Die Studie behandelt das Problem der "Wertevermittlung in globalisierten Gesellschaften" und legt in ihrem empirischen Teil die Ergebnisse einer Befragung von Studierenden und LehrerInnen vor, die gemeinsam an einem darauf bezogenen Seminar der Autorin teilgenommen haben. Die SeminarteilnehmerInnen wurden nach ihrem Bildungsverständnis und nach ihrer Einschätzung der "realen Möglichkeiten bildenden Unterrichts" befragt (7). Die Ergebnisse dieser Befragung werden durch einen ausführlichen allgemeinen Teil eingeführt, der sich als bildungstheoretische Auseinandersetzung mit der Frage nach der Lehrbarkeit der Bildung versteht. Die Autorin entfaltet hier ihr eigenes Bildungsverständnis und setzt mit dem Bruch ein, den Auschwitz für den Bildungsbegriff bedeutet. Auschwitz wird dabei zu einer zeitgeschichtlichen Grenzmarkierung, die alles, was davor war von den Bedingungen trennt, die zu Auschwitz geführt haben. Deshalb ist es möglich zu behaupten, dass "Bildung bis hin zu Auschwitz unmittelbar mit einer kultivierten Lebensweise verknüpft" war und sich darüber zu empören, dass eine der "bis dahin als besonders kultiviert geltenden Nationen nicht davor gefeit war, in menschen- und lebensverachtende Barbarei abzusinken" (9). Zwar bezieht sich Reitemeyer auf die Einsichten der älteren Kritischen Theorie, wonach die moderne Wissenschaft und Vernunftentwicklung Auschwitz erst ermöglicht haben, sie folgt aber in ihrem bildungstheoretischen Aufriss nicht diesen dialektischen Erkenntnissen. Der Widerspruch der Bildung stellt sich nämlich nicht erst durch Auschwitz ein, sondern wird von den damit verbundenen Vorgängen auf eine ungeheuerliche Weise bloßgelegt. Demgegenüber vertritt Reitemeyer einen Bildungsbegriff, der als "Waffe gegen Unmenschlichkeit" ins Feld geführt wird (11). Nur auf dieser Grundlage mache die Frage nach der Lehrbarkeit der Bildung Sinn. Es geht ihr um die "Möglichkeit moralischer Bildung", und diese befindet sich eben jenseits des Widerspruchs. Denn nach Reitemeyer handelt es sich nicht um Bildung, wenn diese nicht mit einer "moralischen Handlungsweise" verknüpft ist (12).
Die Frage nach der Möglichkeit moralischer Bildung ist bedeutsam und wird in der aktuellen Bildungsdiskussion weitgehend vermieden. Dem tritt die Studie entgegen und unterstreicht die Notwendigkeit dieser Frage für bildendes Handeln. Sie beantwortet sie aber konservativ und idealistisch, weil der Bildungsbegriff außerhalb der gesellschaftlichen Verstrickungen, in die er von Anfang an eingelassen ist, angesiedelt wird. Bildung wird hier zu einem Hort moralischer Läuterung, den es zu retten und zu verteidigen gilt. Möglich wird dieser Ansatz aufgrund einer dualistischen bildungstheoretischen Argumentation, die den Bildungsbegriff kontrastiert mit "bloßem Faktenwissen". Bildung ist daher immer schon auf der richtigen Seite, auf eine "humanitäre (warum nicht humane? A.M.) gesellschaftliche Praxis" ausgerichtet. Der hohe moralische Ton der Ausführungen führt teilweise zu peinlichen Formulierungen, die immer wieder den Topos Auschwitz bemühen. Das bloße Faktenwissen ist nicht Bildung, "denn sonst wäre Auschwitz nicht passiert" (16). Die folgende Behauptung, Auschwitz sei "nicht nur den Juden, sondern auch den Deutschen, der deutschen Bildung" passiert, treibt die Instrumentalisierung der Chiffre weiter, was auch dadurch nicht besser wird, dass die "deutschen Juden oder jüdischen Deutschen" wieder in die nationale Gemeinschaft integriert werden, der eben Auschwitz "passiert" ist. Auschwitz ist nicht den Deutschen passiert, sondern sie haben es zu verantworten. Es ist auch nicht der deutschen Bildung passiert, sondern das Bildungssystem arbeitete dem zu. Dass bürgerliche Bildung sich dafür eignete, ist der Grund der erziehungswissenschaftlichen Aufarbeitung.
