Die durch das desolate Abschneiden deutscher SchülerInnen bei der PISA-Studie in Gang gekommenen Debatten um die Reform des Bildungswesens lassen auch den sozialpädagogischen Fachdiskurs nicht unberührt. Nicht zuletzt der frappierende Befund, dass der Bildungserfolg in einem deutlichen Zusammenhang zur sozialen Herkunft steht, lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Sozialisationsfelder, die außerhalb des institutionellen Kontextes schulischen Lernens anzusiedeln sind. Was fast schon in Vergessenheit geraten ist, tritt nun umso deutlicher hervor: Die Bildungsfrage ist eine soziale Frage und zwar in allen denkbaren Varianten dieses Ausdrucks. Defizite, welche die Schule nicht allein hervorgebracht hat, kann sie auch allein nicht beseitigen. Folgerichtig muss nun auch die Sozialpädagogik Farbe bekennen.
Der Sammelband von Ulrich Deinet und Christian Reutlinger versteht sich als ein Beitrag zu einem eigenständigen Bildungskonzept der Sozialpädagogik und greift damit in die bildungswissenschaftliche Reformdebatte ein. Hierbei handelt es sich um ein vorraussetzungsvolles Unterfangen, bei dem sich auf eine elaborierte Basis an theoretischen Konzepten kaum verzichten lässt. Die "Sozialpädagogik nach PISA" sucht entsprechend nach Anknüpfungspunkten für ein solches Konzept und findet es im Begriff der "Aneignung", wie er im Horizont eines tätigkeitstheoretischen Ansatzes von der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie um Leontjew entfaltet, und in Deutschland von Klaus Holzkamp aufgegriffen und weiterentwickelt wurde.
Den spezifischen Gewinn, den die Aufnahme dieses Konzepts verspricht, sehen die Herausgeber in der Verknüpfung mit einem raumtheoretisch erweiterten Bildungsbegriff. "Aneignung" gilt ihnen entsprechend – normativ wie faktisch – als Modus der sozialräumlichen Bildung des Subjekts. Gegenüber einem beschränkten scholastischen Bildungsverständnis, das sich auf eine Effektivierung von Unterrichtsprozessen und die kognitive Leistungsfähigkeit der Schüler konzentriert, werden damit – und das ist zunächst einmal als überaus verdienstvoll anzusehen – Gelegenheitsstrukturen und Prozesse informellen Lernens in den Blick gerückt; nicht nur als Voraussetzung für den schulischen Lernerfolg, sondern auch als Beitrag zur Entwicklung spezifischer Kompetenzen, die über den schulischen Kontext hinaus unverzichtbar sind. Der Band aktualisiert damit, auch wenn dies nicht zu seinen expliziten Zielsetzungen gehört, eine altehrwürdige Tradition der sozialpädagogischen Kritik eines schul- und unterrichtstheoretisch verengten Bildungsverständnisses.
Dem im Einleitungskapitel von Deinet und Reutlinger skizzierten theoretischen Programm versuchen fünfzehn weitere Artikel mehr oder minder zu folgen. Sie gliedern sich in zwei Abteilungen, die nicht durch Überschriften gegeneinander abgegrenzt sind. In den einzelnen Texten werden scheinbar wahllos theoretische Bezugsgrößen und Erkenntnisse aus Anthropologie, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, Kognitionswissenschaft, Gesellschaftstheorie, Erziehungs- und Bildungstheorie, Sozialisationstheorie, Zeitdiagnose, Kinder-, Kindheits-, Armuts- und Jugendforschung, Geographie sowie Kultur- und Institutionentheorie auf den unterschiedlichen Beobachtungsebenen von Grundlagentheorie, klassischer Reflexionstheorie, engagierter Praxisreflexion und empirischer Forschung miteinander kombiniert (Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit!). Ich möchte im folgenden nur auf solche Beiträge eingehen, die sich einigermaßen harmonisch zu dem von den Herausgebern skizzierten theoretischen Programm verhalten.
