EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)

Birgit Braun
Umerziehung in der amerikanischen Zone
Die Schul- und Bildungspolitik in WĂŒrttemberg-Baden von 1945 bis 1949
MĂŒnster: Lit (Reihe Geschichte; Bd. 55) 2004
(202 S.; ISBN 3-8258-7815-5; 24,90 EUR)
Umerziehung in der amerikanischen Zone Die unlĂ€ngst begangenen Feierlichkeiten zu verschiedenen Jahrestagen – von der Landung der Alliierten in der Normandie bis zum Kriegsende am 8. Mai – waren Anlass einer VergegenwĂ€rtigung der Zeitgeschichte, die in mancher Hinsicht neue Elemente besaß. So fachte die mediale Aufmerksamkeit in den bundesdeutschen Medien, insbesondere im Fernsehen, die Diskussion ĂŒber die – vermeintlichen – Leiden der deutschen Bevölkerung durch den Krieg an, neu auch, dass bei den offiziellen Festakten zum 6. Juni und zum 8. Mai, anders als noch 1994/95, die Bundesrepublik in Person des Bundeskanzlers eingeladen war. VergegenwĂ€rtigung der Geschichte ist – fast eine Binsenweisheit – selber geschichtlichen Wandlungen unterworfen.

Die Jahrestage, um die es sich in dem Buch von Birgit Braun „Umerziehung in der amerikanischen Zone“ handelt, werden kaum eine solche öffentliche Aufmerksamkeit finden, auch wenn sie nun in den nĂ€chsten Jahren anstehen. In ihrer Untersuchung geht es um die Bestrebungen der amerikanischen MilitĂ€rregierung in Deutschland von 1945 bis 1949, antidemokratische Haltungen und Nazismus nach der militĂ€rischen Niederwerfung durch kultur- und bildungspolitische Maßnahmen zu bekĂ€mpfen. ErklĂ€rtes Ziel der Arbeit von Braun ist es, „zu untersuchen, wie erfolgreich die Maßnahmen der MilitĂ€rregierung im Bereich des Schul- und Bildungswesens“ waren (9). Indikatoren fĂŒr den Erfolg seien dabei „strukturverĂ€ndernde Maßnahmen“, welche die traditionelle soziale Segregation des deutschen Schulsystems insbesondere durch Lernmittelfreiheit und die EinfĂŒhrung einer Einheitsschule durchbrechen sollten (ebd.).

Nun gab es bereits in den 70er Jahren Untersuchungen zur amerikanischen Reeducation, die, so fĂŒhrt Braun aus, „zu dem Schluß [kommen], daß die amerikanischen ReformbemĂŒhungen [...] scheiterten. Entsprechend dem zeittypischen Interpretationsansatz, [...] verfestigten sich die in ihren Augen vorherrschenden restaurativen Strukturen geradezu zwangslĂ€ufig, da zu Beginn der Besatzungszeit kein ausgereiftes amerikanisches reeducation-Konzept vorlag“ (ebd., Hervorh. MW). Genannt werden neben der Pionier-Studie von Karl-Ernst Bungenstab: Wolfgang Klafki, Hans-Joachim Thron, Otto Schlander und Jutta B. Lange-Quassoswki.

Legitimation ihrer eigenen, 2003 fertig gestellten Arbeit – abgesehen davon, dass die neuerliche Durchsicht Ă€lterer Fragestellungen nie verkehrt ist – ist der einleuchtende methodische Ansatz, mit dem im September 1945 gegrĂŒndeten WĂŒrttemberg-Baden ein Land zu untersuchen, in welchem die amerikanischen Reformbestrebungen seitens der deutschen Kultusbehörden auf deutlich höhere Reformbereitschaft stießen als etwa in Bayern, wo die amerikanischen BemĂŒhungen bekanntlich auf starken Widerstand der konservativen und kirchlichen Kreise stießen und der Schulkampf gewissermaßen exemplarisch ausgefochten wurde.

