Nach längerer Zeit der Abstinenz ist seit einigen Jahren das Denken Martin Luthers wieder im Gespräch. So lassen sich verschiedene Versuche erkennen, die Bildungs- und Erziehungsvorstellungen des Reformators für die Pädagogik fruchtbar zu machen. Allerdings bleibt die Einbettung in die sie fundierende Theologie meist unberührt, stört sie doch zuweilen die Betrachtung Luthers als Ratgeber zur Erziehungshilfe in einer wertunsicheren Welt [1]. Anders verhält es sich mit der „Theologie des lebenslangen Lernens“ von Andreas Ledl.
Der Zusammenhang zwischen dem Bildungs- und Erziehungsdenken Luthers und dem scheinbar neuzeitlichen Begriff des lebenslangen Lernens sowie einem zugrunde liegenden Konzept erschließt sich nicht unmittelbar. Ganz im Gegenteil wird „der Begriff ‚lifelong learning’ für eine sprachsoziologisch genuine Errungenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (9) gehalten. Dieser Sichtweise stellt sich Ledl entgegen und konstatiert, dass in Kenntnis von Luthers Schriften, Predigten und Tischreden „die Annahme, ‚lebenslanges Lernen’ sei die deutsche Übersetzung des um 1950 im englischen Sprachraum kreierten ‚lifelong learning’ nicht aufrecht erhalten werden“ könne (50). Es geht ihm darum zu zeigen, „warum Idee und pädagogische Wortschöpfung des lebenslangen Lernens ihren Ursprung nur bei Martin Luther haben können“ (9). Dieses Ziel sucht der Verfasser in vier Kapiteln durch die Entwicklung einer kontextanalytisch angelegten, neuen Ideengeschichte sowie der methodisch übergeordneten Fragestellung, wie lebenslanges Lernen möglich sei (vgl. 8), zu erreichen.
Im ersten Teil erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit „Luther und der Historiographie des lebenslangen Lernens“. Zunächst diskutiert der Autor den Forschungsstand zum lebenslangen Lernen in den Schriften des Reformators und fördert hierbei wenig Erfreuliches zu Tage: bis auf einige Ausnahmen [2] bleibt der Gedanke Luthers nahezu unbeachtet und lässt eine Analyse dringend erforderlich werden (vgl. 10, 17). Daran anschließend erörtert er diejenigen historiographischen Forschungen zum lebenslangen Lernen, die sich um eine legitime geschichtliche Verankerung bemühen (vgl. 23). Als grundsätzlich stellt Ledl heraus, dass die bisherige Betrachtung des Grundgedankens „lebenslanges Lernen“ begrifflich in eine ideengeschichtliche sowie sozialgeschichtliche Historiographie zu unterscheiden sei (vgl. 46). In Weiterführung dessen trägt der Verfasser einer noch zu begründenden allgemeinen Historiographie des lebenslangen Lernens die Aufgabe auf, „ihr Untersuchungsgebiet auf solche ideengeschichtliche[n] Positionen auszudehnen, mit denen Lernen in den vergangenen Epochen als lebenslanger Bildungsprozess gekennzeichnet wurde, und welche durch rein sozialgeschichtliche Forschungsmethoden kaum oder noch mangelhaft erfasst sind“ (49, Hervorh. im Original; Zus. A.Z.). Dann formuliert er die entscheidende Frage, ob man „lebenslanges Lernen“ überhaupt an Luther herantragen dürfe (ebd.). Um dies erfolgreich zu bestreiten, müsse es jedoch möglich sein, ihn in einen historisch-konstituierenden Individualisierungsprozess einzuordnen (vgl. 59). Mit dem Begriff der „Individualisierung“ bestimmt Ledl zugleich die erste Bedingung des lebenslangen Lernens.
Im zweiten Teil „Realistischer Konzeptualismus und Mystik: ‚Individualisierung’ am Ausgang des Mittelalters“ erschließt der Autor in einem ersten Teilkapitel das Verhältnis des Allgemeinen zum Singularen. Hierzu stellt er verschiedene Denkarten von „Individualität“ vor, wie sie sich bis ins 12. Jahrhundert zurück verfolgen lassen (vgl. 68-72), um durch einen Vergleich der Positionen Thomas von Aquins und Wilhelm von Ockhams die neue Wertschätzung des Singularen (Einzelnen) deutlich hervortreten zu lassen. Im zweiten Teilkapitel führt er die zuvor gewonnenen Erkenntnisse bezüglich des Individualitätsgedankens weiter aus. Dezidiert verfolgt er anhand von Quellen, Vorläufern und Vertretern, was Mystik sei, um einen Bogen zu Luther schlagen zu können. In Anlehnung an Johannes Tauler beschreibt Ledl Mystik als „religiöse Individualisierung“ (122). Die Verbindung zu Luther wird durch das mystische Bewegungsmoment und die Betonung individueller, geistiger Emanzipation nach Meister Eckhart gezogen, die als Wegbereitung der lutherischen Überzeugung gesehen werden könne, Christsein basiere ausschließlich auf persönlichem Glauben (vgl. 110).
