Traditionelle Organisationstheorien wie die von Max Weber und Frederick W. Taylor berücksichtigen nicht, welche Bedeutung Individuen in Organisationen haben. Moderne Organisationstheorien dagegen räumen dem Individuum weitaus mehr Gestaltungsmöglichkeiten ein. Die Organisationssoziologie vollzieht eine analytische Trennung zwischen Individuum und Organisation. Das Individuum wird in seinem eigenen Wert anerkannt, ist aber nicht Gegenstand der Analyse. Psychologische Theorien betonen in der Regel, wie wichtig es ist, dass Individuen in den organisationalen Zusammenhang integriert werden; die organisationale Struktur wird vorzugsweise aus der Perspektive des Individuums beobachtet. Ein theoretischer Ansatz, der beide Perspektiven berücksichtigt, steht weiterhin aus. Jede Öffnung der Organisation erfordert auch ein Schließen, also die Grenzziehung zum Individuum.
Auch in der vorliegenden Studie thematisiert Stefanie Hartz die Öffnung der Organisationstheorie für individuelle Belange. Sie möchte die Grenzziehung zwischen Individuum und Organisation aus zwei Perspektiven fokussieren. Dazu ermittelt sie das Erklärungspotential der traditionellen- und der modernen Organisationstheorien für die von ihr anvisierten Beobachtungsperspektiven "Individuum" und "Organisation". Die theoretischen Vorüberlegungen zur Organisationstheorie sind gut theoretisch fundiert und auch geeignet, um Studien-Einsteigern einen Einblick in den Stand der Organisationstheorie zu geben.
Laut Hartz erfasst keine der bisherigen Organisationstheorien die besagte Grenzziehung aus der Perspektive des Individuums. Sie geht davon aus, dass sich das Individuum sein eigenes Organisationsverständnis durch die Abgrenzung von der Organisation aneignet. Zur Erfassung dieses individuellen Aneignungsprozesses übernimmt Hartz die Kategorie der Aneignung nach Jochen Kade. "Mit dieser, der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung entlehnten Kategorie kann die Komplementärseite des Organisierens fokussiert werden" (22). Hartz bindet diese Komplementärseite wieder an organisationale Prozesse zurück. Dazu erweitert sie die Kategorie der Aneignung durch Meads symbolischen Interaktionismus. Somit betont sie, dass individuelle Aneignungsprozesse im sozialen Rahmen von Interaktionen ablaufen. "Denn die Rückbindung an das Soziale aus dem Blick zu verlieren und Aneignung als etwas rein Individuelles und Kontextgebundenes zu begreifen, wäre unzureichend" (22).
Mit der Aneignungskategorie führt Hartz eine neue Perspektive zur Beobachtung der Grenze zwischen Individuum und Organisation ein. Sie benennt diese neue Perspektive mit dem Begriff der mentalen Mitgliedschaft. Mit diesem Begriff erfasst Hartz die individuelle Aneignung organisationaler Imperative und die damit verbundene gleichzeitige Abgrenzung von der Organisation. Außerdem zeigt Hartz am Konzept der mentalen Mitgliedschaft, dass sich Organisationen einer doppelten Integrationsproblematik stellen müssen. Sie sollen nicht nur die selbst konstruierte Grenzziehung reflektieren, sondern auch die individuelle Grenzziehung ihrer Mitglieder berücksichtigen.
Hartz zeigt mit ihrer Studie, dass die individuellen Grenzziehungen über die Möglichkeiten der Integration von Innovationen in die Organisationen entscheiden. Sie verdeutlicht dies am Beispiel der Gruppenarbeit. Die Organisationen müssen das Gruppenarbeitskonzept in den organisatorischen Entscheidungsfluss komplett integrieren. Hartz hebt hervor, dass die Gruppenarbeitsthematik in ihrem Innovationswert zumeist als ein Wert an sich behandelt wird. Die Verbreitung der Gruppenarbeit auf der semantischen Ebene ist deshalb oft sehr hoch, die tatsächliche Umsetzung auf der operativen Ebene ist dagegen jedoch gering (100). "Nur ein Bruchteil der unter der Vokabel Gruppenarbeit geführten Arbeitsorganisationskonzepte werden dem theoretischen Konstrukt, dem sie sich verdanken, tatsächlich gerecht" (98). Das gleiche Defizit lokalisiert Hartz mit der vorliegenden Studie auch in einem Traditionsbetrieb der Stahlbranche.
