Alfred SchĂ€fer und Michael Wimmer eröffnen mit dem Band "Tradition und Kontingenz" eine neue Buchreihe beim Waxmann-Verlag. Die Reihe heiĂt "GrenzĂŒberschreitungen. PĂ€dagogik und Kulturwissenschaften" und ist eine Fortsetzung der bislang im Verlag Leske & Budrich erschienen Dokumentationen interdisziplinĂ€rer Tagungen von 1998-2003. Das Ziel der Reihe nennen die Herausgeber im Reihenvorwort: "Mit GrenzĂŒberschreitungen sollen hier nun verschiedene interdisziplinĂ€re BemĂŒhungen bezeichnet werden, nach den ErschĂŒtterungen im Feld der Geistes-, Kultur-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften und dem Verlust von einheitsstiftenden Metadiskursen in einen post-kolonialen Dialog zwischen den verschiedenen Disziplinen und Diskursen zu treten." Das Anliegen ist wichtig.
In ihrer Einleitung zeigen SchĂ€fer und Wimmer, dass Tradition und Kontingenz in "einem verschlungenen VerhĂ€ltnis" stehen, dass Kontingenz keineswegs erst auftritt, nachdem Traditionen an Wirkungsmacht verloren haben, sondern in der Moderne andere Strategien zum Umgang mit Kontingenz in Erscheinung treten, die nicht notwendig Kontingenz bewĂ€ltigend wirken, wie es Traditionen rĂŒckblickend oft scheinen. Leider verzichten die Herausgeber darauf, die BeitrĂ€ge des Bandes in das angestrebte dialogische VerhĂ€ltnis zu setzen, das sich wĂ€hrend der dem Band zugrunde liegenden Tagung wahrscheinlich eingestellt hat, kaum aber bei spĂ€terer LektĂŒre.
"Diesseits von Relativismus und Universalismus" markiert Norbert Ricken "Kontingenz als Thema und Form kritischer Reflexion" â und zwar anhand von vier als Fragen formulierten Gedanken: 1. WofĂŒr spricht, wer von Kontingenz spricht? 2. Worauf aber lĂ€sst sich ein, wer auf Kontingenz setzt? 3. Wie also nĂ€hert sich, wer von Kontingenz seinen Ausgang nimmt? Und 4.: Was sieht wer anders, wer in Kontingenz seinen Einsatz markiert? Im ersten Abschnitt nutzt Ricken Tom Tykwers Film "Lola rennt" (D 1998), um zu verdeutlichen, dass, wer von Kontingenz spricht, nicht zwangslĂ€ufig "Freiheit und Sinn negiert" (33), sondern diese "allererst als âGefĂŒhl fĂŒr Entscheidungâ und antastbare Einmaligkeit geweckt" werden. Diese PĂ€dagogik des Films funktioniert besonders gut, weil es sich um einen doch recht konventionell gebauten Film handelt, der "Andersmöglichkeiten" zeigt, ohne Kontingenz fĂŒhlbar zu machen. Der Vergleich zu Jean-Luc Godards "Week-end" (F 1968) z.B. verdeutlichte den Unterschied zwischen drei Andersmöglichkeiten, die man im Falle von "Lola rennt" nacheinander zu sehen bekommt, und der Anstrengung anders sehen zu lernen, zu der Godard auffordert. Sie wĂŒrde viel besser zu der gegen Ende des dritten Gedankens formulierten Kritik Rickens passen: "Kritikpotenzial sehe ich insbesondere in der Differenzwahrnehmung, die vor jeder Hierarchisierung der jeweiligen Pole der Differenz schĂŒtzt und solchermaĂen etablierte Ordnungen auch als âFigurationen der Machtâ erkennbar macht, ohne aber durch Kritik einen Ausstieg aus eben dieser Macht ertrĂ€umen zu können. [âŠ] Kritik in theoretischer Hinsicht hieĂe dann, Neutralisierungen wie Positivierungen aufzubrechen und durch epistemische wie praxeologische Rahmungen differentiell auslegen zu lernen, indem PerspektivitĂ€t und jeweilige praktische Situierung markiert werden, darin den diskursiven Verschiebungen und jeweiligen Umschriften der Differenzen zu folgen und durchgĂ€ngig den vielfĂ€ltigen Versuchen der SchlieĂung von Unbestimmtheit bzw. Tilgung der DifferenzialitĂ€t zu widerstehen" (44f.). Die Möglichkeiten des Anders-Sehens skizziert Ricken anhand von drei Problemen â dem des Wissens, dem menschlicher SubjektivitĂ€t und dem pluraler SozialitĂ€t â als vierten Gedanken. Unter der zweiten Leitfrage fĂŒhrt Ricken fundiert durch die Geschichte des Kontingenzbegriffs.
