„Qualität“ und „Standards“ sind im Zusammenhang der vielfältigen in den letzten Jahren innerhalb des Bildungssystems in Bewegung gekommenen Reformprozesse zu zwei der zentralen Schlüsselbegriffe avanciert. Während sich der allgemeinere der beiden, der der Qualität, bereits während der 1990er Jahre als übergreifender Reformbegriff zu etablieren begann, markiert der Begriff der Standards ein darin eingebettetes Thema, das im deutschsprachigen Raum – wesentlich angeregt durch unzufriedenstellende Ergebnisse bei den großen internationalen Schulleistungsstudien TIMSS und PISA – seit Anfang der 2000er Jahre stark an Gewicht gewonnen hat. Durch die Formulierung und verbindliche Einführung von Standards in verschiedenen Bereichen des Bildungssystems könne und solle, so die leitende Erwartung oder auch Hoffnung, ein wirkungsvoller Beitrag zur Qualitätsverbesserung im Sinne der Verbesserung verschiedener Leistungswerte des Systems erbracht werden.
Nun folgt auf Erwartungen und Hoffnungen bekanntlich in der Regel nicht ohne weiteres auch deren Erfüllung. So besteht derzeit noch ein großer Bedarf an empirischem Wissen über die tatsächlichen sowie an Verständigung über erwünschte und unerwünschte Wirkungen und Wirkungsweisen standardbasierter Reformentwicklungen. Zum einen ist allgemein zu fragen, ob die angestrebten Verbesserungen durch die Formulierung und Einführung von Standards auch tatsächlich erreicht werden. Zum anderen lässt sich in der logischen Umkehrung diskutieren, inwiefern die erzeugten Folgen auch als Verbesserungen erachtet werden können.
Mit Blick auf diese beiden Fragen stellte die AEPF, eine an die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) angebundene Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung, ihre 67. Herbsttagung im Jahr 2005 unter das andeutungsvoll fragend formulierte Schwerpunktthema „Qualität durch Standards?“. In deren Folge ist nun zwischenzeitlich ein Sammelband mit ausgewählten Tagungsbeiträgen erschienen, für den die Herausgeber Ferdinand Eder, Angela Gastager und Franz Hofmann aus den über 100 Einzelbeiträgen der Tagung 16 Beiträge ausgewählt haben. Wie ein erster Blick in das Inhaltsverzeichnis des Bandes erwarten lässt, ist die Auswahl darauf angelegt, ähnlich einer Einführung oder einem Handbuch eine sowohl umfassende als auch auf charakteristische Themen hin fokussierte Erschließung des Themenfelds zu bieten. So eröffnet ein erster Teil unter dem schlichten Titel „Qualität durch Bildungsstandards“ einen einführenden, international ausgerichteten Überblick über unterschiedliche Entwicklungen und Konzeptionen standardorientierter Reformprozesse, woraufhin im Folgenden durch die Titel der weiteren Teile – „Lehren und Lernen mit Standards“, „Standards in der Schulentwicklung“ und „Standards in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung“ – systematisch die klassische Trias der verschiedenen Bereiche der Unterrichts-, der Schul- und der Professionsentwicklung abgesteckt wird.
Im ersten Teil finden zunächst einmal vier Beiträge zusammen, die jeweils Geschichte, Konzeption und den aktuellen Stand standardorientierter Reformentwicklungen in Österreich (Werner Specht), England (Pamela Sammons), Deutschland (Eckhart Klieme) und den USA (Wolfgang Böttcher) darstellen und reflektieren. Jeweils für sich betrachtet bietet jeder der Beiträge einen einführenden Überblick über die in diesen Ländern aufgebauten und im kontinuierlichen Entwicklungsprozess befindlichen Modelle der Entwicklung und Einführung zentraler Bildungsstandards. In allen vier Fällen erfolgt die Darstellung der Modelle dabei in einer generell die Einführung von Bildungsstandards grundsätzlich befürwortenden, deshalb aber keineswegs unkritischen Perspektive. Die Autoren sind sich einig in der Überzeugung, dass die Formulierung und Einführung von Bildungsstandards grundsätzlich ein wirkungsvolles Mittel darstellen kann, das sowohl zur Erhöhung der Gesamtleistung des Systems als auch zum Abbau des Problems großer und gleichzeitig stark an soziale Ungleichheiten gebundener Leistungsunterschiede beitragen kann. Vor diesem Hintergrund sprechen sie sich jeweils generell für die Einführung von Bildungsstandards aus, vergessen aber auch nicht, diese Kriterien gleichzeitig immer wieder auf die Darstellung der tatsächlich unternommenen Schritte und Vorgänge in den verschiedenen Ländern anzuwenden. Dadurch gelangen sie jeweils zu kritisch-differenzierenden Einschätzungen der jeweiligen Entwicklungen, so dass dem Leser eigene Urteilsbildungsprozesse eröffnet werden. Als diesbezüglich besonders interessant und glücklich erweist sich auch die länderbezogene Zusammenstellung der Fälle. Durch den Kontrast zwischen dem von Sammons weitgehend als gelungen eingeschätzten Beispiel Englands und den von Böttcher scharfsinnig als eindimensional testorientiert kritisierten Entwicklungen in den USA eröffnen sich vielversprechende Perspektiven für die weitere Diskussion und Gestaltung der von Specht und Klieme dargestellten noch jüngeren und damit in vielem noch formbaren Entwicklungen in Österreich und Deutschland.