Hartz ermittelt die mentalen Mitgliedschaften der Betriebsangehörigen des Traditionsbetriebes. Sie erfasst die Ebene der Entscheidungsträger sowie die Ebene der Produktionsarbeiter. Methodisch rekonstruiert sie die mentalen Mitgliedschaften durch eine Kombination aus Dokumentensammlung, Feldbeobachtung, Einzelinterview und Gruppendiskussion. Die Datenauswertung vollzieht sie in Anlehnung an das Verfahren der "grounded theory". Hartz stellt das methodische Vorgehen genauso ausführlich und gut verständlich dar wie zuvor die Organisationstheorien. Auch ihre Beschreibungen der einzelnen mentalen Mitgliedschaften sind sehr ausführlich. Abbildungen erleichtern dem Leser die Vergleichbarkeit der mentalen Mitgliedschaften und sorgen dafür, dass dieser den Überblick nicht verliert.
Hartz fragt, warum die Gruppenarbeitsthematik bisher nicht in den Entscheidungsfluss des Traditionsbetriebes integriert werden konnte. Dazu ermittelt sie Überschneidungen zwischen den mentalen Mitgliedschaften der Entscheidungsträger. Diese Überschneidungen ordnet sie entweder einem traditionellen oder einem modernen Rationalisierungsleitbild zu. Mit Hilfe dieser Rationalisierungsleitbilder zeigt Hartz auf, warum das Gruppenarbeitskonzept in dem Stahl verarbeitenden Betrieb nicht durchgesetzt werden konnte.
Leider reduziert Hartz die Vielfalt der ermittelten mentalen Mitgliedschaften durch die Anwendung von zwei stark differenzierenden Rationalisierungsleitbildern. Durch dieses Vorgehen unterläuft sie die Komplexität der von ihr selbst rekonstruierten mentalen Mitgliedschaften. Mit der Benennung einer doppelten Integrationsproblematik und der Einführung des Begriffs der mentalen Mitgliedschaft hat Hartz den Blick für Kontingentes zweifellos gestärkt. Sie hat darauf hingewiesen, dass die Durchsetzung von Gruppenarbeit auf den unterschiedlichsten Ebenen reflektiert werden kann. Dieser Komplexität könnte sie aber nur durch eine weniger stark differenzierende Typisierung gerecht werden, welche die Vielfalt der mentalen Mitgliedschaften berücksichtigt.
Hartz geht davon aus, dass die Betriebe ihre Analysen nutzen können, indem sie berücksichtigen, dass es unterschiedliche Typen der mentalen Mitgliedschaft gibt. Hier ergibt sich ein theoretisches Problem: werden die Typen zu differenziert gebildet, sind sie praktisch kaum anschlussfähig. Deshalb bleibt fraglich, ob die Kenntnis der unterschiedlichen Präferenzen aller Entscheidungsträger notwendig ist, wenn diese ohnehin wieder auf ein Minimum reduziert werden.
Auf den Titel der Arbeit: "Biographizität und Professionalität" nimmt Hartz nicht explizit Bezug. Ihr Verständnis dieser Begriffe lässt sich aber gut am Fallvergleich der mentalen Mitgliedschaften der Entscheidungsträger ablesen. Die unterschiedlichen Selbstverständnisse der Entscheidungsträger und ihre biographischen Hintergründe führt Hartz hier einem Vergleich zu. Dadurch macht sie deutlich, dass die individuellen Grenzziehungen der Entscheidungsträger unmittelbar mit den persönlichen Biographien interagieren. Auf diese Weise hebt Hartz hervor, dass Professionalität nicht ohne die Berücksichtigung von Biographizität gedeutet werden kann.
Für die Schließung des Entscheidungsprozesses in der Organisation ist die Perspektive der mentalen Mitgliedschaft zu komplex. Die Funktion von Organisationen liegt ja gerade darin, trotz weitgehender Unkenntnis der beteiligten Personen, Handlungsfähigkeit herstellen zu können. Ob das von Hartz vorgestellte Konzept der Organisationsrationalität zuträglich ist, bleibt offen.
EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)
Biographizität und Professionalität
Eine Fallstudie zur Bedeutung von Aneignungsprozessen in organisatorischen Modernisierungsstrategien
Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004
(399 Seiten; ISBN 3-8100-4073-8; 29,90 EUR)
Nils Bethmann (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nils Bethmann: Rezension von: Hartz, Stefanie: Biographizität und Professionalität, Eine Fallstudie zur Bedeutung von Aneignungsprozessen in organisatorischen Modernisierungsstrategien, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81004073.html
Nils Bethmann: Rezension von: Hartz, Stefanie: Biographizität und Professionalität, Eine Fallstudie zur Bedeutung von Aneignungsprozessen in organisatorischen Modernisierungsstrategien, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81004073.html