Seit den TIMS-Videostudien und den IPN-Videostudien expandiert der Bereich videogestützter Unterrichtsforschung, zumindest in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Vermehrt werden Videostudien in der schulpädagogischen und fachdidaktischen Lehre eingesetzt, es entstehen vielerorts Kasuistik-Archive. In Veranstaltungen zur Lehrerbildung arbeiten Studierende mit videographierten und transkribierten Fallbeispielen aus der Schulpraxis und lernen quantitative und qualitative Methoden zur Analyse von Unterricht kennen. ‚Forschendes Lernen’ und ‚hermeneutische Fallrekonstruktionen’ sind die primären Stichwörter für qualitative Methoden in der Lehrer/innenbildung.
In diesen Kontext gehört das Buch des Arbeitskreises Interpretationswerkstatt PH Freiburg, das ‚anders’ ist als bisherige Veröffentlichungen zur Arbeit mit Fallstudien: Der seit fünf Jahren bestehende Arbeitskreis entstand aus einer Lehrveranstaltung über qualitative Forschungsmethoden. Zu Beginn des Buches stellt sich die Interpretationswerkstatt vor. Die Mitglieder kommen aus verschiedenen Fachdidaktiken und Statusgruppen der PH. Sie eint das Interesse am qualitativen Forschen und am forschenden Studieren. Ihre "Verschiedenheit" verstehen sie als "Herausforderung".
Der erste Beitrag ist ein "Mitschnitt aus der Interpretationswerkstatt" (Gramespacher/Kuhn/Meister). Die qualitativen Methoden werden auf die eigenen Interpretationen im Arbeitskreis selbst angewendet. Es wird verdeutlicht, dass fachdidaktische, methodische und pädagogische Theoriebezüge beim Interpretieren aktualisiert werden und wie sie konstruktiv aufeinander zu beziehen sind. Die Interdisziplinarität in der Gruppe bereichert die Diskussionen. Fragen tauchen auf, die im eigenen fachdidaktischen Diskurs noch nicht gestellt oder zumindest noch nicht wahrgenommen wurden. Die Werkstatt präsentiert sich mit ihren besonderen Bedingungen, auch mit persönlichen Reflexionen der Teilnehmenden. Ganz im Sinne des qualitativen Arbeitens werden am Besonderen Hypothesen über das Allgemeine entwickelt und zur Diskussion gestellt. Die Vorstellung der Werkstatt motiviert zum Nachahmen.
Doch sind die Buchbeiträge auch für ‚normale’ Lehrveranstaltungen interessant. Sie bieten Anregungen und Hilfestellungen für Studierende und Lehrende, die in einem Seminar gemeinsam Fallbeispiele aus verschiedenen Kontexten mit qualitativen Methoden interpretieren möchten:
Sabine Stein zeigt Möglichkeiten für Studierende auf, im zeitlich begrenzten Rahmen eines Seminars und bei mangelnden Zeitressourcen während des Studiums eigene qualitative Forschungsprojekte durchzuführen. Sie reichen von einem Interview mit einem Schulrat bis hin zu Unterrichtsaufnahmen. Ziel ist, selbstevaluative Fähigkeiten sowie Reflexionen zu berufsrelevanten Fragestellungen zu entfalten. Die Gratwanderung zwischen wissenschaftlicher und alltäglicher Analyse der Fälle wird jeweils pragmatisch entschieden, also bezogen auf den konkreten Fall und das leitende Interpretationsinteresse. "Was auf den ersten Blick unseriös scheint, lehnt an die Widerwärtigkeiten und Paradoxien des schulischen Praxisfeldes an und kann so authentisches und lokales Wissen produzieren" (44). Die Studierenden arbeiten mit selbst erhobenen empirischen Fallbeispielen.
Auf die "Basiskompetenz: Unterricht interpretieren" geht Hans-Werner Kuhn genauer ein. Er präsentiert eine fachdidaktisch motivierte Methode zur Interpretation von sozialwissenschaftlichem Sach- und Politikunterricht, die "politikdidaktische Hermeneutik". Obwohl in diesem Unterrichtsbereich seit über zehn Jahren Forschungen betrieben und für die Lehrerbildung aufbereitet werden, finden sich in vielen Überblicksbeiträgen zur Unterrichtsforschung bislang meist nur Beispiele aus mathematisch-naturwissenschaftlichen oder (fremd-)sprachlichen Fächern. Daher ist dieser Beitrag auch eine Bereicherung für diejenigen, die sich für qualitative Unterrichtsforschung in anderen Fächern interessieren. Kuhn verdeutlicht in seinem Beitrag, dass die "Entwicklung eines fachdidaktischen Blicks" zur Kompetenzentwicklung und somit zur Professionalisierung in der Lehrerbildung gehört. Er gibt ein Beispiel, wie dies in Veranstaltungen realisiert werden kann.
