Die Beiträge des vorliegenden Handbuchs betrachten die Integrationsprozesse von Jugendlichen im deutsch-deutschen Transformationsprozess, wobei das besondere Interesse den Erfahrungskontexten in der jungen Generation der neuen Bundesländer gilt. Erklärtes Ziel ist es, die Komplexität der "geteilten Jugend" zur Diskussion zu stellen, ohne dabei einer "Normalitätsmentalität" in Forschung und Interpretation zu folgen. Dies wird versucht durch die interdisziplinäre Aufbereitung neuer sozialwissenschaftlicher Forschungsdaten und durch die Reflexion theoretischer Ansätze aus Transformationsforschung und politischer Bildung. Die HerausgeberInnen sehen das politische Handbuch dadurch gekennzeichnet, dass es nach der Beschaffenheit des Demokratisierungsprozesses, nach Zukunftserwartungen und öffentlicher Verantwortung fragt. Der Anspruch, ein "Buch für die Zukunft" vorzulegen, das Gegenwart analysiert und "Vergangenheit theoretisch gehaltvoll reflektiert" wirkt in seinem Gestus, das Ganze des Ost-West-Transformationsprozesses umfassen zu wollen, etwas überzogen. Rückt man die Beiträge davon ab, finden sich hier aber vielfältige und anregende Einblicke in die Problematik des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses unter Gesichtspunkten soziologischer und pädagogischer Jugendforschung.
Der Band gliedert sich in fünf Teile, die nach dem Verhältnis von Jugend und Politik fragen, ungleiche Chancen in Ost und West untersuchen, der Gewaltproblematik nachgehen, Demokratieerziehung und Sozialisationsinstanzen thematisieren. Sabine Andresen, Karin Bock und Hans-Uwe Otto konstatieren eine zweite Etappe der Transformationsforschung, durch die eine neue Sicht auf die Geschichte der alten BRD möglich wird und die Reziprozität der deutsch-deutschen Geschichte stärker in den Blickpunkt rückt. Für die Einschätzung des Verhältnisses von Jugendlichen zur Politik sind demnach "historisch gewachsene und kulturell geronnene Sichtweisen auf Demokratie (zu) rekonstruieren" (19). Programmatisch für den Ansatz des Handbuchs wird hier festgehalten, dass sich in den Erfahrungen von Jugendlichen die Möglichkeiten und Grenzen des Vereinigungsprozesses zeigen. Das Plädoyer, die Ost-West-Unterschiede in den politischen Kulturen Jugendlicher differenzierter zu sehen, kennzeichnet viele Beiträge des Bandes. Zwar geht man den Ungleichheiten zwischen Ost und West nach, aber in dem Wissen, dass weitere Unterscheidungskategorien greifen und einzubeziehen sind. Dennoch sprechen die Ergebnisse zahlreicher Studien, die hier aufgegriffen werden dafür, die Ost-West-Unterschiede weiterhin im Blick zu behalten. Sie scheinen immer noch größer zu sein als die zwischen den Regionen und Lebenslagen. Einen Markierungspunkt in der politischen Kultur ostdeutscher Jugendlicher finden Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Winfried Krüger und Johann de Rijke, indem sie deren Haltung als eine "unzufriedener Demokraten" charakterisieren (38). Sie bringen damit eine Ambivalenz zum Ausdruck, die auch in anderen Beiträgen hervortritt und den Blick für Uneindeutigkeiten schärft.
Hinsichtlich der geteilten deutschen Kindheiten fordert Dieter Kirchhöfer die Ost-West- Differenz nicht normativ mit Defizit und Rückstand zu belegen, sondern als Entwicklungschance aufzufassen. Er sieht in der Eigensinnigkeit ostdeutschen Verhaltens nicht vorrangig ein Erbe des DDR-Sozialismus, sondern die "Reaktion auf ein Transformationskonzept nachholender Modernisierung" (127). Die kulturelle Differenzierung von Kindheiten wird in dieser Perspektive zu einer Bereicherung und Herausforderung.
Die Ost-West-Unterschiede aus der Erfahrung des Transformationsprozesses selbst heraus zu analysieren, ist ein Ansatz, dem mehrere Autoren des Bandes folgen. So sind für Hans Merkens die Unterschiede in den politischen Einstellungen nicht primär aus der DDR-Sozialisation abzuleiten, sondern viel mehr aus der Enttäuschung über das gegenwärtige politische System. Dementsprechend ist das "Exosystem von Jugendlichen" stärker in den Blick zu nehmen (131), die Welt der Erwachsenen und deren Auswirkungen auf Jugendliche. Hier sieht Merkens ein Defizit vieler Jugendstudien.
