Inhalt dieser Schrift ist eine Sokrates-Vorlesung, die Wolfgang Fischer zur Publikation vorgesehen hatte, aber selber nicht mehr veröffentlichen konnte. Es geht ihm in dieser Vorlesung, wie Fischer darlegt, „nicht um philologische und historische Recherchen und deren Prüfung, sondern um die mit Sokrates in die Welt gekommene oder die mit seiner Gestalt verbundene philosophische und pädagogische Problematik“ (26), der pädagogischen Bedeutung eines Philosophen, der von sich behauptet, nicht Wissender und darum auch nicht Lehrer zu sein. Diese Problematik allein erklärt nach Fischer die Faszination, welche die Figur Sokrates über Jahrhunderte ausgeübt und die Fragen wach gehalten hat, denen er in seiner Vorlesung nachgehen will: Was können wir über den historischen Sokrates sagen? Worin bestand sein Geschäft? Mit welchem Recht hat man ihm den Prozess gemacht hat und mit welchem Recht kann man sich die Sache des Sokrates auch heute noch zu Eigen machen?
In dem historischen ersten Teil vertritt Fischer aufgrund seiner Sichtung der Quellen und der Forschungslage die These, dass es – entgegen gegenläufiger Interpretationen, etwa der von Eugène Dupréel und Olof Gigon – durchaus Sinn macht, in Sokrates nicht nur eine literarische Figur, sondern eine historische Gestalt zu sehen. Als Hauptquellen kämen dabei allerdings nur die frühen platonischen Dialoge in Frage und kaum Aristophanes und Xenophon (59). Das Fragen, Prüfen und Widerlegen, das Nicht-Wissen des Sokrates und die Ergebnislosigkeit seiner Gespräche in dieser Phase des platonischen Werks hätten nicht bloß eine didaktische Funktion für die späteren doktrinalen Werke Platons, beginnend mit dem Wiedererinnerungsmythos im „Menon“ und der Hebammen-Metapher im „Theätet“, sondern enthielten, besonders was die Eigenart des sokratischen Tuns anlangt, „Sokratisch-Authentisches“ (61).
Fischer verweist auf die wenigen unbestrittenen biographischen Fakten: die Familienverhältnisse von Sokrates, seine Teilnahme an drei Feldzügen, sein mutiges Auftreten gegen die demokratischen als auch die tyrannischen Machthaber und seinen Prozess. Er räumt auch mit Mythen auf, so etwa mit dem immer wieder hochgespielten Daimonion, das nach seinem Urteil ein „besonders schwaches Stück platonischer Sokrates-Dichtung“ (74) darstellt. Bestimmend für das Tun des Sokrates war nach Fischers Auffassung die damalige politische und wirtschaftliche Lage Athens, die Zerrissenheit zwischen demokratischem und oligarchischem Lager, Blüte und Niedergang der Stadt und ihre endgültige Niederlage im Kampf gegen Sparta [1]. Was aber – und unter dieser Frage steht der entscheidende zweite Teil der Vorlesung – war das Geschäft des Sokrates? Kern des Sokratischen ist für Fischer die Negation des Wissens. Bezogen auf diesen Kern erwiesen sich alle anderen, üblicherweise hervorgehobenen Momente des sokratischen Pragma eher als nebensächlich, so seine Ironie (sofern sie als Verstellung eines letztlich Wissenden verstanden wird), so auch das Erotische (84f.). In Platons „Apologie“ gebe Sokrates selber authentisch Auskunft über sein Tun: Es ist das permanente spähende Befragen, Prüfen und Widerlegen jener, die wissend zu sein glauben, wissend in Bezug auf die höchsten Dinge (87ff.). Unter Berufung auf sein Nicht-Wissen bestreite Sokrates auch konsequent, je Schüler gehabt zu haben (92). Elenktik, mit einem Wort, sei das Geschäft des Sokrates gewesen. Das immer wieder hervorgehobene paränetische Moment, das des Ermahnens und Wachrüttelns, ist nach Fischer eher eine Folgewirkung der Elenktik, und die Protreptik des Sokrates, sein Antreiben und Ermutigen hat, wie Fischer in längeren Interpretationen des „Charmides“ und gewisser Passagen der „Apologie“ darlegt, eher dienende Funktion.