Reitemeyer hält an einem undialektischen Bildungsbegriff fest und glaubt sich darin der Zustimmung der LeserInnen sicher. "Wir wissen, dass Bildung sich nicht in den Dienst der Verwertungslogik stellt, und dass sie keinen Profit abwirft" (17). Bildung ist aber von Anfang an in diese Verwertungslogik eingebunden, sie ist bürgerliche Bildung und soll Profit abwerfen. Dass wir dies heute im Kontext eines globalen Spätkapitalismus in verschärfter Form erfahren, könnte die Aktualität dieser Studie ausmachen. Mit einem idealistischen, kulturkonservativen Bildungsbegriff wird dies aber verfehlt. Das Anliegen der Autorin, gegen den Strom der ökonomischen Vereinnahmung von Bildung eine moralische Bildung zu setzen, lässt sie verkennen, dass Bildungsprozesse immer auch Unterwerfungen unter genau die Verwertungslogik sind, aus der herauszutreten sie wiederum das Potenzial bieten. Bildung impliziert den Widerspruch und steht nicht notwendig im Widerspruch zu dem, was ist.
Auch die praxisbezogenen Ausführungen zum bildenden Unterricht folgen dem dualistischen Ansatz, bildenden Unterricht als Gegensatz zur Anhäufung von Faktenwissen zu verstehen und damit immer auf der Seite der guten Bildung zu sein. Deutlich wird dies auch, wenn beschrieben wird, was gelungener Unterricht ist. Nicht zufällig wird hier die Poesie als Lerngegenstand gewählt, auf der Suche nach Orten jenseits der Vergesellschaftung, denn nur dort kann nach dem Duktus des Textes Bildung realisiert werden (35). Dadurch wird die Darstellung unkritisch, obwohl sie doch antritt, den Verfall von Bildung zu kritisieren. Aber eben diese Verfallslogik suspendiert Kritik.
Eine Leitfrage für den empirischen Teil, der einen großen Katalog von Fragen zur Gestaltung bildenden, also im Sinn der Studie wertevermittelnden Unterrichts aufführt, lautet: "Welches Wissen brauchen wir, um die Welt für uns alle zu erhalten und die Weltgeschichte zu befrieden?" (36) Dieses Wir wird nicht problematisiert, denn dann müsste unsere eigene Integration in die kritisierten Verhältnisse zum Thema werden, unser unterschiedliches Maß an Privilegiertheit und Marginalisierung und unsere unterschiedlichen Interessen, genau das zu verändern. Die Brüche in diesem Wir, das Maß der darin enthaltenen Integration und Ausgrenzung, des Mitmachens und sich Verweigerns, ist eines der Probleme von Globalisierung, die in dieser Studie nicht angesprochen werden.
Der empirische Teil geht auf ein interessantes Seminarprojekt zurück, bei dem verschiedene Generationen, Studierende und Berufstätige miteinander ins Gespräch gekommen sind und in einem zweiten Schritt auch SchülerInnen zu ihren Unterrichtserfahrungen befragt wurden. Die Befragungsergebnisse bieten eine Menge Material zur Einschätzung von Unterrichtsmethoden, zum Bildungsverständnis der verschiedenen Gruppen und zu Perspektiven der Veränderung von Schulunterricht. Dabei spiegelt sich aber der oben angeführte Ansatz eines undialektischen Bildungsbegriffs auch in der Anlage der Fragen. Auffällig ist dabei, dass die SchülerInnen sehr viel realistischer ihre eigene Vergesellschaftung als Lernende einschätzen und mit einem jenseits davon angesiedelten Wertevermittlungsunterricht wenig anfangen können. Es handelt sich um eine quantitative Erhebung, bei der jeweils vorgegebene Antworten anzukreuzen waren, auf Fragen wie "Wann ist ein Unterricht als gelungen zu bezeichnen?" (66) oder "Welche Qualitäten verbinden Sie mit dem Begriff Bildung"? (72) oder "Spaß am Lernen ist ..."(88). Die Fragen lenken auf ein Bildungsverständnis hin, das Schule und Bildung kontrastiert: "Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um Schulunterricht in erziehenden und bildenden Unterricht umzuwandeln?" (78) Der Antwortkatalog ermöglicht nur Auffassungen, die dem Bildungsverständnis der Fragenden folgen. Das Resümee folgt dann auch wiederum den im allgemeinen Teil dargestellten Bildungsauffassungen: "Insgesamt herrscht ein nicht-instrumentelles, nicht-materialistisches, nicht-profitorientiertes Verständnis von Bildung vor, welches aber unterrichtspraktisch nicht realisiert wird" (107). Es käme also darauf an, genau diesem Verständnis zu folgen, es umzusetzen und dadurch "die Selbstkonstituierung moralischer Subjektivität" zu entfalten (108). Dafür wird ein Maßnahmenkatalog zur Reform des öffentlichen Unterrichts vorgeschlagen.