Ausführlich widmen sich mehrere Beiträge dem Problemkomplex von Rechtsextremismus und Gewalt. So erläutern Hajo Funke und Lars Rensmann den "Rechtsextremismus neuen Typs", der aus einer vielfach tolerierten lokalen Jugend- und Gewaltkultur gebildet ist und der nicht nur ein Jugendproblem in einer Durchgangsphase darstellt, sondern ein gesellschaftliches Problem. Feststellbar ist eine "völkisch nationale Denk- und Verhaltensrichtung in großen Teilen der Jugend Ostdeutschlands" (213), die wiederum mit Zustimmung in großen Teilen der Bevölkerung rechnen kann und insofern nicht einfach als Problem einiger Extremisten abzutun ist. Seit Mitte der neunziger Jahre zeigt sich eine Verfestigung des Rechtsextremismus im Zuge der Durchsetzung einer rechten Alltagskultur, die Funke und Rensmann als "erfolgreiche Jugendbewegung des Alltagsrassismus" kennzeichnen (216). Um dieses Phänomen angemessen untersuchen zu können, reicht ein normativer Extremismusbegriff nicht aus. Vielmehr bedarf es eines erweiterten, sozialwissenschaftlichen Begriffs von Rechtsextremismus, der historisch-mentale Traditionen und aktuelle politische Konstellationen einbezieht. Auch hierfür wird die Transformationserfahrung selbst zu einem wichtigen Bezugspunkt. Offensichtlich ließ sich der Umgang mit dem Umbruch an das "autoritäre Dispositiv" von NS- und DDR-Erbschaft anschließen (221). Hinter dieser scharfen Analyse bleiben formulierte Konsequenzen wie die "Revitalisierung der Demokratie" zurück. Politisch brisanter ist demgegenüber die Forderung, "auf die Rhetorik der Fremdenabwehr zu verzichten" und die Menschenwürde von Asylbewerbern anzuerkennen (228). Damit rücken die Autoren das Problem des Rechtsextremismus in die Mitte der Gesellschaft, aus der es hervorgeht. Weitere Beiträge zu diesem Themenfeld widmen sich neueren Studien zur Ausländerfeindlichkeit, Gewalt im Schulkontext und in Jugendcliquen sowie der Rolle von Mädchen in gewaltauffälligen Jugendgruppen. Letzteres repräsentiert eher ein Randthema des Bandes, der Geschlechteraspekt bleibt weitgehend im Hintergrund, wird zwar nicht ausgeblendet, erhält aber wenig analytische Aufmerksamkeit.
Bei der Betrachtung von Sozialisationsinstanzen setzt Uta Meier dieser Vernachlässigung eine gender-orientierte Analyse von Familie und Kindheit entgegen. Sie stellt einen "allgegenwärtigen Mangel an Geschlechtersolidarität" im Bildungssystem und in Familienkontexten fest (368). Das erwerbsarbeitszentrierte Paradigma der Industriegesellschaft vertieft die Ungleichheitsstrukturen zwischen den Geschlechtern, weshalb Meier für eine "tiefgreifende Neuorganisation" von Familien- und Erwerbsarbeit eintritt (373). Eine zeitgemäße Jugendforschung hat die "doing-gender-Strukturen" in Familie, Schule und Beruf stärker zu berücksichtigen.
