Der vorliegende von Gaby Herchert, Sascha Löwenstein, Elisabeth Gutjahr und Andreas Dörpinghaus herausgegebene Band versammelt Beiträge von Karl Helmer zur ars rhetorica, zur Kunst der Argumentation. Die hier vorgelegten und angeordneten Beiträge entstanden im Zeitraum von 1987 bis 2004 und wurden mit Ausnahme von zwei Texten bereits an anderen Orten veröffentlicht, wobei sich eine erneute Publikation der Beiträge in der vorliegenden Form durchwegs lohnt.
Im Vorwort des Bandes würdigen die HerausgeberInnen das Bestreben Karl Helmers „durch rhetorische Argumentation Verständigung zu befördern“ (7). Dies sei die Grundlage für Helmers Offenheit gegenüber vielen Themen und Ansätzen und seiner Haltung, die Räume und Möglichkeiten eröffne (ebd.). Im Band finden sich - neben dem Vorwort der HerausgeberInnen und einer Einleitung Karl Helmers - elf Beiträge, die unter drei Überschriften angeordnet sind. Zunächst eröffnet sich ein Bereich ‚Zur Orientierung’, der nicht am Band, sondern an der Sache der Rhetorik orientiert ist, sodann formiert sich ein zweiter Bereich unter ‚Herkünfte’, der vom dritten und letzten Bereich ‚Zur Systematik’ flankiert wird. Die vorgelegten Beiträge verstehen sich nach Karl Helmer nicht als eine „vollständige Theorie der Rhetorik und ihrer Nutzung“ (10). Sie seien Texte mit unterschiedlichsten Entstehungskontexten, die „lediglich“ Perspektiven auf „eine Theorie der Beratung in rhetorischer Tradition“ eröffnen, wobei letztere auszuarbeiten „eine Aufgabe bleibt“ (10).
Auch wenn weder Titel noch Untertitel auf Pädagogik oder Erziehungswissenschaft verweisen: jeder der versammelten Beiträge erscheint für pädagogisches Denken und (Sprach-)Handeln von Relevanz, die meisten sogar von unhintergehbarer Brisanz, wenn und weil sich Rhetorik mit kontingentem, wahrscheinlichem Wissen beschäftigt, wo Wahrheit nicht (mehr) zu haben ist. Jedes tätige Handeln – v.a. auch das öffentlich politische – sei nach Karl Helmer auf Orientierung im Kontingenten angewiesen. Mit Argumenten könne Notwendiges von Zufälligem getrennt werden (vgl. 90) und so auf Überzeugung durch Gründe, auf Verständigung und rational kontrollierte Zustimmung abgezielt werden (vgl. 9).
Das breite inhaltliche und thematische Spektrum der Arbeiten Karl Helmers zur ars rhetorica lässt sich hier nur fraktal skizzieren, denn den LeserInnen des Buches eröffnen sich vielschichtige Geschichte(n), die trotz sprachlicher und sachlicher Klarheit nicht auf Performativität verzichtet. Karl Helmer nimmt die LeserInnen auf eine metaphern-, analogien- und argumentationsreiche Reise durch die Systematik und Geschichte der Rhetorik mit, ohne die Multiperspektivität, Pluralität und teilweise Widersprüchlichkeit in einer Erzählung aufzuheben. Mag auch die Sortierung im Buch (Zur Orientierung, Herkünfte, Zur Systematik) nicht allzu viel klären, weil auch in den Beiträgen zu den Herkünften immer wieder systematische Fragen gestellt werden und umgekehrt, so erweisen sich die Einzelbeiträge sowohl in wissenschaftstheoretischer als auch in erkenntnistheoretischer und (erziehungswissenschaftlich-) theoriegeschichtlicher Sicht als sehr aufschlussreich. Ebenso wird ein (disziplin-)historischer Blick möglich, da auch der Status der geschichtlichen Narration von Karl Helmer selbst jeweils thematisiert und skaliert wird (vgl. z.B. 90).
Der erste, sich an der Sache der Rhetorik orientierende Beitrag, der gemeinsam mit Andreas Dörpinghaus verfasst wurde, gibt eine historische und systematische Übersicht von der griechischen und römischen Tradition der Rhetorik, über die christliche Rhetorik, den vorläufigen Niedergang der ars rhetorica zu Beginn der Moderne, über deren Erneuerung und Rehabilitierung bis hin zu „Versatzstücken einer pädagogisch-rhetorischen Theorie“ (22). Letztere thematisieren die Relation von Rhetorik und Didaktik ebenso wie die Relation von Rhetorik und Pädagogik als Wissenschaft: „Pädagogik als kritische Geltungstheorie erhält in Orientierung an der Rhetorik als Argumentationstheorie neue Konturen“ (24), wobei die Geltung dessen, dem zugestimmt wird, jedenfalls zeitlich und örtlich begrenzt sei.