Die in der ersten Abteilung versammelten Aufsätze lassen sich eher grundlegenden und klärenden Überlegungen zuordnen. Karl-Heinz Braun entwickelt in einem theoriegeschichtlichen Horizont mit nicht immer nachvollziehbarem argumentativen Aufwand ein multidimensionales Gerüst für einen methodischen Zugang zu Phänomenen der Raumaneignung, das gesellschaftstheoretische und intersubjektivitätstheoretische Elemente miteinander verschränkt. Michael Winkler diskutiert in gewohnt souveräner Manier im Anschluss an grundlegende Erwägungen zu einer "kleinen Theorie der Aneignung" Ambivalenzen und normative Implikationen des Konzeptes im Hinblick auf seine Bedeutsamkeit für die sozialpädagogische Reflexion. Sabine Andresen rekonstruiert in überzeugender Weise die Schnittstellen, die sich aus einer aneignungstheoretischen Perspektive zwischen sozialkonstruktivistischer Kindheitsforschung und erziehungswissenschaftlicher Kinderforschung ergeben. Christian Reutlinger unternimmt den Versuch, das Konzept der Aneignung zu modernisieren, indem er es mit dem sozialgeographischen Ansatz der "Bewältigungskarten" synthetisiert.
Die Beiträge im zweiten Teil zeichnen sich durch einen mehr oder minder gegebenen Anwendungsbezug aus. Hervorzuheben sind die beiden Aufsätze von Scherr und Deinet, die das Aneignungskonzept auf das Handlungsfeld der Jugendarbeit beziehen und mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen eine Verknüpfung von subjekt- und sozialraumorientiertem Bildungsverständnis herausarbeiten. Einen Hinweis wert ist auch der Text von Sting, der in der Gestalt pointierter Thesen den Blick für die Relevanz sozialer Bildung im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung von Heranwachsenden öffnet. Instruktiv ist schließlich der Beitrag von Chassé, in dem die unterschiedlich verteilten Chancen und Gelegenheitsstrukturen für Aneignungsprozesse bei Kindern im Lichte der Armutsforschung betrachtet werden.
Die Kompilation der Beiträge wirkt über weite Strecken mehr zufällig als systematisch. Der vorliegende Sammelband eignet sich denn auch eher für die selektiv-vertiefende als für die umfassende oder auf einen raschen Überblick hoffende Lektüre. Die selbstkommentierende Bemerkung der Herausgeber, es handele sich bei diesem Band um einen "Werkstattbericht", entschuldigt zwar für die ein oder andere Inkonsistenz. Aber: So begrüßenswert das Vorhaben ist, die Bildungsreformdebatte mit alternativen Konzepten und Perspektiven von der Sozialpädagogik aus zu inspirieren, so problematisch nimmt sich der Versuch aus, dies auf mehreren Ebenen gleichzeitig und von unterschiedlichen Zugängen und inhaltlichen Schwerpunkten her anzugehen.
Es ist davon auszugehen, dass das in diesem Band entwickelte und von unterschiedlichen Seiten her differenzierte Konzept der "Aneignung" gerade in seiner Verknüpfung mit dem Gedanken räumlich konstituierter und Räume konstituierender Bildungsprozesse seine Anhänger im akademischen und fachlichen Diskurs der Sozialpädagogik finden wird. Ob es aber gelingt, über diesen engen Diskussionshorizont hinaus auch innerhalb der gesellschaftlichen Debatten um die Zukunft der Bildung für Gesprächsstoff zu sorgen, muss ernsthaft bezweifelt werden.
EWR 4 (2005), Nr. 2 (März/April 2005)
"Aneignung" als Bildungskonzept der Sozialpädagogik
Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte
Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004
(259 S.; ISBN 3-8100-4009-6; 29,90 )
Sascha Neumann (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sascha Neumann: Rezension von: Deinet, Ulrich / Reutlinger, Christian (Hg.): "Aneignung" als Bildungskonzept der Sozialpädagogik, Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81004009.html
Sascha Neumann: Rezension von: Deinet, Ulrich / Reutlinger, Christian (Hg.): "Aneignung" als Bildungskonzept der Sozialpädagogik, Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81004009.html