Einen demokratietheoretischen Zugang zur Auseinandersetzung mit Jugend in Ost und West eröffnet Micha Brumlik in seiner Kritik des Kolonialisierungstheorems und der Totalitarismustheorie. Auf dem Hintergrund einer liberalen Theorie der Politik betrachtet Brumlik den DDR-Sozialismus als segregationistische Praxis, die ein völkisches Gemeinschaftsbewusstsein begünstigt hat. Um dies zu erkennen, kann die Totalitarismustheorie als "Phänomenologie repressiver Herrschaftsformen" brauchbar sein, nicht aber als erklärende Theorie (296). Für Brumlik beeinflusst die Erfahrung des DDR-Sozialismus insbesondere das Verhältnis zu "Fremden" und führt dazu, dass das Verständnis für demokratische Lebensformen sich in einem langfristigen Prozess erst noch entwickeln muss. Hier kommt nun eine Kontroverse in die Auseinandersetzung, die das Handbuch erfreulich belebt. Denn Thomas Krüger fragt, ob dem Westen noch zu helfen sei. Sein Beitrag liegt quer zu manchen anderen in dem Band, ist streitbar und provokativ. Krüger beklagt undifferenzierte Betrachtungen der ostdeutschen Gesellschaft und das leichtfertige Unterstellen einer zu schwachen Zivilgesellschaft, wohingegen dem Westen im Umkehrschluss eine lebendige Zivilgesellschaft bescheinigt werde. Demokratie als Lebensform ist aber auch im Westen nicht unbestritten, und der größte Teil der organisierten Rechtsextremen stammt aus dem Westen. Krüger setzt sich ausdrücklich von jeglichem Rückgriff auf die Totalitarismustheorie ab, da sie den Blick für alltagskulturelle Relevanzen verstellt und an "Vormachtsinteressen" geknüpft ist (309). Demgegenüber favorisiert er einen alltagskulturellen Ansatz, der den Horizont für Biografien öffnet, Empathie ermöglicht und unkonventionelle Wege zulässt. In dieser Richtung schlägt Krüger auch die Neupositionierung politischer Bildung vor, die Aktivierung, Partizipation und demokratische Gestaltungskompetenzen fördert. Seine konzeptionellen Ausführungen ziehen die Konsequenz aus dem festgestellten "blamablen Praxisdefizit" der Rechtsextremismusdebatte (300).
Mehr Beiträge von dieser Art hätten den Band griffiger und aufregender gemacht. Ein ähnlich herausfordernder Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis gelingt Isabell Diehm mit ihrer Kritik des Toleranzkonzepts. Toleranz als Erziehungsziel hat soziale Effekte, die pädagogisch nicht gewollt sein können. Toleranzforderungen beziehen sich stets auf Identitäten und schaffen Subjekttypen durch eine diese kennzeichnende Differenz. Differenzmerkmale werden überhöht und Essentialismen ins Positive gewendet. Nur die Anerkennung jenseits der Tolerierung könnte Erziehungsziel sein. Mit diesem Ansatz lässt sich auch der Rechtsextremismus nicht mehr als Problem von Intoleranz, sondern von Respektlosigkeit erkennen. Diehm, wie auch Krüger, Funke und Rensmann bieten theoretische Zugänge zu sozialwissenschaftlichen Befunden und ermöglichen zugleich ein konzeptionelles Weiterdenken für die praktische Bildungsarbeit und Sozialpädagogik sowie die Jugendhilfe. Dies erreichen nicht alle Beiträge des Bandes. Sie bieten aber eine Fülle von Material für eine der Komplexitätsforderung folgende Auseinandersetzung mit Jugend in Ost und West. Zahlreiche Literaturhinweise nach jedem Beitrag ermöglichen eine vertiefende Weiterarbeit, ein Stichwortregister erleichtert die Arbeit mit dem Buch. Einblicke in neueste Befunde von Jugendstudien im Ost-West-Vergleich sowie die vielfältigen Ansätze zur Interpretation dieser Befunde zeichnen ein facettenreiches Bild der aktuellen Ost-West-Verhältnisse. Dabei gelingt es weitgehend, Homogenisierungen von Ost- und Westdeutschen zu vermeiden. Dennoch erscheint auch hier wieder in erster Linie die Ostjugend als Problemgruppe. Aber vielleicht ist gerade dieser Untersuchungsfokus Ausdruck der geteilten Zustände in der neuen Bundesrepublik.
EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)
Vereintes Deutschland – geteilte Jugend
Ein politisches Handbuch
Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003
(492 Seiten; ISBN 3-8100-3560-2; 24,90 EUR)
Astrid Messerschmidt (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Andresen, Sabine / Bock, Karin / Brumlik, Micha / Otto, Hans-Uwe / Schmidt, Mathias / Sturzbecher, Dietmar (Hg.): Vereintes Deutschland – geteilte Jugend, Ein politisches Handbuch, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003560.html
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Andresen, Sabine / Bock, Karin / Brumlik, Micha / Otto, Hans-Uwe / Schmidt, Mathias / Sturzbecher, Dietmar (Hg.): Vereintes Deutschland – geteilte Jugend, Ein politisches Handbuch, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003560.html