EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)

Christoph Wulf / Birgit Althans / Kathrin Audehm / Constanze Bausch / Benjamin Jörissen / Michael Göhlich / Anja Tervooren / Ruprecht Mattig / Monika Wagner-Willi / Jörg Zirfas (Hrsg.)
Bildung im Ritual
Schule, Familie, Jugend, Medien
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004
(413 S.; ISBN 3-8100-4090-8; 34,90 EUR)
Bildung im Ritual Dass Bildungsprozesse in soziale Strukturen eingebettet sind und in rituellen Arrangements stattfinden, ist der überzeugende Ausgangspunkt dieses Buches. Bildung nicht mehr als individuellen Prozess der Weltaneignung zu verstehen, heißt den Blick zu öffnen für die Bildungswirkung von Ritualen und ihren performativen Charakter. Untersucht werden Rituale als institutionelle Inszenierungen und kulturelle Aufführungen. Bildung im Ritual bedeutet dabei für Kinder und Jugendliche, zu lernen, mit individuellen Differenzen umzugehen und Gemeinschaft performativ zu erzeugen. Die Autoren untersuchen daher die bildende Wirkung von Ritualen als Prozess der Erzeugung sozialer, im praktischen Wissen der Körpers verankerter Kompetenzen. Damit setzten sie die Annahme, dass sich Rituale in die Körper der Handelnden einschreiben und so zu einem Teil des praktischen Wissens werden.

Im Mittelpunkt des Buches stehen neun Fallstudien zu schulischen, religiösen und jugendkulturellen Ritualen, die aus den Sozialisationsfeldern Schule, Familie, Gleichaltrige und Medien stammen. Diese Untersuchungen, die sich in drei Kapitel gliedern, setzen die thematischen Studien zur performativen Bildung von Gemeinschaften in Ritualen fort und sind von den Mitgliedern des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" verfasst. Methodisch wollen sich die Studien an der Grounded Theory, an der Ethnographie, der visuellen Anthropologie und der rekonstruktiven Sozialforschung orientiert wissen. Die Fallstudien zielen erstens darauf, ab Formen der Inszenierung und den Aufführungscharakter ritueller Handlungen zu beschreiben und zweitens die Bedeutungszuschreibungen der an den Ritualen Teilnehmenden zu erhellen.

Im ersten Kapitel Feiern und Feste als schulische Rituale setzen sich die Autoren mit Ritualen einer Berliner Grundschule auseinander, die sich durch ihre Multikulturalität auszeichnet. Es handelt sich um Makrorituale, in denen sich die gesamte Schule in performativen Prozessen als Gemeinschaft hervorbringt. Das Kapitel zielt darauf, die mit der "Dramaturgie der Schulfeiern verbundenen performativen, d.h. die inszenatorischen, ludischen und mimetischen Momente, und vor allem die Differenzkonstituierungen und -bearbeitungen in Bezug auf die Gemeinschaft, das Heilige, die implizite Pädagogik und die multikulturelle Situation [zu] rekonstruieren" (21). Jörg Zirfas zeigt über seine Theorie geleitete Analyse, dass sich im Ritual der Einschulung die schulische Ordnung mit ihren Machtverhältnissen darstellt. Die performativen Praktiken der Einschulung sind als strukturierte Übergangsprozeduren der Ablösung, Umwandlung und Angliederung zu verstehen. Wie Schulfeiern und Schulfeste inszeniert sind und dabei das schulische Leben verdichten, zeigt die weitaus stärker am ethnographischen Datenmaterial orientierte Studie von Christoph Wulf. Die pointierten Analysen der aufgezeichneten Beobachtungen und Auszüge aus den Gruppendiskussionen mit Lehrerinnen und Eltern strukturieren sich unter den Gesichtspunkten Zeit, Körper und Performativität, Macht und Selbständigkeit, Multi-, Inter- und Transkulturalität, sowie Mimesis und Transritualität. Monika Wagner-Willi zeigt mit ihrer Fallstudie zur Adventsfeier schulische Umgangsweisen mit religiöser und kultureller Heterogenität. Die sehr nachvollziehbar am empirischen Material aufgebaute Studie zeigt, dass der religiöse und kulturelle Hintergrund nichtchristlicher Kinder eine Leerstelle bleibt und das Potenzial zur interkulturellen Kommunikation nur reduziert wahrgenommen wird. Die Inszenierung von Schulgemeinschaften in Abschiedsfeiern ist Thema der Studie von Michael Göhlich, der seinen Beitrag auch als einen (methodischen) Beitrag zur Schultheorie konzipiert. Im Vergleich von drei Feiern wird gezeigt, dass sich Makrorituale aus Mikroritualen zusammensetzen. Die festliche Inszenierung verhandelt dabei das Problem der Schule ein asymmetrische Gemeinschaft auf Zeit zu sein, in dem die "kulturelle Koexistenz verschiedener innerschulischer Gemeinschaften bzw. Teilkulturen" (169) aufgeführt wird.

Das zweite Kapitel der Studie Religion, Glaube, Praxis fragt nach religiösen Ritualen und Festen im Jugendalter. Die drei Autorinnen Anja Tervooren, Kathrin Audehm und Birgit Althans konzentrieren sich in ihren je anschaulichen und detailnahen Studien auf kirchennahe und traditionsgebundene Jugendliche. Sie kontrastieren christlich-protestantische mit muslimischen Praxen des Erwachsenwerdens. In allen drei Studien stehen die Sichtweisen der Jugendlichen im Mittelpunkt. Die Untersuchungen zeigen kulturell unterschiedliche Varianten von religiösen Pflichten und Makrorituale, die das endgültige Ende der Kindheit markieren.

