Anders als die "Zeitschrift für Pädagogik", die Fernerstehenden gegenüber allergrößte Zurückhaltung und Diskretion wahrt, hat sich die DGfE im Jahre 1997 entschlossen, ihre Vorstandsakten der Berliner "Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung" zu übergeben. Das Material war damit für Forscherinnen und Forscher trotzdem noch nicht erschlossen und zugänglich, weshalb man sich entschied, zwei ehemalige Vorstandsmitglieder (Christa Berg u. Hans-Georg Herrlitz) und einen jüngeren Wissenschaftler (Klaus-Peter Horn) mit der Bearbeitung eines ersten historischen Rückblicks zu beauftragen, um damit weitere Forschung anzuregen. Dieser Rückblick liegt nun in Form eines sehr lesenswerten Produkts vor, das übrigens dem von den Herausgebern der "Zeitschrift für Pädagogik" angemahnten Kriterium – "wissenschaftlich seriös, aber dennoch nicht ohne den Unterhaltungswert" zu sein, "den jede kluge Argumentation mit sich führen sollte" (Tenorth/Oelkers 2004, S. 797) – in vollem Umfang entspricht, und dies obwohl oder gerade weil der Titel "Kleine Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft" selbstauferlegte Mäßigung und vornehmes Understatement anzeigen.
Bei ihrer Arbeit orientierten sich die Autoren an den Vorstandsprotokollen und haben "mit seiner Hilfe das weitere Quellenmaterial recherchiert und ausgeweitet" (15). Daraus ergab sich eine Gliederung in neun Kapitel und eine kleine Quellendokumentation. Trotz häufiger namentlicher Nennung der historischen Akteure trägt die disziplingeschichtliche Studie dabei weniger der Eigenart kommunikativer Praxen im wissenschaftlichen Feld als strukturgeschichtlich aufgearbeiteten sozialen Bedingungen der Erziehungswissenschaft Rechnung. Die Autoren zeichnen sich für alle Textpassagen gleichermaßen verantwortlich, obgleich einzelne Abschnitte durchaus spezifischere Zuständigkeiten vermuten lassen. Insgesamt sind Darstellung und Argumentationsgang ausgewogen, ohne je langweilig zu werden.
Die materialreiche "Kleine Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft" zeigt in großen Linien entlang der Aktenlage einen im allgemeinen wachsam geführten Prozess, der im einzelnen folgende Punkte umfasst: personelle Ausweitung (Kapitel 1), fachliche Ausdifferenzierung (Kapitel 2), zunehmende internationale Kontakte (Kapitel 3), deutsch-deutsche Annäherung (Kapitel 4), kommunikativer Austausch zu gemeinsamen Themen (Kapitel 5), forschungsbezogene wie curriculare Festigung und wachsende wissenschaftspolitische Profilierung (Kapitel 6, 7 u. 8). Die damit aufgezeigten Facetten sind nicht überraschend und der Entwicklung anderer Fachgesellschaften ähnlich. Parallel dazu existiert im Falle der DGfE allerdings ein aus der Außenperspektive eher ungewöhnliches Dilemma: Ihre Spezifik als wissenschaftliche Fachgesellschaft scheint die DGfE durch die immer wieder selbstgestellte Frage nach ihrem bildungspolitischen Mandat gewonnen zu haben, die in ihrem Fall über das Problem staatlicher Auftragsforschung weit hinausreicht.
Bezüglich der disziplinären Ausdifferenzierung im Spiegel ihrer Fachgesellschaft erweist sich die Erziehungswissenschaft als späte Disziplin, in der dieser Prozess erst ca. Mitte der 1970er Jahre abgeschlossen war (37-44). Danach scheint eine weitere disziplinäre Ausdifferenzierung innerhalb der DGfE unerwünscht gewesen zu sein (47ff.). Dies war insofern naheliegend, als die Erziehungswissenschaft im Reigen der Wissenschaften damals durchaus immer noch an Kontur hinzugewinnen konnte und sich grundsätzlich, zumindest nach Ansicht des Wissenschaftsforschers Thomas Kuhn, in etablierten Wissenschaften "die Suche nach Neuerungen auf Krisenzeiten beschränkt" (Kuhn 1978/1997, S. 295). Daher signalisierte man so Erfolg und Stabilität. Zudem war auch die von 1996 an unter dem Vorsitz von Dieter Lenzen betriebene Neugliederung der DGfE in 13 übergeordnete Sektionen (51-54) durchaus eine zielgerichtete Maßnahme zum Schutz des Etablierten und mithin zur Festigung und Statussicherung der Disziplin an den Universitäten.
Im Kapitel über die "internationale Vernetzung der DGfE" (55-67), das gezwungenermaßen sehr kurz ausfallen musste, geht es nicht nur um die schwierige Kontaktaufnahme zwischen Ost und West während der Zeit des Kalten Krieges, die meistens erfolglos blieb. Auch die Vernetzung mit dem westlich orientierten Ausland schritt eher langsam voran. "Gesteigertes Engagement" in dieser Hinsicht lässt sich in den Vorstandsakten offenbar erst "ab 1983 und verstärkt ab 1988" (58) beobachten, wobei sich die Aktivitäten vor allem in einzelnen Sektionen und Kommissionen konzentrieren.
