Im Blickpunkt der empirischen Forschungsstudie „Viele Welten leben“ stehen Mädchen und junge Frauen (15 bis 21 Jahre) mit griechischem, italienischem, jugoslawischem und türkischem Migrationshintergrund und solche aus Aussiedlerfamilien (GU-Staaten), deren Elternteile laut eingrenzender Definition beide im Ausland geboren sind. Ziel der Mehrthemenuntersuchung ist es, „den in Wissenschaft (vor allem Pädagogik, Soziologie und Psychologie) und Praxis (Schule, Berufsberatung und Jugendhilfe) tätigen Interessierten über das bisher Bekannte hinausgehende, differenzierte Kenntnisse über Lebenssituationen, Lebensorientierungen sowie die persönlichen, familiären und institutionellen Ressourcen und Hindernisse in der Lebensgestaltung“ der Befragten zu vermitteln (25).
Die quantitative Studie basiert auf einem vollstandardisierten Fragebogen (138 Fragen), mit dem 950 Probandinnen von knapp 200 zweisprachig vorgehenden Interviewerinnen befragt wurden (Prinzip der freien Sprachwahl). Eine quantitative Erfassung dieses Probandenkreises ist erstmalig, noch dazu mit der Vielfalt an Problemfeldern, wie z.B. „Rolle und Bedeutung der Familie“, „Bildung und Ausbildung“, „Mehrsprachigkeit und Sprachmilieu“, „Freizeit und Freundschaft“, „Partnerschaft und Geschlechterrolle“, „Körperbewusstsein und Sexualität“ sowie „Religiosität“. Die umfassend und ausführlich dargestellten Ergebnisse und Thesen früherer Studien werden von den Autorinnen klar herausgearbeitet und mit den eigenen Befunden konfrontiert. Aus der Vielfalt an interessanten Themen will ich hier vier Aspekte mit bemerkenswerten neuartigen Befunden herausstellen.
Freizeit und Freundschaft: Vorannahmen, die davon ausgehen, dass Mädchen mit Migrationshintergrund weniger Zeit zur Verfügung hätten als gleichaltrige deutsche Mädchen werden nicht bestätig. Im Gegenteil: Die Befragten verfügen über relativ viel Freizeit. Zugunsten einer guten Schulbildung ihrer Töchter verzichten viele Eltern (z.B. griechische) sogar auf deren Unterstützung im Haushalt. Ihre Freizeit verbringen die Teenager zuallererst im privaten Raum. Organisierte oder institutionelle Freizeitangebote werden kaum genutzt. Wichtigste Kontaktperson ist die beste innerethnische Freundin und nicht ein wie auch immer gearteter Freundeskreis.
Eine solche Wahl des Freizeitraumes und einer gleichnationalen Freundin verhindert ganz offensichtlich interethnische Freundschaften. Die Autorinnen plädieren aber an dieser Stelle für einen Perspektivenwechsel, der die positiven Aspekte innerethnischer Freundschaften in den Mittelpunkt stellt: „Der gemeinsame soziale und kulturelle Hintergrund bietet eine Vielzahl von geteilten Themen und Erfahrungen, was das gegenseitige Verständnis erleichtert und günstige Rahmenbedingungen für einen gleichberechtigten Umgang miteinander schafft. Dies wiederum bildet die notwendige Plattform, um individuelle ebenso wie kollektive Strategien für den Umgang mit verschiedenen Ansprüchen der Mehrheits- und Minderheitsumgebung an ihre Integrationsbereitschaft in die jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme zu entwickeln. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen als Angehörige von ethnischen Minderheiten auf der einen und mit der unter Migrationsbedingungen teilweise anders als bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft stattfindenden Ablösung der Jugendlichen von der Elterngeneration in der Adoleszenzphase auf der anderen Seite“ (162).
Partnerschaft und Geschlechterrolle: Beide Aspekte stellen ein zentrales Thema im Leben von Jugendlichen dar. Zugleich können sie als Indikatoren für den Grad der Integration von Zuwanderern gesehen werden, denn sie bieten Aussagen darüber, inwieweit sich Migrantinnen am Modell der Aufnahmegesellschaft orientieren.
Die hier befragten Frauen sprechen sich insgesamt eher für Selbstbestimmung als für arrangierte Ehen aus – 87% lehnen die sogenannte „Zwangsehe“ ab. Lebenspartner suchen sie sich ähnlich wie ihre Freunde vorwiegend in den eigenen Reihen (in Deutschland). Den transnationalen Ausnahmefall bedingt allenfalls „die Liebe“.
Bei den Partnerschaftsmodellen orientieren sich 60 Prozent der Befragten an traditionellen Mustern und befürworten, zuerst heiraten und dann mit dem Partner zusammen leben zu wollen. Diese Einstellung wird hier keinesfalls auf fehlende Emanzipation der Frauen zurückgeführt, sondern mit deren eigener Auslegung erklärt, so die Qualität ihrer Partnerbeziehung zu sichern. Die vorherige Abwägung der Ehe im Familienverband erscheint der Mehrzahl der Frauen sinnvoll, nicht zuletzt ob der Beständigkeit der Beziehung nach dem Abklingen des vergänglichen Verliebseins (255).