Warum aber soll die Elenktik jene Wohltat sein für den Einzelnen und für die Stadt, als die Sokrates sein Tun preist (112)? Sie ist es darum, so Fischers Antwort, gestützt auf eine Interpretation des „Euthydemos“, weil all die Dinge, von denen Menschen sich ihr Glück versprechen (Gesundheit, Geld, Ruhm usw.), nur dann segensreich sind, wenn man sie auch richtig zu gebrauchen weiß. Aber eben dieses Wissen, das Wissen nämlich, „wessen sich der Mensch (im Leben) zu befleissigen habe (304 B), was wohl heißt, was die Aufgabe, die Bestimmung, die Areté des Menschen ist“ (125), habe der Mensch immer nur in Form des Nicht-Wissens. Die Wohltat der Elenktik liege darin, dass sie die Menschen ins „Fragen und Denken“ zurückhole und damit das ermögliche, worauf es nach Sokrates allein ankomme: dass wir uns in unserem Handeln allein von dem bestimmen lassen, was sich uns „nachdenkend als das Bessere erweist“ (131). Das Wirken des Elenktikers sei etwas grundsätzlich anderes als das, was Politik zu tun vermöge, und die notorische Apolitie des Sokrates erkläre sich daraus, dass er sich allein der Elenktik verschrieben habe (118ff.). – Soviel zum Inhalt.
Warum, so kann man angesichts von Fischers Vorlesung kritisch fragen, noch eine Sokrates-Darstellung mehr auf dem ohnehin schon reichen Markt der Sokrates-Literatur? Das Verdienst von Wolfgang Fischer ist es, dass er sich – im Unterschied zu den meisten Darstellungen der philosophischen Zunft – in der Tat dem Grundproblem, das Sokrates für die Pädagogik darstellt, konsequent und radikal fragend im sokratischen Sinn gestellt hat: Wie kann ein zu seinem Nicht-Wissen sich bekennender und den Titel „Lehrer“ von sich weisender Sokrates als Urvater der Pädagogik und Erfinder der wahrhaft pädagogischen Methode gepriesen werden? Dieser systematische Ansatz verleiht dem Buch – und hier kommt ihm der Vorlesungsduktus noch zusätzlich zu Hilfe – seine Unmittelbarkeit und Lebendigkeit. Dass dies nicht abseits aller wissenschaftlich-philologischen Bemühungen geschieht, sondern aufgrund intensiver Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, gehört mit zu den Stärken des Buches. Die Hauptthesen und Hypothesen Fischers bewegen sich durchaus im Rahmen dessen, was sich auch heute noch aufgrund der Forschungslage sagen lässt (zum Vergleich ziehe man etwa die Überblicksdarstellung von Klaus Döring in dem Überweg-Band 2/1: Die Philosophie der Antike, Basel 1998 heran). Die von Fischer vertretene gängige These, dass Platon zur Gegenfigur des doktrinalen Philosophen geworden sei und seine Dialektik im Gegensatz stehe zur sokratischen Elenktik, wird man allerdings mit einigen Fragezeichen zu versehen haben [2].