Die folgenden beiden ersten Texte des zweiten Teils schließen in gelungener Fügung im Hinblick auf den Bereich des „Lehrens und Lernens mit Standards“ direkt an diesem Aspekt der Formbarkeit an. Michaela Brohm argumentiert in ihrem Beitrag dafür, die bislang ausschließlich fachlich ausgerichteten Bildungsstandards um zusätzlich zu entwickelnde „Schlüsselqualifikations-Standards“ zu erweitern. In ähnlicher Ausrichtung plädiert Jörg Schlömerkemper für ein Modell schulischen Lernens, das zusätzlich zu Bereichen der „kompetenzorientierten Lernorganisation“, auf die die bisherigen Bildungsstandards zielen, Formen „prozessorientierter Lernorganisation“ umfasst. Um das Kapitel „rund“ zu machen, fehlte hiernach nur noch eine ausführlichere inhaltliche Auseinandersetzung mit den bereits erwähnten fachlichen Bildungsstandards selbst. Auf eine solche muss jedoch leider – wohl auf Grund von Kontingenzen, die ein Tagungsband zwangsläufig mit sich bringt – leider verzichtet werden.
Stattdessen folgen drei Texte, in denen plötzlich von Standards in einem ganz anderem als dem bis dahin verwendeten Sinn die Rede ist. Gertraud Stadler, Gabriele Oettingen und Peter M. Gollwitzer stellen in ihrem Beitrag eine psychologische Interventionsstudie zur „selbstregulierten Umsetzung von Verhaltensstandards“ im Gesundheitsbereich vor. Getestet wurde dabei die Wirksamkeit einer bestimmten Methode zur effektiven und nachhaltigen Verhaltensänderung, die der Überzeugung der Autoren zufolge auch auf andere Bereiche, insbesondere den Bildungsbereich übertragbar sein soll. Leider führen die Autoren diesen Gedanken nicht weiter aus, so dass die Perspektiven im Einzelnen weitgehend unklar bleiben. Die folgenden beiden Beiträge beziehen sich des Weiteren auf Fragen der Standardisierung und der Qualitätssicherung im Bereich des E-Learning. Ulf-Daniel Ehlers beschäftigt sich dabei in seinem Beitrag mit „Möglichkeiten und Grenzen der Standardisierung“ im Hinblick auf didaktische Methoden, Technologien und Medien, Inhalte und Lerner. Markus Arens, Sonja Ganguin und Klaus Peter Treumann stellen die Ergebnisse einer empirischen Studie zu „Qualitätseinschätzungen aus der Perspektive von E-Learnern“ vor.
Während die drei zuletzt erwähnten Texte etwas aus dem durch den ersten Teil abgesteckten Rahmen fallen, behandeln die Texte des folgenden dritten Teils unter dem Titel „Standards in der Schulentwicklung“ wieder Themen, die einen direkten Bezug zu den gegenwärtigen standardbasierten Reformen im Bildungswesen aufweisen. In dem an erster Position stehenden Beitrag weisen Nils Berkemeyer und Heinz-Günter Holtappels darauf hin, dass es für den Erfolg von Qualitätsentwicklung in Schulen zusätzlich zu „weichen“ Prozess- und „‚harten’ Outputstandards“ notwendig geeigneter Akteure des schulischen Wandels bedarf, worunter sie vor dem Hintergrund verschiedener eigener Forschungen vor allem Steuergruppen verstehen. Weiterhin gehen gleich zwei Texte auf das in der Folge der Verabschiedung von Bildungsstandards durch die Kultusministerkonferenz der Länder in einigen Bundesländern etablierte Instrument so genannter Lernstandserhebungen ein, durch die im Rahmen von landesweiten Tests die Leistungsstände der Schüler erhoben und den Schulen in Form differenzierter Auswertungen rückgemeldet werden. Zu diesem Thema findet sich zum einen ein Beitrag eines Autorenteams um Andreas Helmke, in dem Ergebnisse aus einer Studie zur schulinternen Nutzung der Rückmeldungen von Ergebnissen aus dem Projekt VERA (Vergleichsarbeiten in der Grundschule) präsentiert und diskutiert werden. Zum anderen enthält der Teil einen Beitrag von Rainer Peek und anderen über das in Nordrhein-Westfalen entwickelte Modell der Lernstandserhebungen, in dem auf der Grundlage der dort gemachten Erfahrungen die grundsätzlichen Perspektiven des Instruments für die Schul- und Unterrichtsentwicklung thematisiert werden. Zwischen diese beiden Beiträge eingestreut findet sich außerdem ein noch zu erwähnender Beitrag von Kathrin Dedering zum „Umgang von Schulen mit den Zielsetzungen (Qualitätsstandards) eines internationalen Netzwerkprojekts“, in dem die Ergebnisse einer projektbezogenen qualitativen Evaluationsstudie präsentiert werden. Deren besonderer Wert besteht darin, eine Reihe wichtiger und besonders praxisnaher Hinweise für die gelingende Gestaltung schulischer Entwicklungsprozesse zu formulieren.
