Die Geschichte der sächsischen Volksschule ist eng mit dem Namen Richard Seyferts verbunden. Über 50 Jahre hinweg, von 1881 bis 1931, wirkte Seyfert als Volksschullehrer, Bildungspolitiker, Lehrerbildner, Publizist und Hochschulprofessor beharrlich für eine Reform des Schulwesens. Im Unterschied zu Georg Kerschensteiner oder Hugo Gaudig lässt sich Seyfert jedoch nur schwer in der deutschen Erziehungsgeschichtsschreibung verankern. Ebenso wie seine gelegentliche Erwähnung als Arbeitsschulpädagoge die enorme Bandbreite seines Schaffens auf ein zu schmales Feld reduziert, verleugnet das Totschweigen seines Gedankengutes infolge vermuteter publizistischer Fehltritte in der Zeit des Nationalsozialismus den Anregungswert seiner Ideen für die heutige pädagogische Diskussion.
Somit betritt Helga Keppeler-Schrimpf mit ihrer Untersuchung ein spannendes, weil mit Lücken behaftetes und umstrittenes Terrain. Mit Gewinn wird der an Fragen der Arbeits- und Volksschule Interessierte die sehr gründliche ideengeschichtliche Aufarbeitung von vielen Facetten der volkstümlichen Bildungstheorie Seyferts lesen. Anerkennung verdient auch die geschickt verwobene Darstellung des biografischen Werdegangs des Protagonisten vor dem Hintergrund politischer, ökonomischer sowie sozialer Umbrüche von der Kaiserzeit über die Weimarer Jahre bis zur Zeit des Nationalsozialismus. Aus diesem Gefüge personengebundener und gesellschaftlich geprägter Einflussfaktoren heraus sucht Keppeler-Schrimpf ein ausgewogenes Bild des Volksschulpädagogen Richard Seyfert und der Genese seiner Bildungstheorie zu zeichnen.
Worum geht es Keppeler-Schrimpf in dieser Arbeit? Erstens will sie das breite Spektrum des Ideenkonstruktes von Seyferts volkstümlicher Bildung aufzeigen. Zweitens fragt sie nach Seyferts geistigen Wurzeln und inwiefern er eine Aufhebung traditionellen und damals zeitgemäßen pädagogischen Gedankengutes zu leisten vermochte. Damit in Zusammenhang steht der Versuch, Motive, Umsetzungschancen sowie Bleibendes für damals und heute hinsichtlich seines Schaffens herauszuarbeiten. Drittens fordern die in Seyferts Begrifflichkeit auffindbaren Widersprüche, Mehrfachdeutungen, Idealisierungen bzw. Einseitigkeiten eine kritische Auseinandersetzung mit Aussagegehalt und -wirkung seiner Ideen geradezu heraus. Und viertens geht es nicht zuletzt um eine Frage, die sich eigenartigerweise bei kaum einem Zeitgenossen Seyferts mit so deutlichen Konsequenzen einer weitestgehenden Verbannung aus der pädagogischen Geschichtsschreibung gestellt hat: Ist das zweifellos progressive Ideengut eines Reformpädagogen in dem Moment, in welchem selbiger als Person in der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft Fehler macht, plötzlich schlecht? Somit vermag Keppeler-Schrimpfs Band nicht nur Substanzielles zum Thema, sondern auch Impulse für die (pädagogische) Historiografie zu bieten.
Welche Eckpfeiler stützen Seyferts Gedankengebäude der volkstümlichen Bildung? Über 40 Jahre ‚feilte’ er an dieser Idee. Dabei hatte Seyfert insofern ein unruhiges Leben, als die sich ständig verändernden politischen Konstellationen sowie seine wechselnden beruflichen Aufgaben und Einflussmöglichkeiten ihn fortlaufend zu erneuten und kritischen Auseinandersetzungen mit den strukturellen, inhaltlichen und methodischen Unzulänglichkeiten im Volksschulwesen und ursächlich in der Volksschullehrerausbildung anregten. Seyfert suchte der deutschen Volksschule mit der volkstümlichen Bildung eine eigene theoretische Grundlage sowie einen eigenständigen Bildungsauftrag zu geben. Volkstümliche und wissenschaftliche Bildung verstand er als gleichwertige, aber graduell verschiedene Stufen im Bildungsprozess. Passend dazu entwarf er ein vertikal differenziertes und durchlässiges (Einheits-)Schulsystem. Dieses hatte die allgemeine Volksschule in Gestalt einer Simultanschule als Ausgangspunkt und enthielt Optionen für eine berufliche sowie wissenschaftliche Bildung. Chancengerechtigkeit und soziale Emanzipation gaben hier für ihn die zentralen Motive ab. Aber auch der Gedanke der geistigen und emotionalen Einheit des deutschen Volkes spielte bei Seyfert eine herausragende Rolle, hegte er doch einen sozialintegrativen Wunschtraum. Mit dem Volkstum, gemeint als ein allen gemeinsames Kulturgut, als eine allen innenwohnende Denk- und Lebensweise, glaubte er, der Volksschule inhaltlich ein vollwertiges und tragfähiges Bildungsgut geben zu können. Lebenstüchtigkeit des Einzelnen, geistige wie politische Mündigkeiten charakterisierten sein Ideal einer „durchgeistigten Persönlichkeit“.