Weniger einführend gestalten sich die folgenden historisch und sachlich differenzierteren Rückblicke in die Geschichte(n) der Rhetorik, die unter ‚Herkünfte’ angeordnet sind. Der erste Beitrag fokussiert die Rhetorik im Alten Ägypten und damit eine Tradition, die neben dem griechischen Gedankenkreis zumeist unberücksichtigt bleibt, auch wenn die ägyptischen Einflüsse in Griechenland vielfach belegt sind (vgl. 29f.). Interessant erscheint, dass die Entstehung und Blüte der Rhetorik – bei deutlichen verschiedenen Umständen – auf ähnliche Anlässe und Bedingungen sowohl in Griechenland und Ägypten verweisen, weil sie u.a. durch Probleme der Neuerrichtung und Festigung von Ordnungen nach Umbrüchen und Krisen begünstigt wurde (vgl. 31). Im Beitrag Die Wahrheiten der Götter und die Polis von Athen. Zur Ausfaltung der griechischen Rhetorik ermöglicht ein „Rundgang“ an dem Ort, „an dem die Rhetorik ihre erste Blüte erlebte, um möglicherweise wichtiger Elemente ihrer Konstitution ansichtig zu werden, die sie bis heute prägen“ (41). Dort zeigt sich ein Leben der Polis, das durch das Wort, den logos, bestimmt ist: „Die Republik steht unter dem Wort“ (41), Politiker sind Rhetoren; denn Politik betreiben heißt reden müssen. Neben den Worten und Argumentationen der Politiker zeigt sich im Athen des 5. Jahrhunderts die Bedeutung des Theaters, das zur öffentlichen Angelegenheit der Polis wird. Etymologisch verweist Karl Helmer auf die Verwandtschaft der Wörter Theorie und Theater, die sich beide vom griechischen théa in den Bedeutungen von Besichtigung, Beobachtung, Betrachtung, Schau ableiten (vgl. 47).
Drei weitere Beiträge finden sich im Teil ‚Herkünfte’, deren Gemeinsamkeiten in ausgewählten Momenten ideengeschichtlichen Denkens liegen: Der erste, De coniecturis, thematisiert die Mutmaßungen als Formen der Argumentation. In der Rhetorik benennt Konjektur eine Form der Argumentation, in der Wissen, das als hinlänglich gewiss anerkannt ist, „vermutend mit Ungewissem, das gestärkt werden soll“ (51) verbunden wird. Die Kunst des Konjektierens, die u.a. bei Nikolaus von Kues aufgesucht wird, sei darauf gerichtet, Widersprüche zuzulassen und zu überschreiten. Wenn konjekturales Denken nach Karl Helmer ernst genommen werde, dann müsse es sich an den Vorgaben des Nikolaus von Kues messen lassen. Dies könne nicht mit manchen modernen Formierungen identifiziert werden, die oft nicht mehr als ein häufendes Zusammenwerfen im Wortsinn von conicere darstellen, wenn Vermutungen bloß „mit weiteren Vermutungen in der Hoffnung ergänzt werden, die Häufung könnte Ungewissheiten reduzieren“ (62). Der zweite Beitrag widmet sich dem philosophischen Unterricht nach Giambattista Vico unter der Überschrift Topik und Kritik. Dort finden sich aus der Beschäftigung mit Vicos Schriften und seiner kritisch-topischen Philosophie veranlasste Thesen für einen topisch und kritisch orientierten Unterricht, der u.a. systematischen Umgang mit Wissen verlangt und für das Lebens und Handeln im Gemeinwesen folgenreich ist, auch wenn die Verbindung von Topik und Kritik „nicht präskriptiv sein“ (74) kann. Der letzte Beitrag dieses Abschnitts, Säkuläre Religion und sakrale Ästhetik, fragt nach der Bedeutung von Religion in Herbarts Denkgefüge und zeigt, dass Herbart für die Konstituierung seiner Allgemeinen Pädagogik auf Ästhetik zurückgreift, während Religion daraus abgeleitet eine Perspektive des Unterrichts bleibt. Herbarts Pädagogik erscheint so ästhetisch fundiert und konstruiert, sie „erscheint nicht als Kritik, sondern als topisch interessiertes Gedankengeflecht“ (85).