In ihrem ersten Kapitel geht Birgit Braun nun auf das Konzept der Reeducation ein. Die deutsche Wiedergabe „Umerziehung“ ist dabei etwas unglĂŒcklich. Braun benennt dies selbst unter Hinweis auf eine zu starke Betonung des Erziehungselements (17), was allerdings nicht den Kern trifft, denn „Umerziehung“ hat im Deutschen stets eine negative Konnotation (etwa GehirnwĂ€sche, Umerziehungslager), wogegen es ja um die dauerhafte „Verankerung von Demokratie in der Gesellschaft ging“ (ebd.). Es ist daher nicht verstĂ€ndlich, wie der Ausdruck dann doch Eingang in den Titel des Buches gefunden hat. Das Konzept selbst hat verschiedene VerĂ€nderungen erfahren. Nachdem zunĂ€chst mit der bekannten Direktive JCS 1067 („The German people must be made to understand that all necessary steps will be taken to guarantee against a third attempt by them to conquer the world.“) keine Festlegungen fĂŒr das Erziehungswesen getroffen wurden, wurde dieser Mangel der MilitĂ€rregierung nach Kriegsende deutlich. Grundlage der konkreten Maßnahmen wurde der im Oktober 1946 veröffentlichte Bericht der “Zook-Kommission“, die unter Leitung des PrĂ€sidenten des American Council of Education, George F. Zook, nach einer Studienfahrt durch Schulen in der amerikanischen Zone die soziale Segregation durch das Schulsystem und den in den Schulen nach wie vor herrschenden Untertanengeist erkannte. Unter AnknĂŒpfung an die Tradition der deutschen Klassik wurden daraus Forderungen nach einer Demokratisierung der Schule, nach einer Einheitsschule, nach Schulgeldfreiheit und nach einer Akademisierung der Volksschullehrerausbildung abgeleitet. Forderungen, welche die MilitĂ€rregierung zunĂ€chst mit Nachdruck verfolgte, aber bekanntlich im Zuge des anbrechenden Ost-West-Konfliktes ab 1948 zunehmend zugunsten einer Überantwortung des Schulwesens an deutsche Institutionen aufgab.

Das kurze zweite Kapitel behandelt die MilitĂ€rregierung in WĂŒrttemberg-Baden, insbesondere die bildungspolitischen Abteilungen. Nach der GrĂŒndung des Landes WĂŒrttemberg-Baden und dem Aufbau einer funktionierenden Verwaltung bis Dezember 1945 wurde innerhalb der MilitĂ€rregierung die „Education and Religious Affairs Division“ eingerichtet, welche sich, anfangs personell „stark unterbesetzt“ (50), nicht nur um Schule, sondern auch um Religion, Sport, Jugendarbeit, öffentliche BĂŒchereien und auch um die Entfernung nationalsozialistischer DenkmĂ€ler u.a.m. zu kĂŒmmern hatte.

Im dritten Kapitel geht es um den Schulbetrieb in dem neuen Land, insbesondere um die Wiedereröffnung der Schulen bis Oktober 1945, wobei „angesichts der damaligen Schwierigkeiten von einer grundsĂ€tzlichen Schulreform“ (56) abgesehen wurde, wiewohl der Landesdirektor und spĂ€tere „Kultminister“ Theodor BĂ€uerle, der bereits in der Weimarer Zeit in der Volksbildung engagiert war, der Einheitsschule aufgeschlossen gegenĂŒber stand. Des Weiteren geht es um die Entnazifizierung der LehrkrĂ€fte und die damit verbundene VerschĂ€rfung des Lehrermangels. Bereits in den ersten, noch im Dezember 1944 formulierten Anweisungen der MilitĂ€rregierung hieß es u.a.: „Schools will be reopened only when the Supreme Commander is satisfied that they have been freed from Nazism and militarism, that all undesireable teachers have been eliminated [...]“ (58). Die Einteilung nach drei Kategorien (Kriegsverbrecher und FunktionĂ€re, VerdĂ€chtige, politisch VertrauenswĂŒrdige) fĂŒhrte zunĂ€chst zu einem LehrkrĂ€ftemangel, was aber in Kauf genommen werden sollte. Seitens deutscher Stellen wurde aber damit argumentiert, dass viele der Parteigenossen nicht aus Überzeugung, sondern nur „angesichts des gewaltigen Drucks“ (62), so der damalige Kultminister und spĂ€tere BundesprĂ€sident Theodor Heuss, dabei gewesen seien – eine erste Variante des ZurĂŒckweisens der deutschen Verantwortung. Leider geben die von Braun angegebenen Zahlenbeispiele keinen guten Überblick; am besten ist noch das Beispiel Stuttgart, wo von insgesamt 1411 Stammlehrern (Stand 1939) im Jahr 1946 noch 246 im Amt waren. Von den Entlassenen jedoch wurden nach dem Ende der Spruchkammerverfahren etliche wieder eingestellt. Weitere Themen sind die Lehrerfortbildung – ein Punkt, der vielleicht eher in das Folgekapitel gepasst hĂ€tte – und die Frage der Stellung der Kirchen im Schulunterricht („Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschule“).

