"Schule im Umbruch" ist aus dem hochschuldidaktischen Projekt "Ethik im Unterricht" hervorgegangen, das zwischen 1998 und 2000 vom Bildungsministerium NRW gefördert wurde. Oliver Geisters Beitrag ist damit Teil einer Veröffentlichungsreihe, die unter dem Projekttitel von Ursula Reitemeyer herausgegeben wird. Ihrer Einleitung ist zu entnehmen, dass es sich dabei vor allem um ein Projekt zur Verbesserung der Lehrerbildung handelt. Bezogen auf Oliver Geisters Thematik hebt sie dessen nicht-affirmative Theoriereflexion hervor, die in einem Traditionsstrang von Aufklärung, Kritischer Theorie und Postmoderne zu sehen ist. Die Dualisierung von affirmativ vs. nicht-affirmativ, wie sie Oliver Geister im Anschluss an Dietrich Benners "Allgemeine Pädagogik" formuliert, bildet aber letztlich auch jenen Problemhorizont, der zu einigen kritischen Fragen an das Buch Anlass gibt. Doch zunächst zum Aufbau:
In der Einleitung des Autors (Kap. 1) wird dem Leser ein klarer roter Faden über den Gesamtinhalt sowie über die Diskussion bezüglich des Ethikunterrichts in Deutschland gegeben. Sehr informativ sind hier die juristischen Hintergründe und ein Überblick über die in den Bundesländern sehr unterschiedlichen Zeitpunkte der Einführung des Ethikunterrichts als Ersatzfach für Religion seit den 70iger Jahren. Dabei wird deutlich, dass die Konstatierung gesellschaftlicher – vor allem technologischer Umbrüche – das Bestreben eine Werteerziehung in der Schule zu sichern erhöht. Oliver Geisters zentrale Frage hierzu ist, ob die Reformierung der Werteerziehung in der Schule wirklich durch ein Fach – "Ethik", "Praktische Philosophie" etc. – gesichert werden kann? Dahinter steht für ihn auch die alte philosophische Frage, inwieweit Werthaltungen überhaupt in Unterrichtsform vermittelbar sind? Über die didaktische Seite dieser Fragestellung hinaus, weist Oliver Geister der erziehungswissenschaftlichen Disziplin die sehr bedenkenswerte Aufgabe zu, die vielen Stimmen, die sich in unserem Lande erheben und den (Um-)Bruch gesellschaftlichen Lebens verkünden, ideologiekritisch zu überprüfen und bildungstheoretisch zeitgemäße Konzepte bereitzustellen.
Nach dieser Einleitung zum Horizont der Arbeit gibt Oliver Geister im 2. Kapitel einen Überblick darüber, wie er die "gegenwärtigen Herausforderungen an die Schule" einschätzt. Dazu benötigt er zunächst eine sozio-historische Charakterisierung unseres Zeitalters (und/oder gesellschaftlichen Lebensgefühls) und entscheidet sich hier nach kritischen Abwägungen, u. a. im Anschluss an Wolfgang Welsch, für den Terminus der Postmoderne. Wichtig ist ihm, dass der Begriff für Pluralität und Widerständigkeit steht, wobei Oliver Geister letztendlich an der Möglichkeit vernünftiger Konsensbildung festhält.
In diesem Kapitel leistet er ferner einen Überblick über die historischen Entwicklungen seit dem 15. Jahrhundert, eine Darstellung der "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie eine Zusammenfassung des "postmodernen Wissens" nach Francois Lyotard. Dieser in seiner Kürze gewagte "Rundumschlag" mag vielleicht dem sozio-historischen Kenner zu plakativ vorkommen, gibt aber in verständlicher Sprache den Vergleichshorizont Moderne – sprich Aufklärung – und Postmoderne wieder. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird schließlich auf die postmodern hervorgerufenen Konsequenzen für Kindheit und Jugend in Deutschland eingegangen. Hier kommen viele Sozialwissenschaftler zu Wort, die beispielsweise vom Ende der Kernfamilie, vom Ende der Normalbiographie oder von der Medienkindheit sprechen. Darüber verfasst der Autor am Schluss sechs Thesen, die teilweise zu wenig "ideologiekritisch" übernehmen, was die Wissenschaft verkündet. Warum sind z.B. heute Kinder und Jugendliche besonders vielen Risiken ausgesetzt, wo wir doch in einem der wohlhabensten und gesichersten Staaten der Erde leben?
Kapitel 3 will bildungstheoretische Antworten auf postmoderne Entwicklungen geben. Dazu werden wieder viele Bildungsklassiker der Aufklärung, des Neuhumanismus bis hin zur Gegenwart in Kürze behandelt. Fazit ist, dass Oliver Geister – in Abgrenzung zu Lyotard – am Projekt der Modernen festhält, dies aber in der Tradition Max Horkheimers und Theodor W. Adornos folgenkritisch tun will. Daraus ergeben sich "Möglichkeiten einer aktuellen Bildungstheorie", die beispielsweise der Schnellebigkeit postmodernen Lebens entgegenhält, dass Bildung Kraft und Zeit braucht. Die aus den dargestellten bildungstheoretischen Ansätzen (Rousseau, Humboldt, Adorno u.a.) nicht-affirmative Charakterisierung pädagogischen Handelns und Denkens lässt Oliver Geister schließlich zu dem Resümee kommen, dass Schule nur die Möglichkeit zur Selbstbildung geben kann und der Lehrer dazu da ist, sich überflüssig zu machen. Eine so geartete Bildungstheorie gibt keine Handlungsanweisungen, hält die Zukunft für die Selbstgestaltung der jüngeren Generation offen und erschöpft sich in Maximen und Prinzipien.
