Der Titel und der Umschlag des hier besprochenen Bandes von Merle Hummrich, dem eine erziehungswissenschaftliche Dissertation an der Universität Mainz zugrunde liegt, legen nahe, dass Gegenstand des Buches der Zusammenhang zwischen Erfolg im Bildungssystem und Migration in einem Sinne sei, wie er gegenwärtig in Reaktion auf PISA viel diskutiert wird. Der Band wird daher in der Titelsammlung all derer auftauchen, die nach sozialwissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema "googlen". Damit werden sie jedoch zunächst irre-, wenn auch nicht unbedingt fehlgeleitet. Gegenstand des Buches sind zwar in der Tat junge bildungserfolgreiche Migrantinnen, die Autorin interessiert aber vor allem die Frage, wie diese Migrantinnen "Sozialisations- und Transformationserfahrungen in ihrer Subjektkonstruktion" verarbeiten. Für die schulische Bildungsdebatte ist das Buch also zunächst nur mittelbar interessant, sofern man nämlich davon ausgeht, dass die subjektiven Erfahrungs- und Verarbeitungsmodi von Migrantinnen bezüglich der für sie gültigen Lebensbedingungen bedeutsam für Bildungsaufstiegsprozesse selbst sind. Hummrich selbst geht auf die erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Konsequenzen ihrer Arbeit nur kurz im letzten Kapitel ein.
Unter "Subjektkonstruktion" versteht Hummrich allgemein den Aspekt des Selbstpräsentationsmodus von Individuen, aus dem hervorgeht, inwieweit vergangene oder gegenwärtige Handlungen von diesen sich selbst als eigenverantwortliche, selbstbestimmte oder fremdbestimmte Entscheidungen zugerechnet werden und inwiefern sie daher das, was sie sind bzw. als was sie sich und anderen gelten, als Ausdruck von Autonomie oder Heteronomie markieren. Kurz: Im Modus ihrer Selbstpräsentation bestimmen und entwerfen sich Individuen mehr oder weniger als Subjekte oder eben Objekte der Handlungszusammenhänge, die sie als für sich selbst relevante in der Zeit beschreiben. Da die Rede über die Vergangenheit immer ein Modus des Operierens in der Gegenwart ist, überrascht es nicht, dass Hummrich die genannten Verarbeitungsprozesse von bildungserfolgreichen Migrantinnen durch biographische Interviews zu erfassen sucht. Das Buch von Hummrich besteht daher aus der Analyse von 6 biographischen Interviews mit studentischen Migrantinnen, die sie unter Rückgriff auf Verfahren der Objektiven Hermeneutik und der Schütze’schen Biographieanalyse analysiert.
Theoretisch geht Hummrich davon aus, dass Migrantinnen den Bildungsprozess in Auseinandersetzung mit den drei "Vergesellschaftungsformen Klasse, Geschlecht und Ethnizität" als "ungleichheitsstiftende Faktoren" durchlaufen – Bildungsprozess dabei verstanden immer in einem doppelten Sinne: empirisch als Durchlauf des Bildungssystems in Relation insbesondere zu den Erwartungen der Familie/Verwandtschaft, den Organisationen des Bildungssystems und seines Personals (insbesondere Lehrer) sowie der peers; kategorial als Bildungsprozess der Migrantinnen zu mehr oder weniger autonomen Subjekten. Als zentrale Bedingung für solche Bildungsprozesse gelten ihr also die Ungleichheitsverhältnisse der modernen Gesellschaft und sie fragt danach, wie diese in Bildungsprozesse der von ihr befragten Migrantinnen hineinragen, in ihren biographischen Sinnverarbeitungsprozessen zur Geltung kommen und diese insbesondere mit Bezug auf die Erfahrung von Autonomie vs. Heteronomie strukturieren.