Der dritte Teil des Buches bietet in den "Pädagogischen Konsequenzen" Beiträge zu unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern. Diskutiert werden die Bildungsaufgaben allgemeinbildender und berufsbildenden Schulen, das Schulfach "praktische Philosophie", die Jugendverbandsarbeit und die Schulsozialarbeit. Oliver Geister geht auf die allgemeinbildenden Schulen ein, deren aktuelle Situation er durch zwei "besonders erschütternde Ereignisse im Jahr 2002" gekennzeichnet sieht: die Ergebnisse der PISA-Studie und das "Schulmassaker in Erfurt" (117). Auf welche Weise PISA und Erfurt zusammen gehören außer der Tatsache, dass sie sich im selben Jahr ereigneten, bleibt unkommentiert. Zwar folgt auch er der Vorstellung eines Verfalls von Bildung und bemüht wiederum die Frage, warum Bildung Auschwitz nicht verhindert habe, aber er bringt immerhin eine verschüttete Perspektive in die Diskussion: die mögliche Abschaffung der Schule mit Ivan Illichs These einer "Entschulung" der Gesellschaft. Zwar fügt sich auch diese These in einen Bildungsbegriff jenseits der bürgerlichen Logik, aber sie problematisiert auch zugleich den Zwangscharakter der Schule und damit ein Moment, das aus der aktuellen Diskussion ganz verschwunden ist.
Judith Sieverding betrachtet die Diskussion um Sinn und Unsinn des Ethikunterrichts, ausgehend von der Einführung des Fachs "Praktische Philosophie" in den Schulen in Nordrhein-Westfalen. Auf bildungspolitischer Ebene ist der Ethikunterricht mit dem Ruf nach verstärkter Werteerziehung verbunden, in bildungstheoretischer Hinsicht richtet sich die Kritik primär gegen dessen Status als Pflichtersatzfach zum Religionsunterricht. Sieverding gibt einen Überblick über die Situation des Ethikunterrichts in der BRD und diskutiert dann zwei häufig zugrunde liegende Konzeptionen: Ethikunterricht als Kompensation der Orientierungskrise vieler Jugendlicher oder als Lebensgestaltungshilfe. In beiden sieht die Autorin fragwürdige Alternativen. Ein Grundproblem ist für die Autorin eine Überfrachtung des Ethikunterrichts durch den Anspruch der Wertevermittlung, weil insgesamt ein erziehender Unterricht nicht realisiert und deshalb die Dimension der Werte in ein Unterrichtsfach gepackt wird. Sie folgt damit dem Plädoyer der ganzen Studie für einen wertorientierten bildenden Unterricht. In welchem Verhältnis diese Forderung zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten steht, wäre zu diskutieren. Allerdings bedürfte es für diese Diskussion eines Bildungsbegriffs, der sich der inneren Widersprüchlichkeit von Bildung bewusst ist.
Die Studie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Probleme der Wertevermittlung im Schulunterricht und stößt damit ein in der aktuellen Debatte um Schulreformen eher vernachlässigtes Nachdenken an. In den bildungstheoretischen Ausführungen und der darauf gründenden Interpretation der Befragungsergebnisse bleibt sie aber einem Bildungsverständnis verhaftet, das Bildung außerhalb der kritisierten Verhältnisse ansiedelt. Statt einer Bildungskritik in globalisierten Gesellschaften kommt so eine Perspektive zustande, die Rettung durch Bildung verspricht.
EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)
Ist Bildung lehrbar?
Münster: Waxmann 2003
(236 Seiten; ISBN 3-8309-1282-X; 25,50 EUR)
Astrid Messerschmidt (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Reitemeyer, Ursula: Ist Bildung lehrbar?, Münster: Waxmann 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091282.html
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Reitemeyer, Ursula: Ist Bildung lehrbar?, Münster: Waxmann 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091282.html