Wie der Titel des Buchs mit seiner indirekten Bezugnahme auf Kant und Adorno anzeigt, geht es um bildungsphilosophische Beiträge, die sich einem kritischen, sprich: negativen Bildungsbegriff verpflichtet fühlen, der, im Zuge der Aufklärung als universales Emanzipationsprinzip formuliert, vom Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts als Selektionsinstrument umgedreht wird. Daher muss im Argumentationsgang der Kritischen Theorie der letztlich nur metaphysisch zu begründende universale Geltungsanspruch von Bildung ideologiekritisch geprüft werden, um der universal gewordenen Halbbildung einschließlich ihrer antizivilisatorischen Tendenzen das große Feld der „Menschenbildung“ doch nicht ganz zu überlassen. Entsprechend dieses breiten historischen Bogens arbeiten die einzelnen Beiträge bildungsphilosophisch bedeutsame Etappen hinsichtlich eines kritischen, nicht-affirmativen Bildungsverständnisses heraus, die zusammen betrachtet den Leser in jenen kritischen Bildungsdiskurs einführen, der seit der Aufklärung ebenso sehr forciert wie auch immer wieder unterdrückt wird. In diesem Diskurs stehen die Klassiker der Moderne wie Rousseau und Kant oder Hegel und Marx und mit Blick auf die gegenwärtige Problemlage pluraler bzw. globalisierter Gesellschaften vor allem auch die großen Autoren der Kritischen Theorie, die entgegen des in der Pädagogik vorherrschenden postmodernen Zeitgeists nicht einer historisch abgelegten Stufe zugeordnet werden. Einer der Vorzüge dieses Bandes besteht darum zweifellos in dieser offenen Parteinahme für das Projekt der Aufklärung und Kritik in Zeiten affirmativer und instrumenteller Bildungsideologien, die einer kapitalistisch ausgerichteten ökonomischen Rationalität entstammen, aber vom Standpunkt eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs ausgesprochen leer erscheinen.
Claudio Almir Dalbosco interpretiert Rousseaus Theorie der Erziehung dementsprechend als Theorie des Mündigwerdens vor dem Hintergrund einer emanzipatorischen Sozialtheorie (55ff.). Mit anderen Worten: das Erziehungsexperiment „Emile“ wird zwischen dem Entwurf eines friedfertigen Naturzustands, in dem das natürliche Mitleid das soziale Miteinander in Balance hält (2. Discours), und dem Entwurf eines bürgerlichen Rechtsstaats (Contrat Social) verortet, wodurch das gesamte Programm der „natürlichen Erziehung“ dem politischen Anspruch der Autonomie untergeordnet erscheint.
Heinz Eidam bekräftigt mit Bezugnahme auf Kant den Vermittlungskontext von Mündigkeit und Autonomie, der von Adorno erneut auf den Begriff gebracht und hinsichtlich seines Geltungsanspruchs „in einer Zeit, die Bildung nur noch als marktkonforme Dienstleistung und Erziehung als den Weg dorthin verstanden wissen will“ (102) überprüft wird.
Hans Georg Flickinger untersucht den kantischen Mündigkeitbegriff als „Schlüsselbegriff“ des bürgerlichen „Rechtssystems“ (33), wobei er dankenswerterweise sowohl Hegels Rechtsphilosophie (35f.) als auch die bildungstheoretischen Implikationen der „Phänomenologie des Geistes“ (41ff.) in den Blick bringt.
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik beleuchtet unter Verweis auf Heydorn die mit der „geschichtsmaterialistischen Dialektik“ korrespondierende Marxsche Bildungstheorie (79), die als Theorie „menschlicher Emanzipation“ (83) vor allem in Marx’ frühen Schriften namhaft gemacht wird.
Diese hier genannten Beiträge stecken gewissermaßen das Terrain der Klassiker ab, an denen sich die Kritische Theorie abgearbeitet hat und, wie sich erfreulicherweise herausstellt, immer noch abarbeitet. Wolfgang Leo Maar bearbeitet den Mündigkeitsbegriff bei Adorno (in seinem Beitrag wird allerdings manches wiederholt, das sich in dem Eidam-Beitrag schon findet). Dirk Stederoth arbeitet in seinem lesenswerten Beitrag die bildungstheoretischen Implikationen von Marcuses sozialpsychologischer Anthropologie heraus, die sich zusammengefasst als Programm ästhetischer Befreiung in Zeiten eines Informations- und Reizüberflusses lesen lässt. Eldon Henrique Mühl untersucht Benjamins Konstrukt der Kindheit (wobei mir der Zusammenhang des benjaminschen Kindheitskonstrukts mit dem bildungstheoretischen Anspruch der Mündigkeit allerdings nicht klar geworden ist). Timo Hoyer versucht schließlich, die Gerechtigkeitstheorie Rawls unter Zuhilfenahme von Kohlberg und Piaget für eine „Gerechtigkeitserziehung“ im Sinne der Kritischen Theorie nutzbar zu machen, welches meines Erachtens deren nicht-affirmativen Charakter aber gefährlich unterläuft.