Kern von Brauns Untersuchung sind die amerikanischen Reformbestrebungen, die sie unterteilt in „innere“ (Kapitel 4) und „Àußere“ (Kapitel 5). Mit jenen sind die Inhalte des Unterrichts gemeint: Genannt werden SchulbĂŒcher, die einer Durchsicht auf nazistische Inhalte bedurften, und – natĂŒrlich – die LehrplĂ€ne, die allerdings nur exemplarisch anhand des neu einzufĂŒhrenden Faches „social studies“, VorgĂ€nger der heutigen Gemeinschaftskunde, untersucht werden. Obgleich „social studies“ als demokratisches Prinzip den gesamten Unterricht durchziehen sollte, ist die BeschrĂ€nkung des Buches auf dieses Fach bedauerlich, zumindest einige allgemeine Informationen ĂŒber Lehrplanrevisionen wĂ€ren wĂŒnschenswert gewesen. In beiden Punkten jedenfalls ist die Umsetzung der Reformbestrebungen den deutschen Institutionen gegenĂŒber eher zĂ€h, sei es bei der erbitterten Ablehnung eines Geschichtslehrbuchs von Franz Mehring durch die katholische Kirche (109), sei es die verzögerte EinfĂŒhrung von Gemeinschaftskunde als eigenstĂ€ndigem Fach 1950/51 (123).

Die Ă€ußere Reform zielte auf ein Einheitsschulsystem nach amerikanischem Vorbild, was bei Kultminister Theodor BĂ€uerle auf Zustimmung stieß. Gleichwohl, Ludwig v. Friedeburg sprach bekanntlich vom „versĂ€umten Neuanfang“, gelingt gegen den Widerstand einer bĂŒrgerlichen Landtagsmehrheit und die Eltern- und Lehrerschaft der höheren Schulen keine Strukturreform. Die Schulgeldfreiheit wird schließlich erst im Laufe der 50er Jahre durch den sozialdemokratischen Kultusminister Schenkel durchgesetzt. Die Reformgegner verwiesen gerne darauf, dass eine Demokratisierung nicht von oben, also von der MilitĂ€rregierung befohlen werden könnte, ein Dilemma der amerikanischen Befreier. DarĂŒber hinaus finden sich zahlreiche StilblĂŒten der fĂŒr derartige Auseinandersetzungen um das deutsche Bildungswesen typischen Art, so etwa die Erzdiözese Rottenburg: „‘[...] je einheitlicher die Schule aufgebaut ist, um so mehr wird ein halbgebildetes Proletariat und ein ausgebildetes stellenloses Akademikertum heranwachsen, das [...] eine Haltung schafft, die eben noch [...] zum Nazismus, und jetzt zum deutschen undemokratischen Nazismus fĂŒhren wird‘“ (139). Dieses Kapitel lohnt vor dem Hintergrund der gegenwĂ€rtigen Debatten um Schule und Bildung die LektĂŒre.

Ein sechstes Kapitel behandelt in weit geringerem Umfang die Neuorganisation der Erwachsenenbildung in WĂŒrttemberg-Baden. Einerseits schĂ€rft dieser Themenwechsel den Blick fĂŒr die Entwicklung der Schule, weil es spezifische Analogien, aber auch Abweichungen gibt – zu letzteren zĂ€hlt etwa die ökonomische AbhĂ€ngigkeit der Volkshochschulen von KursgebĂŒhren, was nach der WĂ€hrungsreform oft zu einer Umstellung des Angebotes weg von kulturell-politischen hin zu berufsbezogen Kursen fĂŒhrte. Andererseits wird der Sinn dieses Kapitels nicht deutlich, da die Maßnahmen der Amerikaner auf anderen Gebieten ambitionierter und wirksamer gewesen sein dĂŒrften als im Volkshochschulbereich. Hier ist beispielsweise an den von Braun in zwei SĂ€tzen erwĂ€hnten Bereich der Kulturpolitik (Presse, Amerika-HĂ€user usw.) zu denken. UnerwĂ€hnt bleiben die Bestrebungen im Bereich der Jugendarbeit, die gerade in GroßstĂ€dten wie z.B. Mannheim nachhaltige Wirkungen zeitigten.

Im resĂŒmierenden Schlusskapitel kommt die Autorin endlich zu durchaus Ă€hnlichen Ergebnissen wie die eingangs genannten Studien. ‚Reeducation’ scheiterte bezĂŒglich der gesetzten Ziele, nichtsdestoweniger haben sich nach 1949 Elemente der angestrebten Reform allmĂ€hlich durchgesetzt: Lernmittelfreiheit, Gemeinschaftskunde, SchĂŒlermitverwaltung, Akademisierung der Volksschullehrerausbildung.

