Anlässlich der bevorstehenden Emeritierung von Günther Bittner fand im Januar 2005 in Würzburg eine Tagung statt, die sich zwei übergeordneten Problemen zuwandte. Einerseits sollte ergründet werden, wie das Verstehen von Menschen zu bewerkstelligen sei, andererseits welche Bedeutung ihm in pädagogischen Handlungsfeldern zukomme. Der vorliegende, vier thematisch verdichtete Kapitel umfassende Tagungsband ist das Kompendium der dort gehaltenen Vorträge.
Hans-Georg Gadamers philosophisch-geisteswissenschaftliche Hermeneutik kommt in dem Band nicht gut weg. Der Herausgeber sagt ihr im Gegensatz zu Dilthey einen anti-psychologischen Affekt nach, der die Wissenschaft vom Verstehen auf den Abweg geführt habe, nur noch den von seinem Urheber getrennten schriftlichen oder gesprochenen Text als ihren Gegenstand zu betrachten. Hinsichtlich des Menschens, der da schreibt oder spricht, seinen Lebensäußerungen, bleibe diese Art der Hermeneutik aber bis in die Pädagogik hinein jede Antwort schuldig. Anders die Psychoanalyse, welche „die Bedingungen und Möglichkeiten des Verstehens von Menschen“ (8) explizit behandle. Deshalb wird ihr in der ersten Abteilung – „Texte, Bilder, Menschen verstehen“ (13-73) – wenngleich auch mit kritischer Distanz gegenüber freudianisch-methodisierbaren „Spinneweben dogmatischen Denkens“, kräftig das Wort geredet. Eine Ausnahme gibt es freilich, welche die spannendste Kontroverse innerhalb der gesamten Publikation bildet:
Was Günther Bittner in der Einleitung mit dem Privileg des Editors als fatale Auswirkung für die pädagogische Hermeneutik verwirft, legitimiert Parmentier in seinem Beitrag „Zum Verständnis des Unverständlichen. Versuch über das Unauslotbare im Werk von Vermeer“ (58-73). Zunächst gesteht er frei heraus, Menschen verstehen, das könne er gar nicht. Unter Berufung auf Schleiermacher konkretisiert er die seines Erachtens umgangssprachliche Wendung dahingehend, indem er hinter ihr verklausuliert „die Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen“ (58), annimmt. Obwohl sehr weit gefasst, weil tendenziell alle möglichen Formen der verbalen bzw. nonverbalen Kommunikation enthaltend, und damit den diltheyschen, multimedialen Lebensäußerungen sehr ähnlich, steht der in ein materielles Substrat eingeschriebene, weil ansonsten inexistente Sinn im Mittelpunkt des Verstehens, „nicht der Mensch“ (ebd.). Für Günther Bittner ist das alles fortgesetzte Texthermeneutik, selbst wenn der Betrachter von Vermeers hermetischer „Briefleserin in Blau“ letztlich unverständig verstehend auf sich selbst geworfen, die ästhetische Wirkung höchstens – freilich äußerst beglückend – spürbar wird. Horst Scarbath greift diesen Faden in seinem überblickenden Resumée „Der hinkende Hermes. Über Glanz und Elend unserer Bemühungen, Andere zu verstehen“, das die vierte und letzte Abteilung „Vom Fliegen oder Hinken. Versuch einer Zwischenbilanz“ ausmacht (177-187), wieder auf. Ihm nach beziehe sich das pädagogisch-dialogisch durchaus mögliche Verstehen nicht auf den universalen Menschen, sondern auf eine – mit Schleiermacher dialektisch – jeweils seiende und werdende konkrete Person.
Fragt man also mit Rüdiger Bittner, „Wann versteht man einen Menschen?“ (15-24), lautet die Antwort entgegen Diltheys Verstehensdefinition zunächst: nicht indem ein verborgener, innerer Sinn interpretierend entlarvt wurde. Der temporale Übertritt vom Nicht-Verstehen zum Verstehen eines Menschen könne durch Einsicht in dessen Ziele, Verhaltensweisen, Vorlieben oder Geschichte erfolgen und eröffne den Zugang zu weiteren Facetten seiner Persönlichkeit. Wichtig ist dem Autor dabei der Hinweis, dass die Verstehensanlässe situativ vielfältig sowie immer nur partiell sind, es sei das Schicksal des Menschen, „nicht ganz verstanden zu werden“ (21). Dennoch rücke der so Verstandene in ein neues Licht, in einen psychoanalytischen Zusammenhang seines bewussten Handelns mit dem Unbewussten, wie ihn Freud theoretisch anstrebte. Günther Bittner sieht das Verstehen in „’Es’ versteht“ (25-34) dann auch als vorsprachliche, präinterpretative „Spontanbewegung des Unbewussten“ (30), die es mittels der Psychoanalyse detektivisch, durch eigenen Nachvollzug der Motive intuitiv aufzuspüren gelte. Volker Fröhlich wendet sich mit „Sich selbst verstehen?“ (35-42) der im Verstehen anderer Menschen hermeneutisch traditionell immer schon mitgedachten Bedingung des eigenen Verstehens zu. Auch wenn er anhand des in Universitätskreisen vermutlich wohlbekannten Beispiels eines inneren Dialogs zwischen Ratio und Unterbewusstsein – mehr soll hier nicht verraten werden – die theoretische Evidenz und Kongruenz seines sich selbst verstehenden Aha-Erlebnisses nicht mit Bestimmtheit behaupten könne, praktisch sei dies ohnehin zweitrangig. Letztlich habe sich daraus eine notwendige, zuvor inakzeptable Verhaltensänderung ergeben, welche ohne äußeren Impuls, ohne hilfreichen Gedanken, ohne den Blick eines Anderen nicht zu Stande gekommen wäre. Wie dialogisches Verstehen in narrativen Zusammenhängen abläuft, nämlich mittels Eintritt in gleiche Erwartungshorizonte, analysiert Brigitte Boothes Artikel „Erzählende Menschen verstehen. Erwartung – Überraschung – Bestürzung“ (43-57).
