EWR 3 (2004), Nr. 6 (November/Dezember 2004)

Christiane Thompson
SelbstÀndigkeit im Denken
Der philosophische Ort der Bildungslehre Theodor Ballauffs
Opladen: Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2003
(251 Seiten; ISBN 3-8100-3969-1; 24,90 )
SelbstĂ€ndigkeit im Denken In ihrer Dissertation verfolgt Christiane Thompson zwei Ziele. Zum einen handelt es sich um einen Beitrag zur KlĂ€rung des VerhĂ€ltnisses von PĂ€dagogik und Philosophie; zum anderen - und primĂ€r - geht es um eine prĂ€zise philosophische Ortsbestimmung der Bildungslehre Theodor Ballauffs in der bildungstheoretischen Diskussion der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist es die erklĂ€rte Absicht, die in der Forschung dominierende Überzeugung von Ballauffs starker theoretischen AbhĂ€ngigkeit vom ‘Seinsdenker’ Heidegger zu ĂŒberprĂŒfen und - so das wesentliche Ergebnis - zu widerlegen. Es wird gefragt "
ob eine Lesart, die Ballauffs Bildungslehre streng ĂŒber Heideggers Seinsdenken erschließt – sei sie nun kritisch-zurĂŒckweisend oder affirmativ -, einen angemessenen Zugang zu den pĂ€dagogischen Überlegungen Ballauffs liefern kann" (16). Diese Frage wird nicht nur strikt verneint. Vielmehr werde durch die Auflösung der vermeintlichen AbhĂ€ngigkeit Ballauffs von Heidegger "allererst die Grundlage dafĂŒr geschaffen [
] diesen außerordentlichen und einzigartigen Versuch einer Bildungstheorie der ‚selbstlosen Verantwortung der Wahrheit’ in seiner Reichweite und seinen Begrenzungen erfassen und kritisch durchdenken zu können" (18, Hv. U.W).

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste ("Menschlichkeit") dem Problem einer Bestimmung von Menschlichkeit nachgeht und der zweite ("Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit") die Frage ihrer Erreichbarkeit behandelt. Die sechs Kapitel, die den beiden Teilen paritĂ€tisch zugeordnet sind, vollziehen jeweils einen Dreischritt. ZunĂ€chst erfolgt eine immanente Rekonstruktion, die sich hauptsĂ€chlich auf die "IntegralitĂ€t der Bildungslehre", wie sie mit der posthum herausgegebenen "PĂ€dagogik als Bildungslehre" (2000) vorliege, stĂŒtzt. Sodann werden jene und nur jene Elemente Heideggerscher Philosophie erörtert, die sich in der NĂ€he zu Ballauffs Denken zu befinden scheinen. Schließlich werden die Ergebnisse, des von Ballauff her gezogenen Vergleichs in Beziehung zu einschlĂ€giger SekundĂ€rliteratur gesetzt. Der Einsatz bei der Idee der Menschlichkeit wird damit begrĂŒndet, dass "Menschlichkeit" die transzendentale Idee der PĂ€dagogik bildet, die als Zuordnungsvorschrift im kantischen Sinne angibt, welche PhĂ€nomene als pĂ€dagogische zu bezeichnen sind.

Im Hinblick auf Ballauffs und Heideggers Anthropologiekritik zeigen sich zwar weitreichende inhaltliche Übereinstimmungen, zugleich aber auch große Unterschiede in Funktion und Methode. Eben diese Differenzen und damit die "Konkretheit und DiversitĂ€t von Ballauffs Analysen sowie deren Offenheit und Nicht-Vorentschiedenheit" (47) habe die Forschung bisher vollkommen ĂŒbersehen.

Weil sich die Idee der Menschlichkeit gerade nicht aus einem ĂŒbergeschichtlichen anthropologischen Begriff des Menschen, sondern nur aus der geschichtlichen Selbsterfahrung der Menschen erschließt, verfolgt das zweite Kapitel die Frage nach der Funktion der pĂ€dagogischen Theoriegeschichte und Tradition im Aufbau der Bildungslehre. Die konstitutive Bedeutung, die der Geschichte bei Ballauff zukommt, sei demnach nicht in ihrer Funktion als normatives Fundament (Heidegger), sondern in der PerspektivitĂ€t, Projekthaftigkeit und Offenheit pĂ€dagogischen Denkens (Ballauff) begrĂŒndet.

Kapitel drei thematisiert die "SubjektivitĂ€tsproblematik" und rekonstruiert gegenĂŒber der neuzeitlichen Subjektorientierung Ballauffs "Konzept der Selbstlosigkeit". Die "Kritik an der modernen menschlichen Selbstbeschreibung" wird dabei vor allem an Ballauffs zwiespĂ€ltigem VerhĂ€ltnis zu Kant verdeutlicht. Von dieser Kritik unterscheidet sich Heideggers Subjektkritik nicht nur in ihrer ontologischen Ausrichtung, vielmehr steht das mit kantischer Tradition ĂŒbereinstimmende Existenzial der "Sorge" kontrĂ€r zu Ballauffs Begriff der Selbstlosigkeit. Die Lesart Ballauffs durch Heidegger verdecke dessen rigorose Absage an die Willentlichkeit.