Daran anknüpfend stellt der Autor im dritten Teil den Gedanken der „Individualisierung bei Luther“ dar. Er präsentiert drei Sichtweisen, „unter denen man den Reformator mit einer neuen (religiösen) Individualisierung in Verbindung bringen kann“ (123). Als erstes wird die Biographie Luthers in den Blick genommen, um davon ausgehend näher auf dessen Konfrontation mit Autoritäten und Institutionen einzugehen. Wichtig hierbei erscheint, dass Luther seine Identität nicht aus sich selbst heraus, sondern aus seiner Beziehung zu und sein Stehen vor Gott gewinnt (vgl. 136). Die dritte Sichtweise befasst sich mit der theologisch-anthropologischen Konzentration Luthers auf den einzelnen Christen und liegt in der Beantwortung der Frage, was Christus und was in Relation dazu der Mensch sei (vgl. 156). Da Luther auf christlich-mittelalterliche Individualisierungsbewegungen zurückgreift, die Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts virulent wurden (vgl. 8), bemüht sich Ledl, das vorliegende Kapitel abschließend, um eine neuerliche Darstellung der Einflüsse Wilhelm von Ockhams und Johannes Taulers auf das lutherische Denken.
Im vierten Teil gelangt der Autor schließlich zur „Theologie des lebenslangen Lernens“ und führt in einem ersten Teilkapitel neben der bereits besprochenen ersten Bedingung, der „Individualisierung“, in die Kategorien der „utopischen Finalität“ und „exzentrischen Substantialität“ als Grundlagen lebenslangen Lernens ein. Diese breitet er in Abgrenzung zur herkömmlichen scholastischen Denktradition anhand Luthers dynamischer theologia crucis aus. Die zweite Bedingung, die der utopischen Finalität, „rückt das telos des Lernens zeitlich außerhalb menschlicher Erreichbarkeit“ (314). Zudem müsse der Christ lebenslang lernen, um den Makel der Erbsünde abzustreifen; ein Ziel, dessen Endpunkt außerhalb seiner selbst sei, denn die Gerechtigkeit komme ausschließlich von Gott (vgl. 299, 305, 309). Diese exzentrische Vorstellung erklärt Ledl zur notwendigen dritten Bedingung eines permanenten Lernprozesses (vgl. 299). Nach seinen Ausführungen zur Kreuzestheologie unterstreicht der Verfasser im zweiten Teilkapitel in Auseinandersetzung mit Luthers Tauftheologie, dass die Forderung lebenslangen Lernens dem Brennpunkt reformatorischer Theologie entspringe (vgl. 8), da der Zeitraum, der das lebenslange Lernen umschließe, notwendigerweise von der Kindertaufe bis ins Grab oder vielmehr zur Auferstehung andauere (vgl. 324).
Insgesamt leistet Ledl eine durchweg engagierte und in erkenntnis- sowie wissenschaftstheoretischer Hinsicht aufschlussreiche Darstellung des Konzepts lebenslangen Lernens in Luthers Theologie und wird seinem Anspruch, „auf dem Gebiet der Historiographie des lebenslangen Lernen ein monographisches Desiderat, ein methodischer Neubeginn und somit eine Alternative zu bisherigen Unternehmungen“ (52) zu sein, vollends gerecht. Die Untersuchung überzeugt durch begriffliche Klarheit und fundierte Quellenangaben, die deutlich werden lassen, dass der Begriff des lebenslangen Lernens keine Neuschöpfung des 20. Jahrhunderts ist, sondern dieser seinen Ursprung mindest 400 Jahre früher hat, als bisher angenommen (vgl. 51). Wichtig ist das Buch für all diejenigen, die nicht an der Oberfläche der Bildungs- und Erziehungsvorstellungen des Reformators verharren möchten, sondern seine Pädagogik als Teil seiner Theologie zu begreifen suchen.
[1] Vgl. dazu die Luther-Bibliographien der Jahre 2003-2006 sowie Carstens, Lars Oliver: Luther als Pädagoge. Studien zur Relevanz pädagogischer Grundgedanken Martin Luthers in einer wertunsicheren Welt. Aachen 1999; Mahrenholz, Jürgen Christian: Bürgerrecht auf Bildung. Luther auf schulpolitischem Kurs. Hannover 1997; Schluss, Henning: Martin Luther und die Pädagogik – Versuch einer Rekonstruktion. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 76. 2000, S. 321-353.
[2] Ledl bezieht sich hierbei auf Sander-Gaiser 1996, Futh 1994, Harran 1985, Prange 1989 sowie Strauss 1978. Vgl. das Literaturverzeichnis (S. 380-393).
EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)
Eine Theologie des lebenslangen Lernens
Studien zum pädagogischen Epochenwandel bei Luther
MĂĽnster: Lit 2006
(393 S.; ISBN 3-8258-9512-2; 36,90 EUR)
Alexandra Zippel (Duisburg-Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexandra Zippel: Rezension von: Ledl, Andreas: Eine Theologie des lebenslangen Lernens, Studien zum pädagogischen Epochenwandel bei Luther. MĂĽnster: Lit Verlag 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82589512.html
Alexandra Zippel: Rezension von: Ledl, Andreas: Eine Theologie des lebenslangen Lernens, Studien zum pädagogischen Epochenwandel bei Luther. MĂĽnster: Lit Verlag 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82589512.html