Den Schulmann Richard Seyfert zeichnete aus, dass diese Ambitionen zur Anhebung des Bildungsniveaus breiter Volksmassen über bildungs- und sozialpolitische Überlegungen hinaus Reforminitiativen im curricularen und didaktisch-methodischen Arbeitsfeld von Schule implizierten. Mit der Arbeitskunde suchte er menschliche Kulturarbeit zu einem wesentlichen Leitfaden des Lehrplans werden zu lassen. Damit entwarf er das Bild eines lebensnahen, in weiten Teilen themenzentrierten, exemplarischen, aber fachwissenschaftlich korrekten Unterrichts. Methodisch prägte Seyfert als Arbeitsschulpädagoge den Terminus des schaffenden Lernens. Dabei favorisierte er selbsttätige, geistig aktive und möglichst handlungsorientierte Lernprozesse. Neben fundierten fachlichen sollten vor allem psychologische Kenntnisse und eine geschulte Beobachtungstätigkeit den Lehrer zum Arrangement alters- und adressatengerechter Lernvorgänge befähigen.
Helga Keppeler-Schrimpf arbeitet mit viel Gespür für das Detail Seyferts Gedankenreichtum im Kontext der volkstümlichen Bildung umfassend auf. Angesichts einer Fülle an Quellen, Begriffen, Ereignissen, Argumentationslinen und interpretatorischen Auswirkungen, die aus Seyferts reichem Publikationsschatz schöpfbar sind, bewährt sich das disziplinierte und systematische Vorgehen der Autorin. Ausgehend von die Arbeit tragenden Termini und der Lebensgeschichte der Hauptperson führen gut strukturierte Kapitel mit klaren Zielstellungen, übersichtlich gegliederten, problemorientierten Darlegungen und Zusammenfassungen den Leser sukzessive in einzelne Dimensionen volkstümlicher Bildung Seyfertscher Lesart. Wie von ihr im Abschnitt zur methodischen Reflexion begründet, nutzt Keppeler-Schrimpf in nicht unerheblichem Maße die Sprache der Quellen, um ausgewählte Aspekte zu diskutieren. Auf der Basis dieser Authentizität wird es der Autorin möglich, Verknüpfungen zu traditionellen und zeitgenössischen analogen Gedanken herzustellen und in einer gründlichen Analyse Übernommenes, Fortschrittliches, Widersprüchliches oder Unzulängliches, aber auch für das Heute Aufgreifbares in Seyferts Ansichten aufzuspüren.
Gerade diese den Leser manchmal anstrengende beharrliche Arbeit Keppeler-Schrimpfs mit Seyferts originaler Sprache macht es möglich, ihn in der pädagogischen Wissenschaft zu verorten. Nur so kann sie seine Ansichten einschließlich der für Seyfert typischen Pauschalisierungen, Polarisierungen und die Komplexität und das Konfliktpotential der Realität vernachlässigenden Überhöhungen nachvollziehbar aufzeigen. Trotz dieser substanziellen Fülle bleiben Übersicht und Zusammenschau zur Ausformung von Seyferts Kerngedanken für den Leser erhalten. Neben einem zielgerichteten Resümieren gelingt dies der Autorin durch eine Reihe selbst erarbeiteter Schemata. Ebenso unterstützend wirken die Übersicht zu den Termini ‚Volkstümlichkeit’ und ‚volkstümlich’ sowie die Aufstellungen zu biografischen und geschichtlichen Daten im Anhang.
Soll über den Anregungswert Seyfertscher Ideen für den aktuellen pädagogischen Innovationsbedarf reflektiert werden, so muss nach Keppeler-Schrimpfs Ansicht der Versuch, Seyferts Randständigkeit abzuklären, auch immer wieder neu gewagt werden. Seyfert erreichte mit seinem mustergültigen sozialen Aufstieg aus kleinbürgerlichen Verhältnissen bis hin zum sächsischen Kultusminister und Hochschulprofessor wohl nie ganz die vorbehaltlose Akzeptanz unter Wissenschaftlern und Politikern. Aus deren Sicht agierte er mit seiner Volksschulpädagogik noch dazu auf einem Nebenschauplatz. Auch sein unbestrittenes Verdienst, nach langem, zähem Kampf die deutschlandweit erste akademische Volksschullehrerausbildung in Dresden unter Einführung sehr innovativer und reformpädagogisch orientierter Studienelemente etabliert zu haben, brachte ihm weltweit wesentlich mehr Ruhm ein als im eigenen Land – zumal seine „Rettungsversuche“ für dieses Lebenswerk unter dem Hakenkreuz zu viel Interpretationsspielraum zuließen.