Das Buch ist das Produkt eines sorgfĂ€ltigen Archivstudiums. Man erhĂ€lt einen Blick in die Details der Regional- und Institutionengeschichte der ersten Nachkriegsjahre, der in dieser Form neu ist. Trotzdem lĂ€sst einen die LektĂŒre des Buches unbefriedigt zurĂŒck. Dies mag zu Teilen an den Ergebnissen liegen, die systematisch betrachtet nicht neu sind: Die ReeducationbemĂŒhungen werden zerrieben zwischen den ihr entgegengesetzten Interessen der deutschen Schulpolitik und dem Aufkommen des Ost-West-Konfliktes. DafĂŒr ist die Autorin natĂŒrlich nicht verantwortlich, wenngleich man nach ihrer anfĂ€nglichen Kritik an der Zeittypik der Studien aus den 70er Jahren vielleicht mehr erwartet hĂ€tte. Etwas unglĂŒcklich, wie erwĂ€hnt, der Titel des Buches, wie im Übrigen auch das Umschlagbild, ein Foto, das Unterricht in einem provisorisch hergerichteten Klassenzimmer zeigt: von Reeducation nichts zu sehen.

Unbefriedigend ist zudem etwas, was man vielleicht als zeittypisch fĂŒr die aktuelle VergegenwĂ€rtigung der NS-Zeit beobachten kann, nĂ€mlich, pointiert gesagt, das Verschwinden der Zeitgeschichte in den Quellen. Sicherlich leben wir gerade in einer Zeit, in der das Geschehen vom sozialen in das kulturelle GedĂ€chtnis ĂŒbergeht (J. Assmann, H. Welzer). HierfĂŒr sind die genannten Gedenkveranstaltungen zentral, die wissenschaftliche Auseinandersetzung aber natĂŒrlich auch, und beide werden die Grundlage der zukĂŒnftigen Auseinandersetzung sein. Hieraus ergeben sich drei Aspekte, welche den unbefriedigenden Eindruck hervorrufen. Zum einen ist es – in Nuancen – die Sprache des Buches, angefangen bei der Übertitelung mit „Umerziehung“ ĂŒber die Verwendung eines Ausdrucks wie „SĂ€uberung“ der SchulbĂŒcher von nazistischen Inhalten – „SĂ€uberung“ ist eher selbst ein nazistischer Ausdruck – bis zur Herstellung einer sprachlichen Distanz gegenĂŒber zeitgenössischen Standpunkten, wo man sich mehr Quellenkritik bzw. Mut zum eigenen Argument wĂŒnschen wĂŒrde (etwa Kapitel 5.1.2, „Reaktionen auf die ReformplĂ€ne“). Möglicherweise geht zwischenzeitlich auch wissenschaftlichen Untersuchungen eine frĂŒher vielleicht zeittypische, besondere SensibilitĂ€t gegenĂŒber der NS-Zeit verloren.

Zum zweiten wĂ€re vielleicht gegenĂŒber den bereits vorliegenden Studien eine Erweiterung der Frage und, damit verbunden, eine Erweiterung der Methodik zu ĂŒberlegen gewesen: Als Indikator fĂŒr den Erfolg der Reeducation ließe sich nach den tatsĂ€chlichen Wirkungen, sprich, der Demokratisierung der Schule fragen. Dazu wĂ€re zu einem Zeitpunkt, an dem mit den heute 75-jĂ€hrigen Menschen das soziale GedĂ€chtnis dieser Zeit noch vorhanden ist, eine wenn auch aufwĂ€ndigere und eher sozialwissenschaftliche Methodik, die Zeitzeugeninterviews mit einschließt, wĂŒnschenswert gewesen. Als drittes ist schließlich zu sagen, dass das Thema selbst, die Gestaltung eines demokratischen Bildungswesens, sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Bundesrepublik zieht und die Themen gerade jĂŒngst wieder aktuell sind. Sie sind nicht, wie das Buch – vielleicht gegen die Intention der Autorin – nahe legt, eine abgeschlossene, ausschließlich durch Archive zugĂ€ngliche Phase, sondern ungeklĂ€rter denn je; und wer will, mag dies bedauern. Diese Unabgeschlossenheit dĂŒrfte aber auch der Grund sein, weswegen der Jahrestage der Reeducation kaum feierlich gedacht werden dĂŒrfte.

Martin Wetz (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Wetz: Rezension von: Braun, Birgit: Umerziehung in der amerikanischen Zone, Die Schul- und Bildungspolitik in WĂŒrttemberg-Baden von 1945 bis 1949, MĂŒnster: Lit (Reihe Geschichte; Bd. 55) 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82587815.html