Der letzte und kürzeste Teil versammelt schließlich drei Beiträge zu dem, gemessen am Umfang des Teils, offenbar noch kleinsten Themenbereich des gesamten Komplexes, dessen Bedeutung in den nächsten Jahren aber sicherlich noch stark zunehmen wird: Standards in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Jeder der drei Beiträge lässt diesbezüglich im Blick auf verschiedene Phänomene einen erheblichen Handlungsbedarf für die Zukunft erahnen. So präsentiert der erste, von einem neunköpfigen Autorenteam verfasste Beitrag eine quantitative Studie zur „Standarderreichung in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung“, die im Bereich der ersten Ausbildungsphase eine Reihe von Schwierigkeiten der berufsfeldorientierten Kompetenzentwicklung bei der notwendigen Umsetzung von theoretischem Wissen in praktische Handlungskompetenz diagnostiziert. Ein zweiter, von Rudolf Beer stammender Beitrag präsentiert die Ergebnisse einer Befragung von Wiener Lehrerinnen und Lehrern zur Eignung von Bildungsstandards für die Qualitätsentwicklung in Schulen, in der diese stark in Zweifel gezogen wird, woraus sich im Blick auf die Lehrerbildung ein entsprechender Bedarf an Fortbildung und Unterstützung zum Umgang mit Bildungsstandards ableiten lässt. Und schließlich ein dritter und allerletzter Beitrag von einem Autorenteam um Friedrich-Wilhelm Schrader und Andreas Helmke stellt Untersuchungsergebnisse zur Diagnosefähigkeit von Lehrkräften vor, denen zufolge „bei einem beträchtlichen Teil der Lehrkräfte Defizite in der diagnostischen und fachdidaktischen Urteilskompetenz zu verzeichnen sind“ (276).
Angesichts solch drastischer Befunde hätte man sich ähnlich wie schon innerhalb des zweiten Teils auch noch für diesen letzten Teil einen konstruktiv-kritischen Text zur direkten Auseinandersetzung mit der möglichen Formulierung von Bildungsstandards für die Lehrerbildung gewünscht. Da es sich um einen Tagungsband handelt, sind solche Lücken ebenso verständlich wie unvermeidlich. Vor diesem Hintergrund lässt sich daher sogar feststellen, dass der Band ein erstaunlich hohes Maß an thematischer Geschlossenheit und Kontur aufweist. Anders als viele andere Sammelbände stellt er nicht nur eine Fundgrube hinsichtlich einzelner Texte dar, sondern eignet sich darüber hinaus ausgesprochen gut, um sich ein Themenfeld gleichermaßen fundiert wie pointiert zu erschließen und um sich darin zu orientieren. Das wie immer unvermeidliche Maß an Disparatheit und Heterogenität der Perspektiven wirkt erfreulicherweise nicht störend, sondern vielmehr anregend.
EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)
Qualität durch Standards?
Beiträge zum Schwerpunktthema der 67. Tagung der AEPF
MĂĽnster: Waxmann 2006
(283 S.; ISBN 3-8309-1679-5; 29,90 EUR)
Tobias Diemer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tobias Diemer: Rezension von: Eder, Ferdinand / Gastager, Angela / Hofmann, Franz (Hg.): Qualität durch Standards?, Beiträge zum Schwerpunktthema der 67. Tagung der AEPF. MĂĽnster: Waxmann 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091679.html
Tobias Diemer: Rezension von: Eder, Ferdinand / Gastager, Angela / Hofmann, Franz (Hg.): Qualität durch Standards?, Beiträge zum Schwerpunktthema der 67. Tagung der AEPF. MĂĽnster: Waxmann 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091679.html