EWR 2 (2003), Nr. 2 (MĂ€rz/April 2003)

Christoph Butterwegge / Michael Klundt (Hrsg.)
Kinderarmut und Generationengerechtigkeit
Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel
Opladen: Leske und Budrich 2003
(244 Seiten; ISBN 3-8100-3731-1; 18,50 EUR)
Kinderarmut und Generationengerechtigkeit Nachdem die Erstauflage aufgrund des breiten Interesses der (Fach-)Öffentlichkeit sehr schnell vergriffen war, erscheint bereits ein Jahr spĂ€ter die zweite durchgesehene Auflage des Sammelbandes zu "Kinderarmut und Generationengerechtigkeit", herausgegeben von Christoph Butterwegge und Michael Klundt. Der Band enthĂ€lt AufsĂ€tze u.a. von Politik-, Wirtschafts- und Erziehungswissenschaftlern und will Experten aus diesen Disziplinen und politisch Verantwortliche aus Familien- und Sozialpolitik ansprechen. Welchen Gewinn kann ein Rezensent aus der SonderpĂ€dagogik ausmachen, dessen Fach auf den ersten Blick wenig BerĂŒhrungspunkte mit der Thematik des vorliegenden Bandes hat.

Themenaspekt "Kinderarmut": Dazu lassen sich BezĂŒge zur Heil- und SonderpĂ€dagogik herstellen. Kinderarmut im Sinne materieller und sozialer Benachteiligung wurde hier immer schon von einzelnen Fachvertretern beachtet. Aber erst der vom SonderpĂ€dagogen Hans Weiß herausgegebene Sammelband zur "FrĂŒhförderung mit Kindern und Familien in Armutslagen" (2000) hat diesem Thema neuerdings die erforderliche breite Aufmerksamkeit verschafft. Und zwar nicht nur in der PĂ€dagogik bei LernbeeintrĂ€chtigungen, in der Armut, verstanden als vielschichtiges und mehrdimensionales PhĂ€nomen, angesichts der sozialen Herkunft der Kinder und Jugendlichen noch am deutlichsten thematisiert wird, sondern auch in der PĂ€dagogik bei geistigen, körperlichen und sinnesspezifischen Behinderungen, die signifikant hĂ€ufiger in Armutslagen vorkommen. Interessierte SonderpĂ€dagogen finden im vorliegenden Band in den Kapiteln "Erscheinungsformen, Auswirkungen und Folgen von Kinderarmut" sowie "Sozialpolitische, familienpolitische und pĂ€dagogische Gegenmaßnahmen" weiterfĂŒhrende Vorstellungen und ergĂ€nzende empirische Befunde, die sich zwar nur teilweise auf Kinder mit (Lern-)Behinderungen, dagegen weitgehend auf die auf ca. zwanzig Prozent angewachsene Gruppe von nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in Armutslagen (Butterwegge/Klundt, 61) beziehen. Gleichwohl sind die meisten AusfĂŒhrungen zu dieser großen Armutsgruppe in Deutschland ebenso fĂŒr unseren Personenkreis wichtig.

Auf drei BeitrĂ€ge dieser beiden Kapitel möchte ich besonders hinweisen, weil sie aktuelle und neue Aspekte sonderpĂ€dagogischer Diskussion berĂŒcksichtigen. In einer Befragungsstudie von JĂŒrgen Mansel wurden drei Armutsgruppen von Jugendlichen gebildet, unter denen eine Gruppe gezielt aus SchĂŒlern der Lernbehindertenschule zusammengestellt wurde. Stressoren in Lebenssituationen von Schule, Familie und Freizeit wurden untersucht sowie das Wohlbefinden und VerhaltensauffĂ€lligkeiten, die sich auf Gewalt- und Devianzhandlungen bezogen. FĂŒr die drei Armutgruppen wurden Differenzen zur Normalpopulation berechnet. Bemerkenswert ist dabei, dass sich fĂŒr die SchĂŒlergruppe mit LernbeeintrĂ€chtigung kaum bedeutsame Unterschiede zur Normalpopulation ergaben. Wenn ĂŒberhaupt, waren bei ihnen lediglich erhöhte Werte bei Gewalt- und Devianzhandlungen feststellbar, die sie teilweise nicht nur als TĂ€ter ausfĂŒhrten, sondern auch als Opfer erlebten.

Roland Mertens Artikel erörtert die psycho-sozialen Folgen von Armut im Zusammenhang mit der Risiko/Resilienzdiskussion. Diese Diskussion spielt in der SonderpĂ€dagogik gegenwĂ€rtig eine große Rolle (vgl. z. B. Opp u.a. 1999). Ergebnisse von LĂ€ngsschnittstudien zeigen - so Merten -, dass das Selbstbild, das Wohlbefinden und die kognitive Entwicklung vieler Kinder in Armutslagen massiv beeintrĂ€chtigt waren. In den Untersuchungen wurden zugleich protektive Faktoren entdeckt, die die Widerstandskraft (Resilienz) der Individuen trotz widrigster Lebensbedingungen stĂ€rkte. Vielversprechend wĂ€re es, wenn die begonnene Diskussion in der SonderpĂ€dagogik in empirische Forschung mĂŒndet, um prĂ€ventive und interventive Maßnahmen gezielt fĂŒr Lebenslagen von Risikokindern zu entwickeln und umzusetzen, um drohende Gefahren fĂŒr die Entstehung von BeeintrĂ€chtigungen abzuwenden.