Im 4. Kapitel "Konsequenzen für die Schule" wird zu Beginn auf den Schulauftrag einer vertieften allgemeinen Bildung eingegangen, wobei Bildung als Zusammenhang von Wissen und Haltung definiert wird. Haltung setzt der Autor mit Mündigkeit gleich und leitet daraus in nicht-affirmativer Weise ab, dass die Schule nicht zu Werten, sondern zum Werten erziehen müsse. Dabei vertritt Oliver Geister durchaus eine Wertrangordnung, die faschistische Verbrechen beklagt und demokratische Grundwerte befürwortet. Würde es wirklich der Mündigkeit schaden, zu diesen Werten auch zu erziehen?
Auch eine in diesem Kapitel vertretenen Kritik an der Regelschule ist klar am kritischen Bildungsdiskurs der 70iger Jahre orientiert – Chancengleichheit ist ein großes Thema und das Lob auf die Gesamtschule. Als konstruktiven Vorschlag rät er den Lehrern sich bewusst zu machen, "daß Bildung nicht positiv und im Wesentlichen auch nicht normativ bestimmt werden kann" (75). Das didaktische Konzept Oliver Geisters greift schließlich viele Gedanken der Reformpädagogik, der dialogisch-personalen Pädagogik und der Kritischen Theorie auf: offener Unterricht, jahrgangsübergreifende Klassen, Hilfe zum selbsttätigen Lernen etc. Was den Ethikunterricht betrifft, so wird dieser als Unterricht abgelehnt, da Haltungen nicht im 45-Minuten Takt lehrbar seien. Haltungen müssten vielmehr durch die gesamte Schulwirklichkeit vermittelt werden und zwar mit dem Ziel, "den Schüler zu befähigen, sich selbst kritisch mit Wertorientierungen auseinanderzusetzen" (82f).
Das nächste, 5. Kapitel besteht in einem weiteren Schritt zur schulspezifischen Konkretisierung der Thematik Ethik und Wertvermittlung. Aufgeführt werden Projektstunden, Schulversammlung und Bildungsgutscheine. Unter dem Gesichtspunkt von Chancengleichheit und bildungstheoretisch fundierter Kontrastrierung zum Zeitdruck postmoderner Gesellschaften plädiert der Autor für die Ganztagsschule. Nachmittägliche Projekteinheiten, die sowohl interdisziplinär als auch von Eltern mitgestaltet werden sollen, bieten im Sinne Oliver Geisters die Möglichkeit, den Fachunterricht durch ethische Fragestellungen zu ergänzen (Beispiel: genveränderte Fische – ethische Reflexion auf biologisch Gelehrtes). Die Schulversammlung soll klassenübergreifend zur Mitwirkung und Mitgestaltung der Schüler anregen.
Unter der Überschrift "Bildungsgutscheine" setzt sich Oliver Geister kritisch mit dem Microchoice-Modell von Lewis Perelman auseinander. Danach soll Schule zugunsten eines privatisierten marktwirtschaftlichen Systems abgeschafft werden. Heinz Moser vertritt dazu in Deutschland die gemäßigtere Auffassung, dass Schule privat gewonnenes, disparates Wissen systematisieren solle. Oliver Geister kritisiert sowohl die radikale als auch die gemäßigte Auffassung unter dem Aspekt sich verringender Chancengleichheit und mangelnder Beaufsichtigung. Prinzipiell ist er aber für Bildungsgutscheine, da sie als "Aufforderung zur Selbsttätigkeit" (vgl. Benner) einen bildungstheoretisch zu wünschenden Beitrag lieferten. Eine mögliche marktwirtschaftliche Konditionierung sieht der Autor nicht.
Die Schlussbemerkung (Kapitel 6) betont noch einmal, "Ethik als allgemeinbildendes Element eines jeden Unterrichtsfaches" (101) zu verwirklichen und nicht durch die Reduzierung auf ethischen Fachunterricht die Schule zu entmoralisieren. Am Ende steht/bleibt Adorno mit seinem Appell, den Kindern nicht das Philosophieren auszuprügeln und sie zu kritischen, emanzipierten und mündigen Menschen zu erziehen. Was den Erfolg angeht, ist Oliver Geister ebenso pessimistisch wie Adorno - vielleicht liegt das daran, dass viele der genannten bildungstheoretischen und schulpraktischen Ideen lange bekannt sind und leider immer noch nicht umgesetzt wurden.
Insgesamt eignet sich das Buch von Oliver Geister gut, um es mit Studienanfängern im Rahmen der Lehrerbildung zu besprechen. Es bedient sich keiner überzogenen Wissenschaftssprache, Begriffe werden geklärt und für den bildungstheoretischen und philosophiegeschichtlichen Anfänger gibt es gute Überblicke. Aufgrund seines proklamierten nicht-affirmativen Theoriecharakters, hinter dem sich de facto ein hoher moralischer und pädagogischer Anspruch verbergen, gibt es genug provozierenden Anlass, sich an der aktuellen pädagogischen Wertediskussion zu beteiligen.
EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)
Schule im Umbruch
Zum Problem der Werteerziehung und des Ethikunterrichts in Zeiten der Postmoderne
Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2002
(115 Seiten; ISBN 3-8309-1174-2; 16,90 EUR)
Petra Reinhartz (München/Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Reinhartz: Rezension von: Geister, Oliver: Schule im Umbruch, Zum Problem der Werteerziehung und des Ethikunterrichts in Zeiten der Postmoderne, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2002. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091174.html
Petra Reinhartz: Rezension von: Geister, Oliver: Schule im Umbruch, Zum Problem der Werteerziehung und des Ethikunterrichts in Zeiten der Postmoderne, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2002. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091174.html