Die Intentionen des Buches treten in dem zentralen Kapitel des Buches (Eingangskapitel des zweiten Teils) "Das Denken" besonders klar hervor. Ballauffs Gedanke, dass Denken sein eigener Gegner sei und bleiben mĂŒsse, wird in die skeptische Tradition Sokrates hineingestellt. Im Unterschied zu Wolfgang Fischer, dem großen pĂ€dagogischen Skeptikers des 20. Jahrhunderts, gelange Ballauff allerdings ĂŒber Problematisierungen hinaus bis hin zu (vorlĂ€ufigen) Antworten. In Abgrenzung zur kantischen Philosophie lĂ€sst sich die TranszendentalitĂ€t des Denkens nĂ€mlich nicht auf den logischen Raum a priori beschrĂ€nken, so dass "Denken" - implizit - auch EmotionalitĂ€t und Leiblichkeit umschließt. Auch das Postulat der "SelbstĂ€ndigkeit im Denken" wird in GegenĂŒberstellung zu dem kantischen des "selbstĂ€ndigen Denkens" erlĂ€utert. WĂ€hrend Vernunft bei Kant als Vermögen des Menschen im Sinne des Besitzens begriffen wird, bestimmt Ballauff MĂŒndigkeit als Möglichkeit innerhalb des Denkens. Die Verbindung des Gedankens der SelbstĂ€ndigkeit im Denken mit dem Gedankens der Skepsis begreift MĂŒndigkeit als "Erlernen von Skepsis" im Sinne selbstkritischen Denkens. "Wahrheit" verliert damit das PrĂ€dikat der EndgĂŒltigkeit und Ausschließlichkeit. In ihrer VorlĂ€ufigkeit und FragwĂŒrdigkeit wird sie zur Ermessenssache. Heideggers SpĂ€tphilosophie teilt mit Ballauff die Überzeugung, dass sich das Denken der VerfĂŒgungsgewalt des Denkenden entzieht. Doch konzentriert sich Heidegger ausschließlich auf den Gedanken des Denkens als "Gabe" - und blendet somit den im Postulat der SelbstĂ€ndigkeit im Denken festgehaltenen Aufgabencharakter des Denkens aus, ebenso wie der ganz ĂŒberwiegende Teil der Forschungsliteratur. Die "Reinterpretation des Denkens als unverfĂŒgbares Eröffnungsgeschehen wird als Novum in der PĂ€dagogik [
] hervorgehoben und diskutiert. Die ‚SelbstĂ€ndigkeit im Denken’ bleibt indessen unberĂŒcksichtigt [
]" (162)-

Kapitel fĂŒnf beleuchtet den Vorgang der selbstlosen "Freigabe" bzw. des "Ermessens", in dem die "ProblematizitĂ€t des Denkens" zu einer vorlĂ€ufigen Entscheidung ĂŒber die Sache gebracht wird. Die Thematik "Maßfindung und Maßgaben" wird mit Ballauff in die Antike zurĂŒckverfolgt und als Kernthema und Problem der Bildung vorgestellt. Die ErlĂ€uterung der "Maßgabe der kosmischen Verantwortung" befreit den Maßgabengedanke (in Abgrenzung von Jonas und Levinas) von dem Vorwurf, ihm wohne ein ontologisch-metaphysischer Ordnungsbegriff oder der Bezug auf eine absolute Instanz inne und fĂŒhrt ihn auf den kosmos-noetos der TranszendentalitĂ€t des Denkens zurĂŒck. Ihre positive Bestimmung erhĂ€lt Verantwortung mit dem Begriff der "Angemessenheit", der "Sachlichkeit und Bildung" im Vorgang eines verbindlichen und gleichzeitig selbstkritischen Denkens verbindet. Der Seitenblick zu "Technik und Dingheit bei Heidegger" hebt hervor, dass im sich ereignenden Ereignisgeschehen von Sein und Denken gerade kein Platz fĂŒr Selbstkritik und SelbstĂ€ndigkeit in Argumentation und Diskussion vorgesehen ist. Das weitgehende Fehlen der Themen "selbstkritisches Ermessen" und "kosmische Verantwortung" in der Rezeption wird mit der Unterbelichtung von Skepsis und selbstkritischem Denken in Zusammenhang gebracht.