Den Beitrag von Nadja Herrmann über Nietzsches – in meinen Augen – anti-emanzipatorisches Autonomiekonstrukt (denn nicht jeder gehört nach Nietzsche zu den starken Charakteren, die sich selbst erschaffen können) kann ich nicht ganz in das Gesamtkonzept des Bandes einordnen, da die von ihr behauptete Verortung Nietzsches im „Horizont der Aufklärung“ (97) doch sehr erzwungen scheint und deshalb wohl auch nicht weiter ausgeführt wird. Ebenso wenig wird die Einleitung von Timo Hoyer der nicht-affirmativen Stoßrichtung der bearbeiteten bildungstheoretischen Positionen gerecht, da zwar eine Skizze der historischen Entwicklung des Bildungsbegriffs von der Antike über die Renaissance, die Aufklärung und das 19. Jahrhundert bis hin zu Adorno gegeben wird, aber eben unter Ausschluss genau derjenigen Klassiker, die für die einzelnen Beiträge dieses Bandes maßgeblich waren. Eine Geschichte des modernen Bildungsbegriffs lässt sich auch in aller Kürze weder ohne Rousseau, Hegel oder Humboldt schreiben, jedenfalls nicht in bildungsphilosophischer Absicht.
Der abschließende Beitrag von Werner Thole bringt die kritische Gesamttendenz des Bandes durch die Thematisierung sozialer (Bildungs-) Ungleichheiten „im Zeitalter der Globalisierung“ aber noch einmal auf den Punkt und fordert ein neues, sich selbst reflektierendes Programm sozialer und erzieherischer Arbeit, das sich gegenüber den ‚Modernisierungen’ innerhalb eines zunehmend ökonomisierten Verwaltungsapparats als „mündig“ erweist (vgl. 231). Mit diesem Beitrag ist die Kritische Theorie dann auch in der Gegenwart globalisierter Gesellschaften angekommen (vgl. die von Werner Thole angehängten Tabellen zur sozialen Ungleichheit in Deutschland und Brasilien), die nichts weniger als aufgeklärte und mündige Bürger brauchen, um ihre epochaltypischen Schlüsselprobleme angemessen bearbeiten zu können.
Die Besonderheit dieses Bandes, der in der Reihe „Ethik und Pädagogik im Dialog“ erschienen ist, besteht darin, dass er eine deutsch-brasilianische Kooperation auf dem Gebiet der Bildungsphilosophie dokumentiert, für welche die Universität Kassel und die Universität Passo Fundo federführend sind. Die portugiesische Fassung erschien in Sao Paulo bereits 2005. Wer schon einmal einen mehrsprachigen Band herausgegeben hat, weiß, wie viel Arbeit in solchen Projekten steckt, um ein solides und lesenswertes Ganzes präsentieren zu können. Dieses Vorhaben ist insgesamt als gelungen zu betrachten.
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Erziehung und Mündigkeit
Bildungsphilosophische Studien
(Reihe Ethik und Pädagogik im Dialog, Bd. 4)
(Reihe Ethik und Pädagogik im Dialog, Bd. 4)
Münster: Lit 2006
(240 S.; ISBN 3-8258-9867-9; 19,90 EUR)
Ursula Reitemeyer (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ursula Reitemeyer: Rezension von: Eidam, Heinz / Hoyer, Timo (Hg.): Erziehung und Mündigkeit, Bildungsphilosophische Studien (Reihe Ethik und Pädagogik im Dialog, Bd. 4). Münster: Lit 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82589867.html
Ursula Reitemeyer: Rezension von: Eidam, Heinz / Hoyer, Timo (Hg.): Erziehung und Mündigkeit, Bildungsphilosophische Studien (Reihe Ethik und Pädagogik im Dialog, Bd. 4). Münster: Lit 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82589867.html