Die zweite Abteilung (75-102) spezialisiert den Blick auf Prämissen psychoanalytischen Verstehens unter der Überschrift „‚Abstinenz’ oder ‚Zurückhaltung’?“. Günther Bittner verwirft darin („Ist Abstinenz der Weisheit letzter Schluss?“, 77-85) die ursprünglich moralisch und technisch fundierte Abstinenz- bzw. Neutralitätsthese während der Therapie. Selbstlose Interaktion als Illusion begreifend, plädiert er für ein berechtigtes, wenngleich im Interesse des Patienten zu begrenzendes Eigeninteresse des Analytikers. Gleichzeitig kann er hinsichtlich des Infragestellens sämtlicher „über Jahrzehnte im Gewissheitston vorgetragenen psychoanalytischen Technik-Regeln“ (84) damit das behauptete Verhältnis von Pädagogik und Psychoanalyse revidieren. Die Therapeuten-Patienten-Relation sei lediglich eine besondere pädagogische Beziehung unter vielen, und die klassisch experimentelle, utopische Psychoanalyse könne von der Pädagogik und ihren „natürlichen“ Interaktionsfeldern lernen. Daran anschließend kritisiert Datler („Abstinenz, Zurückhaltung und die Frage nach dem Latenten: Anmerkungen zum Prozess des psychoanalytischen Verstehens“, 86-102), dass die von Bittner aufgestellte Forderung nach natürlichem Betragen das Moment der durch Abstinenz geforderten inneren und äußeren „Zurückhaltung“ untergrabe, deren Dignität den psychoanalytischen Verstehensprozess erst ermögliche.
Die dritte Abteilung des Tagungsbandes widmet sich dem praktischen „Verstehen in pädagogischen Kontexten“ (103-175). Hier tritt dem Leser / der Leserin eine bunte, die gesamte Lebensspanne umfassende Themenvielfalt entgegen. Von der Kinderkrippe und einem bildlichen Verstehen der Erziehenden, das sieht und den Kindern auf gleicher Ebene weiterführend antwortet (U. Stenger, 105-118); der Ablehnung der comenianischen Lernmaschine zu Gunsten eines der Zeit und Didaktik enthobenen, entschleunigten subjektiven Verstehens z.B. eines kleinen italienischen Mädchens, das den Schatten fangen will (A. Nießeler, 119-129); dem spontanen, nonverbalen Verstehen der renitenten adoleszenten Nadja (M. Scharrer, 130-141); über den Heavy Metal hörenden Sohn, der laut Eduard Spranger sehr wohl, laut Psychoanalyse keineswegs verstanden werden wollen müsste, jedenfalls nicht durch nervtötende Verstehensbemühungen hinsichtlich seelischer Befindlichkeiten und Outfits, sondern durch pädagogische „‚Verwunderungsbekundung’ und (...) ‚Verstörung des Überlegenheitsdünkels’“ (162) (R. Göppel, 142-164); bis hin zur Erwachsenenbildung, die in ihrer institutionellen Form für alle Verstehensdefizite entsprechende Kurse anbietet – ob man nun die Welt, den Partner oder sich selbst nicht mehr versteht – und damit dem Trugschluss allseitiger Verstehbarkeit erliegt: Den eigentlich reflexiven Stand in der Welt, so definiert Günther Bittner Bildung und hier schließt sich der Kreis, gewinne nach Hans-Joachim Petsch aus der Subjektperspektive heraus nur, wer kunstvoll sein Nichtverstehen verstehe (165-175).
Menschen verstehen, ob andere oder sich selbst, ist und bleibt also ein schwieriges Geschäft. Auch die Lektüre des gleichnamigen, facettenreichen Buches kann dafür nur vereinzelt akademische, literarische und praktische Anhaltspunkte liefern, da es sich um einen tentativen Prozess handelt. Pädagogen sind mit Sicherheit keine Götterboten, wie Michael Winkler schon längst festgestellt hat, vielleicht aber doch moderne Engel, hermeneutische Ermöglicher...
EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)
Menschen verstehen
Wider die "Spinneweben dogmatischen Denkens"
Würzburg: Königshausen & Neumann 2006
(192 S.; ISBN 3-8260-3096-6; 24,80 EUR)
Andreas Ledl (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Ledl: Rezension von: Bittner, GĂĽnther: Menschen verstehen, Wider die "Spinneweben dogmatischen Denkens". WĂĽrzburg: Königshausen & Neumann 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603096.html
Andreas Ledl: Rezension von: Bittner, GĂĽnther: Menschen verstehen, Wider die "Spinneweben dogmatischen Denkens". WĂĽrzburg: Königshausen & Neumann 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603096.html