Das Buch besteht in seinem Kern im Anschluss an zwei Kapitel zu Theorie und Methode der Studie zu ca. 160 Seiten aus der Analyse der sechs Einzelfälle sowie einem anschließenden vergleichenden Kapitel. Den Schluss bildet ein Versuch zur Typenbildung sowie eine "theoretisierende Schlussbetrachtung". Sein Verdienst besteht zum einen darin, dass mit solchen Arbeiten wie der vorliegenden an etwas erinnert wird, was man für eine Selbstverständlichkeit halten sollte, wäre es nicht anders: Wer etwas über die Bedingungen von Erfolg lernen will, sollte nicht vor allem Misserfolge untersuchen. Genau darauf konzentriert sich aber häufig die Migrationsforschung im Falle der Bildungskarrieren von Migranten. Zum anderen vermittelt die Arbeit von Hummrich durch ihren sehr genauen Untersuchungsstil einen Einblick in die überraschenden Konstellationen, unter denen Migrantinnen der zweiten Generation Bildungsaufstieg als Bewältigung der Herausforderungen gelingt, mit denen sie familiär sowie aufgrund des sozialen Status ihrer Eltern, der schulischen Bewältigungsformen von Migration sowie von verschiedenen Formen der Fremdheitszuschreibung konfrontiert sind. Sie führt dabei nicht nur die Differenziertheit der familiären Migrationshintergründe vor Augen, sondern verdeutlicht vor allem eindringlich, wie wenig einschlägige Stereotype über patriarchale Strukturen, die Rolle von Müttern und Vätern, über Tradition und Moderne etc. weiterhelfen und welch überraschende Optionen sozialer Mobilität von den befragten Migrantinnen in migrations- und sozialstatusbedingt verwickelten Konstellationen entdeckt und ergriffen werden. In der Analyse (oder vorsichtiger: der Präsentation) der Fälle wird deutlich, dass Bildungsaufstieg für die Befragten sehr Verschiedenes bedeutet, von diesen teils als fremd-, teils als selbstbestimmt, mal als Übereinstimmung und Fortsetzung familiärer Tradition und Erwartungen und mal als Bruch damit konzipiert wird. Für die erziehungswissenschaftliche ebenso wie für die öffentliche Diskussion über die Bedingungen des Erfolgs von Migrantinnen können diese Differenzierungen nur hilfreich sein.
In normativer Absicht geht es Hummrich in ihren einzelnen Analysen immer auch um die Bestimmung des Autonomiepotentials (im Gegensatz zu Heteronomiepotential), das sie mit den Modi der "Subjektkonstruktion" verbunden sieht. In dem abschließenden Teil nach der vergleichenden Analyse der Fälle präsentiert sie entsprechend eine Typologie, in der sie die Fälle danach sortiert, welches diesbezügliche Potential sowie welche damit verbundenen Formen der "transformativen" oder "reproduktiven Erfahrungsverarbeitung" sie mit diesen verbunden sieht. Auf diese Typologien soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. In ihnen wird jeweils weitgehend wiederholt, was zuvor schon ausgeführt ist, und es bleibt offen, welcher Generalisierungsanspruch damit eigentlich verbunden werden soll/kann. Darüber hinaus wirken sie zudem ebenso wie das Schlusskapitel nach der Lektüre des Buches bis zu dem entsprechenden Kapitel vor allem aus methodischen Gründen ein wenig angestrengt. Das gilt ähnlich für viele Passagen der Fallanalysen. Das soll abschließend begründet werden.
Hummrich verortet sich mit ihrer Arbeit wie ausgeführt im Bezugsrahmen der soziologischen Biographieforschung sowie der Objektiven Hermeneutik und unterwirft sich methodisch Standards der Analyse, die sie dazu veranlassen, sehr detailgenau zu analysieren – und darin besteht wie ausgeführt gegenstandsbezogen auch das zentrale Verdienst der Arbeit. Diese Standards werden dann aber in vielen Hinsichten nicht eingehalten. Man zögert aus einem einfachen Grund zunächst, ihr dies entgegenzuhalten: Forschungen auf der Grundlage der sog. qualitativen Verfahren tun sich bis heute wiederkehrend schwer damit, eine angemessene Präsentationsform für ihre Ergebnisse zu finden. Alle Versuche, die Schwierigkeit zu lösen, dass die interpretative Analyse der empirischen Materialien als Rekonstruktion der operativen Struktur von Sozialität immer auch einen Teil der Forschungsergebnisse ausmacht, dies aber den Rahmen der Darstellung sprengt, laufen Gefahr, zu "faulen Kompromissen" zu geraten. Das ist der Autorin nicht individuell anzulasten – zumal sie, was positiv zu vermerken ist, die Erzeugungssituation ihrer Daten, das Interview, überzeugend als eigenständige, konstitutive soziale Strukturbedingung für die Erzeugung ihrer Daten analysiert. Der von ihr gewählte Darstellungsmodus bleibt aber leider in vielen Hinsichten nicht folgenlos für den systematischen Ertrag des Buches. Nachfolgend seien einige solche methodischen Schwierigkeiten benannt.