Körperbewusstsein und Sexualität: Hinsichtlich dieser beiden Aspekte verfügt das öffentliche Meinungsbild in Deutschland über zahlreiche frauen- und fremdenfeindliche Klischees, die sich symbolhaft am „Kopftuch“ der Musliminnen festmachen. Gerade hier jedoch stellt die Studie folgende Konsequenz heraus: Eine einheitliche islamische Sexualmoral lässt sich bei den weiblichen Jugendlichen nicht ausmachen. Intern und innerhalb der befragten Gruppen finden sich heterogene Einstellungsmuster, so in Bezug auf Virginität (Jungfräulichkeit), die allenfalls noch von einer Mehrzahl der befragten türkischen Frauen (59%) als traditionelle Norm verstanden (und eingehalten?) wird. Aufklärung erfahren die Befragten zunehmend über Medien, wie Jugendzeitschriften oder das Fernsehen – gar nicht dagegen über das Internet. Austauschpartner sind die beste Freundin oder der Freund, auch die Mutter, aber keinesfalls mehr wie in früheren Studien zitiert, die Tante.
Religiosität: Hinsichtlich der Religiosität schlieĂźen Boos-NĂĽnning und Karakaşŭglu dadurch eine ForschungslĂĽcke, indem sie auf quantitativem Wege konfessions-differenzierende Daten erheben. Fragen zur religiösen Einstellung nehmen hierbei einen breiten Raum ein und werden in vielen Dimensionen erfasst, z.B. religiöse Erfahrung (u.a. Glaube als emotionale Ressource), Glaubensdimension (u.a. Bild von Gott) oder religiöse Praxis (u.a. Feste). Dabei wird festgestellt, dass die Angehörigen aller vier Religionsgruppen (Musliminnen, Orthodoxe, Katholikinnen, Protestantinnen) ein äuĂźerst ähnliches Bild von Religiosität besitzen. Als Frau fĂĽhlen sich die Befragten religions- und herkunftsgruppenĂĽbergreifend in ihrer Religion ĂĽberwiegend akzeptiert.
Im letzten Teil des Buches sind Folgerungen für Politik und Pädagogik formuliert (z.B. „Unterschiede wahrnehmen und respektieren“). Im Kontrast zu den vorherigen „harten“ Fakten wirken die Folgerungen insgesamt wie ein floskelhafter Appendix. Es ließe sich fragen, ob dieser normative Part den Auftraggebern (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) zuzuschreiben ist oder als unabdingbarer Bestandteil einer wissenschaftlichen Studie von den Autorinnen verstanden wird. Aus den vorangestellten Ergebnissen und Erkenntnissen auch noch Forderungen abzuleiten, ist m.E. hier nicht notwendig. Der Erkenntnisgewinn der Studie an sich ist bedeutsam genug. Gleichwohl fokussieren die – beinahe propagandistisch anmutenden – Postulate den Blick gerade dort, wo Korrekturen althergebrachter Sichtweisen von den Autorinnen gefordert werden, z.B. „Neukonzeption von Hilfen in der multikulturellen Gesellschaft“ und „Kompensatorische Angebote für bestimmte Gruppen entwickeln“, da doch, wie oben erwähnt, die institutionellen Jugendangebote in der jetzigen Form nicht angenommen werden.
Diese Einschränkung ändert aber nichts am Gesamtwert der Studie, die ich als ausgezeichnetes Beispiel einer quantitativen Forschungsarbeit einschätze. Studierende und Nachwuchswissenschaftler bekommen hier beispielhaft vorgeführt, wie man den Forschungsstand zu einem umfangreichen Thema zusammenfasst, die Ergebnisse im Einzelnen und im Gesamtzusammenhang darstellt und Statistiken bewertet. Zahlreiche Tabellen und Grafiken sind dabei gleichsam hilfreich. Die angefügte Instrumentenkonstruktion lässt sich zur Demonstration quantitativer Verfahren zweckmäßig in der Lehre nutzen.
Wenngleich die Aussagen von Boos-NĂĽnning und Karakaşŭglu im Sinne der Stichprobentheorie nicht verallgemeinerbar sind, geben sie doch deutlich Auskunft ĂĽber die Pluralität der Lebensweisen und Orientierungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen der Migrantinnen und letztlich Ansatzpunkte fĂĽr weitere Forschungen. Die einzelnen Kapitel lassen sich gesondert lesen und werden verständlich; zudem bieten die Autorinnen jeweils ein ResĂĽmee ihrer Befunde. Die Literaturliste ist dienlich als Einsteiger-Kompendium.
EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)
Viele Welten leben
Zur Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund
MĂĽnster: Waxmann 2005
(580 S.; ISBN 3-8309-1496-2; 29,00 EUR)
René Börrnert (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
RenĂ© Börrnert: Rezension von: Boos-NĂĽnning, Ursula / Karakasuglu, Yasemin: Viele Welten leben, Zur Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, MĂĽnster: Waxmann 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091496.html
RenĂ© Börrnert: Rezension von: Boos-NĂĽnning, Ursula / Karakasuglu, Yasemin: Viele Welten leben, Zur Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, MĂĽnster: Waxmann 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091496.html