Wie ein Krimi mit historisch angelegtem Plot liest sich das vierte Kapitel unter der Überschrift "Der schwierige Weg zu einer ‚gesamtdeutschen’ Erziehungswissenschaft" (69-91). Die "gesamtdeutsche Erziehungswissenschaft" ist nach Darstellung des vorliegenden Bandes das Resultat eines zunehmend antagonistisch werdenden Prozesses, der mit vorsichtigen "Annäherungen" begann und für viele Kolleginnen und Kollegen aus den so genannten "neuen" Bundesländern enttäuschend endete. Die sorgfältige Darstellung und Bilanzierung dieses Vorgangs sollte unbedingt Anstoß zu weiterer Forschung geben.
Die historische Entwicklung der "Arbeitstagungen und Kongresse der DGfE" (93-111) zeigt eine Tendenz zur Vereinheitlichung und Zentralisierung. Die Themen der DGfE-Kongresse von 1968 bis 2004 (103-109) sind nach Meinung der Autoren "Indikatoren der herrschenden erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurse der Zeit" (103). Diese Tendenz zur bildungspolitischen und sozialpolitischen Rahmung der einzelnen Kongressthemen hebt das bereits oben angesprochene Dilemma der DGfE erneut hervor. Aus der vorliegenden historischen Rekonstruktion kann der Schluss gezogen werden, dass die Erziehungswissenschaft, indem sie schwerlich umhin kommt, pädagogische Ziele zu reflektieren, bildungspolitisch kaum "clean" bleiben und sich auf die Rolle des reinen Beobachters zurückziehen kann.
Auch in der Forschungsförderung hat sich die DGfE vielfältig und dauerhaft hervorgetan (113-136). Dazu gehört die Zusammenarbeit mit der DFG ebenso wie die Gründung einer Kommission bzw. eines Ausschusses für Forschungsförderung. Eine Maßnahme zur Anerkennung und damit Karriereförderung des wissenschaftlichen Nachwuchses war die Ausschreibung eines Förderpreises für Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, die im Jahre 1984 von Peter Martin Roeder angeregt wurde. Dabei blieb lange Zeit unklar, wer überhaupt zum wissenschaftlichen Nachwuchs gerechnet werden sollte. Erst im Jahre 1994 entschied man sich, dass eine Kandidatin bzw. ein Kandidat des Förderpreises nicht älter als vierzig und unhabilitiert sein müsse. Aufmerken lässt, dass der Praxisbezug, der bei der Preisvergabe keine Rolle spielen durfte, in einem Atemzug mit methodischer Exaktheit, die wiederum ein wichtiges Kriterium darstellte, konterkariert wird. Hier liegt möglicherweise immer noch ein Indiz für eine "Wissenschaft in Krisenzeiten" vor, die durch Übererfüllung der Norm eine paradoxe Situation erzeugen könnte: den Ausschluss erziehungswissenschaftlicher Forschung zu pädagogischen Problemen.
Wie auch in anderen wissenschaftlichen Fachgesellschaften üblich, engagierte sich die DGfE in allen curricularen, studienorganisatorischen und hochschulpolitischen Fragen des erziehungswissenschaftlichen Studiums. Dabei zeichnet sich im Lauf der Jahre ab, dass man mehr und mehr danach trachtete, in den Lehramtsstudiengängen zwar eine wichtige Rolle zu spielen, sich aber gleichzeitig mit eigenen Hauptfachstudiengängen ins Gespräch zu bringen und zu etablieren (141-154). Diese Entwicklung scheint sich auch bei der gegenwärtigen Neustrukturierung der Studiengänge in vorausschauender Weise – und dabei immer zwischen "Einheitlichkeit", "Differenzierung und Pluralität" um Ausgleich bemüht (160) – fortzusetzen.
Im achten ("Bildungs- und hochschulpolitisches Mandat", 161-183) und neunten Kapitel ("Zwischen Wissenschaft und Politik, 185-188) geht es nochmals um den von den Autoren anvisierten Kernpunkt ihrer "Kleinen Geschichte": das Dilemma zwischen Wissenschaft und Politik als Hauptcharakteristikum der erziehungswissenschaftlichen Fachgesellschaft. Sorgsam werden die wiederholt aufflammenden und perspektivisch immer wieder neu überdachten Argumente aufgezeigt, mit denen man sich im Vorstand der DGfE beschäftigte. Es wurden immer wieder neue Lösungen gesucht zu Fragen wie: Soll man sich in aktuelle bildungspolitische Fragen einmischen? Untergräbt bildungspolitisches Engagement die angestrebte wissenschaftliche Tatbestandsgesinnung und methodisch exakte Untersuchung bildungspolitischer Entwicklungen? Wie lässt sich Politikberatung mit wissenschaftlicher Wertneutralität oder ideologiekritischer Funktion von Wissenschaft verbinden? Wie stark soll man sich in berufspolitische Debatten einmischen? Wie lässt sich starkes öffentliches Engagement mit wissenschaftlicher "Solidität" vereinbaren?
Der vorliegende Band, der hiermit nochmals nachhaltig zur Anschaffung und anregenden Lektüre empfohlen wird, schließt mit einer Quellensammlung, die auf die nicht abgedruckten archivalischen Schätze der Bildungsgeschichtlichen Bibliothek in Berlin neugierig macht. Der wachsenden Galerie der Vorsitzenden der DGfE ist für weitere historische Rückblicke bessere Bildqualität und für die Zukunft weibliche Verstärkung zu wünschen.
Literatur:
- Kuhn, Thomas S.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 51997.
- Tenorth, Heinz-Elmar/Oelkers, Jürgen: 50 Jahre "Zeitschrift für Pädagogik". In: ZfPäd 50 (2004), S. 791-797.