Das Schlusskapitel "PĂ€dagogik und Ethik" geht ausfĂŒhrlich auf das ambivalente VerhĂ€ltnis zur praktischen Philosophie Kants ein und zeigt, wie der Pflicht-Gedanke in einer PĂ€dagogik der Inanspruchnahme durch die Verantwortung des Ermessens abgelöst wird. NĂ€here AusfĂŒhrungen folgern daraus, dass die als "Freigabe" bezeichnete pĂ€dagogische Aufgabe der SelbstĂ€ndigkeit im Denken nicht nur fĂŒr das VerhĂ€ltnis zu Sachen, sondern ebenso fĂŒr jenes zu Mitmenschen Aussagekraft besitzt. Verglichen mit der Bildungslehre spielt das Thema IntersubjektivitĂ€t bei Heidegger eine nebensĂ€chliche und - wie am Begriff des "Mitseins" aufgezeigt, kontrĂ€re Rolle. Die SekundĂ€rliteratur neigt dazu, diesen Ansatz im Schatten Heideggers in das Dunkel unkritischer Seinsdienerschaft zu hĂŒllen.

Abgerundet wird die Arbeit durch eine Zusammenfassung des Gedankengangs und seiner wichtigsten Ergebnisse, einer Benennung weiterfĂŒhrender Fragestellungen sowie mit der Beantwortung der Ausgangsfrage nach dem VerhĂ€ltnis von PĂ€dagogik und Philosophie. "Die Unentbehrlichkeit der Philosophie fĂŒr die PĂ€dagogik liegt in der FĂ€higkeit, andere ‚TheorierĂ€ume’ systematisch zugĂ€nglich zu machen und nicht darin, als einheitliche Schulrichtung das pĂ€dagogische Denken in eine Richtung zu polarisieren und seine Grundlegung zu besorgen. Die Philosophie kommt – allgemein gesagt – als radikales Fragen und Antworten im Bewusstsein von Endlichkeit und Überholbarkeit zum Tragen" (233). Insofern Ballauffs Ansatz diese Lehre bereithĂ€lt und zugleich praktiziert, lĂ€sst er sich keiner Schulrichtung zuordnen.

Die grĂŒndliche Abgrenzung Ballauffs von Heidegger erschließt neue Sichtweisen. Die systematische Verbindung des Postulats der "SelbstĂ€ndigkeit im Denken" mit Skepsis und Selbstkritik relativiert vor allem die Kritik, die Ballauffs Bildungslehre insbesondere von Seiten einer emanzipatorisch orientierten PĂ€dagogik entgegengebracht wurde. Indem nicht nur der begrenzte Einfluss Heideggers, sondern insbesondere auch das vielschichtige VerhĂ€ltnis zu Kant verdeutlicht wird, kommt ein VerstĂ€ndnis der pĂ€dagogischen Aufgabe zum Vorschein, das von subjekttheoretischen ErmĂ€chtigungsdenken und schicksalhaft ontologischen Ohnmachtsdenken gleich weit entfernt ist.

Leider - und vollkommen unnötig - wird das beachtliche Ergebnis der Untersuchung auf Kosten der Forschungsliteratur prĂ€sentiert. Der durchweg entwickelnde und diskursive Arbeitsstil gibt den aktuellen Forschungsstand zwar nicht falsch, aber doch in zuweilen recht tendenziös gewĂ€hlten Ausschnitten wieder. Schwerer wiegt jedoch ein anderer Einwand: Thompson rĂ€umt durchaus ein, sie habe Ballauffs Theorie der Bildung weitaus systematischer vorgetragen, als Ballauff sie selbst entwickelt habe (234). MerkwĂŒrdigerweise wird dieser Umstand in seinen Ursachen und Konsequenzen aber nicht weiter reflektiert. So wird die (höchst streitbare) PrĂ€misse der Arbeit, mit der posthum herausgegebenen Bildungslehre liege die ‘reife Fassung’ von Ballauffs PĂ€dagogik vor, nicht als eine zu problematisierende Arbeitshypothese, sondern als unbefragte Voraussetzung begriffen. Wer Ballauffs Bildungslehre jedoch als einen gleichsam geschichtslosen, monolithischen Block betrachtet, wird Ballauffs Einsicht in die Geschichtlichkeit menschlicher Selbstinterpretationen kaum gerecht werden können. Eine Analyse, die Ballauffs Denken unter seinen eigenen Denkvoraussetzungen zu rekonstruieren beabsichtigt, muss sich nicht zuletzt an diesem Denken selbst bewĂ€hren.

Gleichwohl schmĂ€lert die Strittigkeit mancher Deutungen und Bewertungen nicht ihren unbestreitbaren Wert. Aufgrund der bestechend klaren GedankenfĂŒhrung und ihrem außerordentlichen Gedankenreichtum liegt eine Leistung vor, die wohl leider nur einen kleineren Kreis von Bildungstheoretikern ansprechen wird, die jedoch die Beachtung jedes Erziehungswissenschaftlers und PĂ€dagogen verdient.
Ulrich Wehner (WĂŒrzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Wehner: Rezension von: Thompson, Christiane: SelbstĂ€ndigkeit im Denken, Der philosophische Ort der Bildungslehre Theodor Ballauffs, Opladen: Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003969.html