel fünf stehen Primar- und Sekundarbereich im Vordergrund. Hier überrascht der Text von Budde, Faulstich-Wieland und Scholand: Während sich die meisten Arbeiten dieses Buches mit Bildungsgerechtigkeit im Hinblick auf die soziale Herkunft und / oder Migration auseinandersetzen, kommt nun die Genderforschung ins Spiel und betrachtet Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Dass es auch innerhalb einer Schulform nicht an Ungleichheit mangelt, belegt der Artikel „Schule und Sozialraum“ von Mack. Darin werden zwei in einem Duisburger Stadtteil liegende Gymnasien hinsichtlich ihrer Schülerschaft, des Schulprofils und der individuellen Förderung miteinander verglichen. Harald Lehmann, der Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck, beschreibt in seinem Beitrag das „FELS-Konzept“ seiner Schule (Familienschule-Erziehungsschule-Lebensschule-Stadtteilschule), dessen „reformerische Impulse“ (170) zum Nachdenken bzw. bei anderen Schulleitungen zum Nachmachen anregen sollten. Abschließend diskutieren Köller et al., inwiefern Schulen in konfessioneller Trägerschaft einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten können.
Das zu rezensierende Buch zeichnet sich durch sorgfältige Recherchen und belegte Annahmen aus. Der relativ offen gehaltene Titel ist angemessen gewählt, da die Problematik aus vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Die Schilderung der bestehenden Situation ungerechter Bildungsbeteiligung, verbunden mit der Darstellung sozial- und schulpädagogischer Veränderungsmöglichkeiten und angereichert mit ermutigenden Beispielen aus dem In- und Ausland, lässt die Vielfalt der Zugänge zur Thematik erkennen.
Insgesamt sind die Beiträge dieses Buches mit entsprechendem Vorwissen zu den Leistungsvergleichsstudien in ihrer Kürze und Prägnanz gut lesbar und empfehlenswert für in diesem Feld forschende Wissenschaftler sowie Studierende der höheren Semester. Zusätzliche Grafiken, Übersichten und Aufzählungen (nur in zwei Artikeln wird davon Gebrauch gemacht) hätten stellenweise zu einem besseren Verständnis beigetragen und gerade den Ergebnisdarstellungen mehr Struktur verliehen. Der interessierte Leser findet eine Reihe weiterführender Literaturhinweise.
[1] Baumert, J./ Schümer, G.: Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: Baumert, J. u.a.; Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülern und Schülerinnen im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001, 323-407.
[2] Bos, W. u.a. (Hrsg.): IGLU. Einige Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich. Münster: Waxmann 2004.
[3] Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit (Hrsg.): Mehr Generationen-Häuser. Konzept für ein lebendiges und generationsübergreifendes Miteinander in Niedersachsen. 2003. URL:http://cdl.niedersachsen.de/blob/images/ 3095916_L20.pdf [Stand: 09/2006].