Der letzte Teilbereich des Buches, ‚Zur Systematik’, wird von einem Beitrag zu Argumentation und Zustimmung eröffnet, in dem einige Möglichkeiten der theoretischen Rhetorik zur Sprache gebracht werden. Im Durchgang von Aristoteles bis zur Postmoderne wird u.a. der Frage nachgegangen, ob und wie Philosophie und Wissenschaft Aufgaben der Rhetorik wahrgenommen haben; diese Frage wird abschließend exemplarisch anhand der Allgemeinen Pädagogik Wilhelm Flitners erläutert (vgl. 99ff.). Der Beitrag Rhetorische Argumentation in der Pädagogik unternimmt den Versuch, den möglichen Ort einer rhetorischen Argumentation in der Pädagogik zu bestimmen. Dabei zeigen sich Möglichkeiten einer Sachgebietszuständigkeit für Erziehung, Unterricht und Bildung; es zeigen sich allerdings auch mögliche Risikobereiche: Denn gelingt es nicht, die Sachbindung des Wissens der Wissenschaft plausibel zu machen, dann „bliebe die rhetorische Argumentation auf die Nutzung von Sprachmustern beschränkt. Hier zeigt sich, grell beleuchtet, die ungedeckte, verwundbare Flanke der rhetorischen Argumentation in der Pädagogik“ (110). Im gemeinsam mit Gaby Herchert verfassten Text Vorbild und Beispiel als Argument wird der Sprachgeschichte von Vorbild und Beispiel nachgegangen und deren divergierender argumentativer Verwendungskontext nachvollzogen, wobei auch die wandelnden Subjekt- und pädagogischen Theoriekontexte thematisiert werden. Die folgenden Anmerkungen zur Topik gehen erneut der Metapher des Raumes nach, die offenbar in besonderer Weise mit geordnetem Denken belegt sei. Die Frage nach der Dignität topischen Wissens wird genauso diskutiert wie Fragen nach den Ähnlichkeiten in der Konstruktion von Datenbanken und den topischen Traditionen, wobei nicht jede Datenbank den Anforderungen entspreche, die an eine Theorie zu stellen sind (vgl. 127f.). Der letzte Beitrag, Theoretische Rhetorik und systematische Erziehungswissenschaft, greift erneut Fragen nach Topik, Argumentation, Zustimmung und begrenzter Geltung in der Pädagogik auf.
Die historischen und theoretischen Teile zur Rhetorik erschließen sich LeserInnen, die erstmals mit der Tradition der Rhetorik oder der Wissenschaft(en) in Berührung kommen, wohl en détail nicht ganz leicht und einfach – bei aller argumentativen Kunstfertigkeit der Texte. Thematisch bereits involvierten LeserInnen bieten die Texte jedoch mehrfach Einsatzpunkte, wenn es beispielsweise um Wissen, Moderne, frühe ‚postmoderne’ Einsätze, Sprachspiele, Dissens oder Assens, (Grenzen der) Methodisierung geht, angesichts derer die eigenen Argumentationen erneut angefragt sind. Dass rhetorische Theorie von Beginn an auch einen Bewegungsgrund in einer Dimension von Gemeinsinn, von Politik, hatte, erneuert auch deren Brisanz. Die Relevanz für erziehungswissenschaftliches Denken und Handeln erstreckt sich beispielsweise quer durch die Bereiche von Didaktik, Beratung, Argumentation, Zustimmung, Geltung, Bildung, Kritik, Unterricht oder Theorie. Wenn Karl Helmer in der Einleitung zum Buch formuliert, dass menschliches Erkennen in der Tradition der Rhetorik an das Anthropomorphe, an Sprachliches gebunden sei und rhetorische Argumentation auf ein Überzeugen durch Gründe, auf Verständigung und rational kontrollierte Zustimmung abziele (vgl. 9), dann ist das Buch wohl für all diejenigen von Interesse, die unter diesen Prämissen zu denken riskieren; es steht bereit für LeserInnen, die den ‚zureichenden Grund’ ihres Sprechens und Handelns zu (be-)denken bereit sind.
EWR 6 (2007), Nr. 1 (Januar/Februar 2007)
Ars rhetorica
Beiträge zur Kunst der Argumentation
Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2006
(164 S.; ISBN 3-8261-3343-4; 19,80 EUR)
Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Helmer, Karl: Ars rhetorica, Beiträge zur Kunst der Argumentation. WĂĽrzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82613343.html
Elisabeth Sattler: Rezension von: Helmer, Karl: Ars rhetorica, Beiträge zur Kunst der Argumentation. WĂĽrzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82613343.html