Andrea Liesner schlieĂt sich an Rickens Eingangsformel "Kontingenz boomt" an, nimmt aber eine gesellschaftskritische Position ein, aus der sie fĂŒr "Bildung unter Bedingungen einer radikalen Unbestimmtheit" (59) eintritt. Den Ausgangspunkt ihres Beitrag bildet die Analyse eines 12-Punkte-Programms des Arbeitsstabes 'Forum Bildung', den sie als paradigmatisch fĂŒr die Legitimation der Rede vom lebenslangen Lernen annimmt. Weil aber nicht nur die Kontingenz, sondern auch das Selbst Konjunktur hat, wendet sich Liesner in einem zweiten Schritt dem pĂ€dagogischen IdentitĂ€tsdiskurs zu. Im dritten Abschnitt "Wie ein Problem zur Lösung wird" (so auch der Titel des Beitrags) fasst sie schlieĂlich die bisherigen ErtrĂ€ge zusammen: "Im Diskurs ĂŒber das lebenslange Lernen und in der pĂ€dagogischen IdentitĂ€tsdiskussion nimmt das BemĂŒhen um Sicherheit also einen zentralen Rang ein" (76). Liesner fragt, ob die Kontingenzverleugnung in eine Kontingenzergebenheit umgeschlagen ist, hinter der sich aber nur wieder "eine neue Variante des Verleugnens" (78) verbirgt, weil sie "auf PrĂ€missen fuĂt, die unbefragt Sicherheit und damit vorformierte Antworten auf das Wie und Warum des Handelns vermitteln". Dadurch wird dann das Problem zur Lösung. Auf der Strecke bleiben KomplexitĂ€t und argumentative BegrĂŒndung. Die Autorin plĂ€diert im vierten Abschnitt fĂŒr "ein Wachhalten des Problems, dass der Antagonismus von Freiheit und Sicherheit bis heute nichts von seiner Brisanz verloren hat" (81) und dafĂŒr "dass pĂ€dagogisches Denken zum theoretischen Sperrgut wĂŒrde gegenĂŒber einer hybrid entgrenzten und damit in hohem MaĂe politisch instrumentalisierbaren Vorstellung von erziehungswissenschaftlicher InterdisziplinaritĂ€t" (83). Ob diese Zuspitzung auch auf den Band selbst zutrifft, lieĂe sich diskutieren. Die Diskussion des Sinns von InterdisziplinaritĂ€t wĂ€re ein gutes Beispiel dafĂŒr, dass Drittes nur zwischen Polen, Antagonismen oder Dualismen schwebt â und auch nur so lange, bis es sich gesetzt hat. So assoziiere ich mit der "Chance" auf Bildung, die Liesner in den "Risiken eines gedanklichen Vorgehens ohne Gehhilfen, im Sich-Aussetzen der Gefahr des Aneckens, Sich-Verlaufens und auch StĂŒrzens" (84) sieht, bei aller Sympathie fĂŒr ihren Ansatz auch den kurzen Bildungsweg des SeiltĂ€nzers in der 6. Vorrede zu Nietzsches Zarathustra. "Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra [dem gestĂŒrzten SeiltĂ€nzer], das gibt es Alles nicht, wovon du sprichst: es gibt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: FĂŒrchte nun nichts mehr!" Jenseits von "Orientierungslosigkeit oder metaphysische[m] Sinnverlust" (84) bliebe ein Leben, das â bei aller Kritik â gefĂŒhrt werden will.
Bernhard Streck unterzieht den modernen Traditionsbegriff der Kritik und kommt zum Schluss, dass das "Projekt Moderne und sein Schatten, die Tradition" (152) fĂŒr kulturhistorische Rekonstruktionen entbehrlich seien, wenn man erstmal begriffen habe, dass Kultur "nie fertig, sondern immer in Arbeit" und kein Fortschritt in ihrer Entwicklung zu erkennen sei.
AuĂerdem versammelt der Band BeitrĂ€ge von Burkhard Liebsch, der die ZusammenhĂ€nge von Tradition und GedĂ€chtnis untersucht, von Gabriele Diewald zum Sprachwandel und von Alfred SchĂ€fer, der Transformationsprozesse von Tradition und Kontingenz am Beispiel eines zum Christentum konvertierten Dogon darlegt. Thanos Lipowatz fĂŒhrt den Begriff der "Allonomie" in den Diskurs ĂŒber pĂ€dagogische Paradoxa ein. Yvonne Ehrenspeck verfolgt die Kontingenz durch die Medientheorien der Moderne und Rudi Visker kritisiert Richard Rorty.
Der Band steht in der Tradition erziehungswissenschaftlicher TagungsbĂ€nde, die die Kontingenz ihrer BeitrĂ€ge nicht verschleiern. Das hĂ€tte ich mir â wohlwissend darum, als Herausgeber von SammelbĂ€nden im Glashaus zu sitzen â besonders im Hinblick auf das eingangs formulierte wichtige Anliegen des Bandes anders gewĂŒnscht.
EWR 4 (2005), Nr. 2 (MĂ€rz/April 2005)
Tradition und Kontingenz
MĂŒnster: Waxmann 2004
(223 S.; ISBN 3-8309-1392-3; 19,90 )
Olaf Sanders (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Olaf Sanders: Rezension von: SchĂ€fer, Alfred / Wimmer, Michael (Hg.): Tradition und Kontingenz, Waxmann: MĂŒnster 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091392.html
Olaf Sanders: Rezension von: SchĂ€fer, Alfred / Wimmer, Michael (Hg.): Tradition und Kontingenz, Waxmann: MĂŒnster 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091392.html