Etwas schwer scheint sich Fischer auch zu tun mit der genauen Charakterisierung des für ihn entscheidenden Punktes, des sokratischen Nicht-Wissens. Mit Recht distanziert er sich zwar von dem Versuch der Skepsis, das sokratische Nicht-Wissen doktrinal als ein Wissen des Nicht-Wissens auszulegen. Die sokratische Elenktik ende nicht ganz ergebnislos, sondern führe uns zu einer durch Nachdenken erhärteten „besseren Meinung“, die allerdings nie als die letzte und wahre gelten könne. Aber wenn es besser und schlechter begründete, obgleich niemals abschließende Meinungen geben kann, ist Fischers Sokrates nicht eigentlich Skeptiker, sondern das, was man nach heutiger Terminologie Fallibilist nennen würde, eine Position, auf der sich maßgebliche Strömungen der Gegenwartsphilosophie zu treffen pflegen, vom Pragmatismus bis hin zum kritischen Rationalismus. Von daher gesehen wäre es günstiger gewesen, nicht mit dem irreführenden Begriff des Skeptizismus (der ja seinerseits wieder in verschiedene Spielarten zerfällt) zu operieren und auf diese weiterführenden Bezüge zu achten. Es stellen sich jedenfalls neue grundlegende Fragen: Wo bleibt die Grenze zwischen diesem „elenktischen Wissen“ (Vlastos) des Sokrates auf der einen Seite und dem von Sokrates nie bestrittenen alltäglichen Erfahrungswissen und dem Wissen in Handwerk, Kunst (den technai) und Wissenschaft auf der andern Seite, das man, gemessen an den heutigen Wissensansprüchen, als nicht weniger fallibel ansehen müsste? Geht es hier vielleicht um jene Grenze, die Karl Jaspers im Auge hat mit seiner radikalen Unterscheidung zwischen dem „zwingenden Wissen“ der Wissenschaften und dem, was er Existenzerhellung und appellierendes Denken nennt? Und was hätte eine solche Unterscheidung für Konsequenzen für die Pädagogik?
Die Erörterung dieser Fragen hat in Fischers Vorlesung keinen Raum gefunden. Etwas ausführlicher geht er auf sie ein in einem Aufsatz von 1995 [3]. Wie auf diesem Weg einer skeptischen Pädagogik weitergedacht werden kann, haben Jörg Ruhloff und andere in ihren einschlägigen Arbeiten gezeigt. Befriedigende Antworten freilich wird man auch dort nicht finden. Um aber das Interesse für diesen Weg überhaupt erst zu wecken und junge Leserinnen und Leser an ihn heranzuführen, dazu ist Wolfgang Fischers Vorlesung bestens geeignet.
[1] Zum Vergleich ziehe man etwa die Überblicksdarstellung von Klaus Döring in dem Überweg-Band 2/1 (1998): Die Philosophie der Antike. Basel heran.
[2] Dass man Platon jedenfalls auch anders lesen kann, hat – auf die Unterscheidung von Richard Hare zwischen einem doktrinalen Plato und einem sokratischen Plato zurückgreifend – etwa Peter Stemmer (1992) in seinem Buch über Platons Dialektik recht überzeugend dargelegt (Berlin/New York: Walter de Gruyter).
[3] „Die sokratische Negation des Wissens – pädagogisch“. In: Kleine Texte zur Pädagogik in der Antike(1997). Hohengehren. In den Gesamtzusammenhang des Werkes von Wolfgang Fischer gestellt hat sie Christian Schönherr (2003) in seiner Dissertation „Skepsis als Bildung? Skeptisch-transzendental-kritische Pädagogik und die Frage nach ihrer ‚Konstruktivität’“ (Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann).
EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)
Sokrates - pädagogisch
(Hrsg. von Jörg Ruhloff und Christian Schönherr)
Würzburg: Königshausen & Neumann 2004
(146 S.; ISBN 3-8260-3018-4; 18,00 EUR)
Anton HĂĽgli (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anton HĂĽgli: Rezension von: Fischer, Wolfgang: Sokrates - pädagogisch, (Hrsg. von Jörg Ruhloff und Christian Schönherr). WĂĽrzburg: Königshausen & Neumann 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603018.html
Anton HĂĽgli: Rezension von: Fischer, Wolfgang: Sokrates - pädagogisch, (Hrsg. von Jörg Ruhloff und Christian Schönherr). WĂĽrzburg: Königshausen & Neumann 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603018.html