Detlef Baums Analyse zur Ausgrenzung von Kindern in der Stadt als Folge des Aufwachsens in bestimmten sozialstrukturierten RĂ€umen rĂŒckt einen in der SonderpĂ€dagogik bisher zu wenig beachteten Gesichtspunkt in den Mittelpunkt. Allein durch den Tatbestand, dass ein Kind in sozialstrukturell deprivierten Wohngebieten wie z.B. einem "sozialen Brennpunkt" aufwĂ€chst, sei seine Entwicklung und Sozialisation gefĂ€hrdet. "Domizilbindung" trage dazu bei, dass sich Kinder ausschließlich in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld aufhalten und ihnen dadurch Erfahrungen mit anderen Menschen in priviligierten Wohnvierteln verschlossen bleiben. Davon sind wohl behinderte Kinder in Armutslagen in besonderer Weise betroffen, sei es, weil sie befĂŒrchten, angesichts ihrer Herkunft aus einem bestimmten Wohngebiet diskretierbar zu sein, oder weil sie aufgrund ihrer Behinderung immobil sind. Die von Baum skizzierten anregenden Empfehlungen fĂŒr eine kommunale Sozialpolitik, die Nachteile sozialstrukturierter RĂ€ume verringern helfen, zielen unter anderem auf die Entwicklung niedrigschwelliger Angebote, die fĂŒr alle Kinder in deprivierten Wohngebieten erreichbar sind.

Die Auseinandersetzung mit dem zweiten Themenaspekt "Generationengerechtigkeit" liegt zwar nur am Rande sonderpĂ€dagogischen Interesses. Ein schnelles Nachvollziehen einiger AufsĂ€tze setzt zudem wirtschafts- und sozialpolitisches Wissen voraus, deren Kenntnis in unserer Disziplin nicht selbstverstĂ€ndlich ist. Aber eingestreut in die verschiedenen BeitrĂ€ge finden sich immer wieder sonderpĂ€dagogisch relevante Hinweise: So etwa die kritischen Überlegungen zur Leistungsgerechtigkeit, die als Legitimation fĂŒr mehr materielle und soziale Ungleichheit herangezogen wird und durch eine auf individuelle Arbeitsleistungen abgestimmte Entlohnung hergestellt zu werden scheint - das Letztere aber ganz ĂŒberwiegend Resultat ideologischer Vorentscheidungen ist (Hengstbach, 15 f.).

Oder die AusfĂŒhrungen zur Bedarfsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft, die im Unterschied zur Leistungsgerechtigkeit SolidaritĂ€t und Gleichheit aller Menschen anerkennt und auf diesen regulativen Ideen die solidarische Alterssicherung basiert (Hengstbach, 19 ff.). Daraus lĂ€sst sich folgern, dass eine Gesellschaft, die die Leistungsgerechtigkeit verabsolutiert, andere Gerechtigkeitsvorstellungen ignoriert. FĂŒr Menschen mit Behinderungen und mangelnder LeistungsfĂ€higkeit wĂ€re keine Gerechtigkeit mehr herstellbar. Insofern setzt Gerechtigkeit ein zivilgesellschaftliches Verfahren voraus, an dem möglichst alle BĂŒrger teilnehmen.

Ferner die Gedanken zur wachsenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich in Europa, zur Korrespondenz zwischen steigendem Wohlstand und zunehmender sozialer Ausgrenzung, die einen Teil der Bevölkerung vor allem junge Menschen zu "ModernitĂ€tsverlierern" macht, die keine Chance mehr haben (Huster, 54). Dazu zĂ€hlen das Gros der SchĂŒler der Lernbehindertenschule und andere Gruppen von Jugendlichen mit Behinderungen und Benachteiligungen.

Schließlich die Vorstellungen darĂŒber, dass Sozial- und RentenkĂŒrzungen mit dem Hinweis auf die demografische Entwicklung (Butterwegge/Klundt) oder dem Argument, die Schulden abzubauen (Reuter), politisch legitimiert werden. So lassen sich jedoch die KĂŒrzungen als Folge sozialpolitischer Entscheidungen kaschieren, die sich eben nicht automatisch auf die gesunkene Geburtenrate zurĂŒckfĂŒhren lassen, oder tatsĂ€chlich zu einem ausgeglichenen Haushalt fĂŒhren, vor allem wenn man bedenkt, dass eine moderate Staatsverschuldung gesamtwirtschaftlich produktiv ist. KĂŒrzungen in der Behindertenhilfe und in der Sozialen Arbeit erscheinen dann besonders widersinnig.

Fazit: Der Sammelband ist nicht prioritĂ€r fĂŒr Experten der Disziplin SonderpĂ€dagogik geschrieben. Insofern liegen die BeitrĂ€ge zum Themenaspekt "Generationengerechtigkeit" weit von sonderpĂ€dagogischen Fragestellungen entfernt. Allerdings wird damit ein erweiterter Rahmen etwa zur Gerechtigkeitsfrage aufgespannt, in dem brisante Vorstellungen auch fĂŒr sonderpĂ€dagogisches Denken enthalten sind. "Kinderarmut" ist inzwischen Thema in der SonderpĂ€dagogik. Dazu werden in mehr als der HĂ€lfte des vorliegenden Bandes theoretische und praktische Vorstellungen dargelegt. Ihre LektĂŒre ist den Fachleuten der SonderpĂ€dagogik sehr zu empfehlen, auch deshalb, weil mehrere BeitrĂ€ge besonders fĂŒr die (Sonderschul-) Lehrerbildung verwendbar sind.
Rainer Benkmann (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rainer Benkmann: Rezension von: Butterwegge, Christoph / Klundt, Michael (Hg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit, Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen: Leske und Budrich 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003731.html