Zwei weitere Beiträge beziehen sich auf Interaktionsstrukturen und doing gender-Prozesse in der Grundschule sowie auf ein "ExpertInneninterview im Kontext von Gender Mainstreaming". Das Geschlecht ist eine nach wie vor wirksame Strukturkategorie, die aber als theoretisches Konstrukt oder eingebettet in feministische Diskussionen Studierende heutzutage kaum noch interessiert. Zudem ist die Gefahr groß, bei der Thematisierung von Mädchen und Jungen in stereotypisierende Zuschreibungen zu verfallen. Der Beitrag von Ruth Michalik zeigt, wie hilfreich und produktiv es sein kann, Gender-Aspekte in Interaktionen von Schülerinnen und Schülern direkt zu beobachten, zu verstehen und zu bewerten. Die präsentierten Fallstudien lassen sich von Studierenden in ähnlicher Form selbst durchführen, denn sie sind weniger aufwändig als beispielsweise ethnographische Studien. Und sie sind gleichwohl erhellend für Prozesse des doing-gender und Fragen zur Entwicklung geschlechterpädagogischer Konzepte. Ähnliches gilt für das ExpertInneninterview von Elke Gramespacher. Am Thema "geschlechtsbezogene Schulentwicklung" wird neben der qualitativen Methode das Konzept Gender Mainstreaming in seiner Bedeutung für Schulentwicklung konkret vorgestellt.
Silke Spitz interpretiert Ausschnitte eines Interviews mit einer Grundschullehrerin. Sie fokussiert dabei deren Rekonstruktionen zu den Professionalisierungsprozessen im Studium. Die entwickelten Hypothesen zur Verknüpfung von Praxis und Theorie in der Lehrerbildung stellt sie in der Interpretationswerkstatt zur Diskussion. Des Weiteren findet sich in dem Sammelband ein Beitrag zu mathematischen Gesprächen mit Grundschüler/innen (Stephanie Schuler), die Nicht-Fachstudierende im Rahmen einer Veranstaltung zum mathematischen Anfangsunterricht führten. Es zeigt sich, dass bei den Studierenden die Bewertungen der Kinder hinterrücks einfließen in die Bewertungen des eigenen Lehrverhaltens. Ute Bender stellt Praxiskonzepte von Studierenden des Lehramts Haushaltslehre vor und Thomas Eckert analysiert die Diagnosekompetenz einer Grundschullehrerin im Hinblick auf orthographische Schreibungen der Schüler/innen. Die qualitativen Arbeiten beziehen sich also auf Themen und Fragestellungen, die immer wieder in Veranstaltungen zur Lehrerbildung auftauchen: Theorie-Praxis-Zusammenhänge, fachfremdes Unterrichten oder Diagnosekompetenzen.
Dies ist kein Buch, das Theoriediskussionen aufarbeitet und systematisiert. Sondern Theorie wird dann diskutiert und reflektiert, wenn die empirischen Dokumente, der gewählte Forschungszugang und das leitende Interesse es erfordern. Dies erfolgt sorgfältig, in allen Schritten transparent und nachvollziehbar. Die Leistungen von Theorie zum Verstehen von Praxis werden deutlich. Alle Beiträge zeigen, wie sich in der ersten Phase der Lehrerbildung die zur (Selbst-)Reflexion von Unterricht wichtigen hermeneutischen Kompetenzen der Studierenden fördern lassen. Viele Beispiele kommen aus dem Bereich der Grundschule, doch sind die dargestellten Erarbeitungs- und Professionalisierungsprozesse auf Lehrerbildung anderer Schulstufen übertragbar.
Das Buch kann Hochschullehrende zur Arbeit mit Fallbeispielen ermuntern. Im doppelten Sinne: für Forschungsprojekte, die für die Lehre relevant werden können und für Lehre, die von eigener qualitativer Forschung bereichert wird. Hilfreich ist es sowohl für diejenigen, die noch keine entsprechenden Lehrerfahrungen haben sowie für diejenigen, die ihre eigenen Lehrerfahrungen mit den Erfahrungen der Mitglieder der Interpretationswerkstatt vergleichen möchten. Letzteres zeigt der Rezensentin: Es gibt Fragestellungen und Interessen der Teilnehmenden, die anscheinend typisch sind für diese Art Lehrveranstaltung. Der Sammelband ist durchweg so anschaulich geschrieben, dass auch Studierende ohne spezifische Vorkenntnisse sich gut in den Bereich der qualitativen Methoden zur Unterrichtsreflexion und -forschung einarbeiten können. Und es kann natürlich zur Gründung einer eigenen Forschungswerkstatt genutzt werden.
Auf dem Umschlag steht "… in der LehrerInnenbildung"; auf Seite 3 beginnt das Buch mit dem Titel "… in der LehrerInnenausbildung". Das provoziert unweigerlich die Frage, was hier vorgestellt wird, Bildung oder Ausbildung. Nun, die präsentierten Hochschulseminare mit ihren reflektierenden Passagen und die in den Texten spürbare Begeisterung der Autor/innen für ihre Arbeiten beantworten eindeutig, dass es um Bildung geht.
EWR 4 (2005), Nr. 2 (März/April 2005)
Studieren und Forschen
Qualitative Methoden in der LehrerInnenbildung
Herbolzheim: Centaurus-Verlag 2004
(231 S.; ISBN 3-8255-0519-7; 20,50 )
Dagmar Richter (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dagmar Richter: Rezension von: Arbeitskreis Interpretationswerkstatt PH Freiburg: Studieren und Forschen, Qualitative Methoden in der LehrerInnenbildung, Centaurus-Verlag: Herbolzheim 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82550519.html
Dagmar Richter: Rezension von: Arbeitskreis Interpretationswerkstatt PH Freiburg: Studieren und Forschen, Qualitative Methoden in der LehrerInnenbildung, Centaurus-Verlag: Herbolzheim 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82550519.html