Anja Tervooren und Katrin Audehm beschreiben die Transformation eines christlichen Übergangsrituals. In der insgesamt gesehen fünften Fallstudie analysiert Tervooren die Konfirmation auf der Grundlage von Transkriptionen einer Gruppendiskussion als ein ent/bindendes Ritual. Strukturiert werden die Ritualanalysen durch ihre zeitliche Dimension: der Weg zum, die Probe und die Aufführung des Rituals sowie die Zeit danach. Die Analysen selbst zeigen in besonders anschaulicher Weise, wie sich das Ritualwissen in die Körper der Akteure einschreibt. Die Konfirmation hat jedoch ihre Bindekraft an die Institution der Kirche eingebüßt. Diese verschiebt sich auf die Familie und die Gleichaltrigen, wie Katrin Audehm in ihrer Studie zeigt. Hier wird die gleiche Konfirmation als Familienritual analysiert. Zentral ist in dieser Falluntersuchung die Bearbeitung der Generationendifferenz in den Dimensionen Glaube, Wissen und Können. Birgit Althans beschreibt in ihrer Studie Fehlende Übergangsrituale im Islam. Die produktive Leerstelle des Anderen die Sicht türkisch-muslimischer Jugendlicher auf das Erwachsenwerden als Frau und Mann und das Gebundenwerden an eine alltägliche religiöse Praxis.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit jugendlichen Lebenswelten in pädagogisch inszenierten Naturerfahrungen einerseits und technischer Simulation in Computerspielen andererseits. Es geht in den beiden Studien insbesondere um jugendliche Erlebnisräume von Gemeinschaft und die je körperliche Einbindung der Teilnehmenden in die Rituale.

Ruprecht Mattig untersucht in seiner Studie Spuren der Wildnis eine Floßüberfahrt einer Jugendgruppe als Variation eines Initiationsrituals. Die Analyse strukturiert sich über den zeitlichen Ablauf des erlebnispädagogischen Seminars. Unterschieden werden dabei räumliche und thematische Dimensionen (z.B. offener Raum, Zwischenraum, Biwakplatz, und Dunkelheit, Mücken und Zecken, Toilettenpapier). Die pädagogische Inszenierung von Erfahrung erweist sich insbesondere hinsichtlich der körperlichen Erlebnisse sehr ähnlich der Schwellenphase in traditionellen Initiationsritualen, obgleich nach Abschluss des Rituals keine Statusänderung vollzogen ist. In der neunten und damit die Untersuchung abschließenden Fallstudie von Constanze Bausch und Benjamin Jörissen wird eine von Jugendlichen organisierte LAN-Party rekonstruiert. Die Inszenierungen von Gemeinschaften und die rituelle Bewältigung von Gewalt in der konstitutiven Differenz von Spiel und Realität, stehen im Zentrum der Analysen, die u.a. auf eine neu Form des Rituals, das "ludische Ritual" aufmerksam machen.

Im Schlusskapitel Bildung im Ritual. Perspektiven performativer Transritualität greifen Christoph Wulf und Jörg Zirfas die theoretischen Vorannahmen und die empirischen Fallstudien mit ihren theoretischen Erträgen nur sehr kurz auf. Sie stellen fest, dass sich die untersuchten Rituale durch ein hohes Maß an Offenheit, Komplexität, Uneindeutigkeit und Selbstinitiation auszeichnen. Das Schlusskapitel rundet die empirische Arbeit ab und schlägt eine Weiterentwicklung des Ritualbegriffs vor. Als Beitrag zur Ritualforschung erweisen sich die abschließenden Überlegungen entlang der Dimensionen Bildung, Raum, Praxis, Wahrnehmung, Mimesis, Medien, Theatralität, Imaginäres und profanisierte Sakralität. Zentral herausgestellt wird die Erkenntnis, dass Ritualen eine Dynamik inhärent ist, die zu einer Veränderung ritueller Formen, Zielen und Kontexten, kurz zu einer Transritualität führt.

In der hoch komplexen Anlage der Untersuchung, die vor allem durch sehr ansprechende und facettenreiche, empirisch basierte und eigenständige Fallstudien besticht, liegen sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Buches begründet, das sich an eine geübte Leserschaft richtet. Insgesamt hinterlässt die Studie einen zwiespältigen Eindruck Dabei ist das Ziel, die Leserschaft für den Zusammenhang von Ritualen und Bildungsprozessen zu interessieren, als sehr gelungen anzusehen. Die einzelnen Versuche, den bildenden und sozialen Charakter ritueller Prozesse herauszuarbeiten, sind als ebenso nachvollziehbar anzusehen wie die These, dass Rituale als Bildungsprozesse zu verstehen sind. Die Fallstudien allerdings bleiben recht unvermittelt nebeneinander stehen, weswegen ihr Erkenntnispotenzial unausgeschöpft erscheint. Dies zeigt sich insbesondere im Schlusskapitel, in dem die Frage nach den Bildungsprozessen und dem bildenden Moment von Ritualen zu Gunsten einer Auseinandersetzung mit dem Ritualbegriff an den Rand gedrängt wird. Als ein Problem erweist sich die Vielzahl von Begriffen, die eigentümlich selbstreferentiell und unscharf bleiben: Die zu Teilen inkonsistent erscheinende Begriffsbildung verwischt etwa den Unterschied zwischen Praxen und Ritualen. Fast alles scheint zum Ritual werden zu können und jede Praxis kann zu einer rituellen werden. Damit steht letztlich der Ritualbegriff in Gefahr, sich selbst entbehrlich zu machen.






Hedda Bennewitz (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hedda Bennewitz: Rezension von: Wulf, Christoph / u.a., Birgit Althans Kathrin Audehm (Hg.): Bildung im Ritual, Schule,Familie, Jugend, Medien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81004090.html