Deshalb macht der Versuch von Keppeler-Schrimpf, Seyferts Verhalten in der nationalsozialistischen Zeit zu hinterfragen, nicht unwesentlich den Wert dieser Publikation aus. Zwei Aspekte verfolgt die Autorin: Einerseits geht es darum auszuleuchten, inwiefern sich Seyferts begriffliches Instrumentarium förmlich für die nationalsozialistische Propaganda anbot. Andererseits ist nach den in der Person Seyferts liegenden Ursachen und Motiven für seine publizistische Anbiederung an das Hitler-Regime zu fragen.
Dazu stellt Keppeler-Schrimpf drei Thesen auf, die Seyferts Verhalten mit Anpassung angesichts existenzieller Bedrohung, mit Taktieren für den Fortbestand von Aktivitäts- und Einflusspotential und mit bewusster Doppeldeutigkeit zum Offenhalten mehrerer Optionen zu erklären versuchen. Davon ausgehend spannt sie den Bogen über eine präzise Arbeit an den Quellen einschließlich einer Analyse von Syntax und Semantik bis hin zum Aufzeigen von historischen Tatsachen, gedanklichen Entwicklungslinien und Zusammenhängen. Ohne auf einen Erklärungsansatz zu insistieren, gelingt es Keppeler-Schrimpf überzeugend aufzuzeigen, dass Seyfert keinesfalls im pädagogischen und politischen Gedankengut der Nationalsozialisten verankert war. Seinen Aussagen fehlte in Vokabular und Gehalt jeder Bezug zu Chauvisnismus, Rassismus, Antisemitismus oder politischer Indoktrination. Mit dem ihm eigenen relativ naiven Glauben an das Gute konnte er jedoch der Versuchung nicht widerstehen, Elemente seines gedanklichen Gebäudes der volkstümlichen Bildung begrifflich und inhaltlich in den Maximen der Nationalsozialisten wiederzuentdecken.
In vielen Passagen führt Keppeler-Schrimpf dem Leser jeweils vor Augen, welche Nachwirkungen Seyferts Gedankenreichtum auf heutige Bildungsdiskussionen hat. Dies reicht von der Verankerung des Religionsunterrichts im Grundgesetz über die akademische und berufsfeldorientierte Lehrerausbildung, die Balance zwischen fachbezogenem und fächerverbindendem Unterricht, eine aktiv-entdeckende und offene Lernkultur bis hin zum Dauerthema Vielfalt bei Wahrung der Einheitlichkeit im Schulsystem. Obwohl sich in der (Bildungs-)Geschichte keine Fragestellung schlichtweg wiederholt, kann Helga Keppeler-Schrimpfs Arbeit auch im Interesse heutiger Problembewältigung als ein Plädoyer für ein kritisches und tiefgründiges Hinterfragen von Personen- und Sozialgeschichte und wider das Vergessen sehr empfohlen werden.
EWR 5 (2006), Nr. 2 (März/April 2006)
Bildung ist nur möglich auf der Grundlage des Volkstums
Eine Untersuchung zu Richard Seyferts volkstümlicher Bildungstheorie als volksschuleigene Bildungskonzeption (Pädagogik und Zeitschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge, Bd. 5)
Münster: LIT-Verlag 2005
(408 S.; ISBN 3-8258-6537-1; 40,90 EUR)
Jutta Frotscher (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jutta Frotscher: Rezension von: Keppeler-Schrimpf, Helga: Bildung ist nur möglich auf der Grundlage des Volkstums, Eine Untersuchung zu Richard Seyferts volkstümlicher Bildungstheorie als volksschuleigene Bildungskonzeption (Pädagogik und Zeitschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge, Bd. 5). Münster: LIT-Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82586537.html
Jutta Frotscher: Rezension von: Keppeler-Schrimpf, Helga: Bildung ist nur möglich auf der Grundlage des Volkstums, Eine Untersuchung zu Richard Seyferts volkstümlicher Bildungstheorie als volksschuleigene Bildungskonzeption (Pädagogik und Zeitschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge, Bd. 5). Münster: LIT-Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82586537.html