a) Wer sich durch die Analysen von Hummrich im Detail hindurch liest und die Argumentation nachzuvollziehen versucht – und eben dies wird für die ersten beiden Analysen versprochen: Nachvollziehbarkeit –, der ärgert sich, wenn mitten in der Analyse pauschal auf Interviewpassagen verwiesen wird, die die vorgetragene Interpretation abstützen sollen, ohne dass zumindest diese Passagen, wenn schon nicht die Analysen zugänglich gemacht werden. Wozu wird man aufgefordert nachzuvollziehen? Dann ist es konsequenter, wenn die Ergebnisse gleich summarisch vorgetragen werden. Zu vermuten ist, dass hier passagenweise einfach gekürzt worden ist, und das führt dann zu den genannten Unstimmigkeiten.
b) Die Autorin beruft sich für ihre Analysen darauf, dass es sich um die Zusammenfassungen von mehrstündigen Interpretationssitzungen in einschlägigen Forschungskolloquien handele. Kriterium der Analyse können aber natürlich nicht die Ergebnisse solcher Sitzungen sein, sondern ausschließlich die sprachlichen und parasprachlichen Formen der Kommunikation in den transkribierten Daten. Hier finden sich aber einige ziemlich grobe Schnitzer: So ist wiederkehrend von Erzählungen die Rede, auch wenn die Befragten ganz offensichtlich nicht erzählen, sondern begründen, berichten o.ä. Dies zu vermerken, mag auf den ersten Blick pingelig erscheinen, systematisch bedeutsam ist dies aber dort, wo im gleichen Zusammenhang von "biographischer Gesamtformung" und "immanenten und exmanenten Nachfrageteilen" die Rede ist. Vorausgesetzt sind damit nämlich Narrationen und die für Schütze und seine Schule daraus resultierenden Gestaltschließungszwänge. Stützt man sich in der Analyse auf solche Annahmen, dann sind auch die entsprechenden formalen Bedingungen einzuhalten.
c) An verschiedenen Stellen wird reklamiert, dass in der Analyse strikt sequenziell vorgegangen werde. Aber schon in der ersten ausführlichen Analyse wird z.B. Migration extern als relevante Interpretationsfolie für die Äußerungen der Befragten eingeführt. Vielleicht muss man sich ja an solche Regeln gar nicht halten (obwohl dies für die Interpretation des Falles m.E. folgenreich wäre, was hier nicht ausgeführt werden kann). Es gehört aber zu einer weiteren Misslichkeit des Buches, dass es sich über weite Passagen einen methodischen und theoretischen Argumentationsstil zu eigen macht, wie er aus der "Frankfurter Schule der Objektiven Hermeneutik" vertraut ist. Dieser gerät in seiner reklamierten Rigorosität schnell zum Gestus und damit zum Jargon, wenn er substantiell nicht eingelöst wird. In dem Text von Hummrich schlägt sich dies u.a. in ihrer Verwendung des Hypothesenbegriffs sowie der Begriffe Widerspruch, Paradoxie/Antinomie/Ambivalenz nieder. Zwei Beispiele: 1) Es irritiert, wenn wiederkehrend von "riskanten Strukturhypothesen" gesprochen wird, die "gewagt" werden, ohne dass recht ersichtlich wird, was eigentlich riskiert wird. Im Verlauf der Analysen kommt es auch zu keiner Verwerfung der "riskierten Hypothesen". Im Durchgang durch den Text wird dieser heroische Sprachduktus damit zunehmend unangenehm. 2) Die Verwendung der Terminologie von Widerspruch, Paradoxie und Antinomie im Text ist ausgesprochen unübersichtlich und passagenweise inflationär. Es will oftmals nicht recht einleuchten, warum es sich um Widersprüche oder Paradoxien handelt: Was ist paradox daran, dass ein Vater es aufgrund seiner "patriarchalen Macht" und auf der Basis von "Fremdbestimmung" seiner Tochter ermöglicht, zu studieren und einen frauenatypischen Beruf zu ergreifen (S. 259). Das mag überraschend sein, es bleibt aber hier wie an vielen anderen Stellen unklar, was mit der Belegung solcher Handlungsweisen als paradox, antinom etc. gewonnen ist.
d) Zu Beginn des Buches wird theoretisch von der Relevanz der drei ungleichheitserzeugenden Vergesellschaftungsformen Klasse/Geschlecht/Ethnizität ausgegangen. Nun besteht ein Vorteil und damit auch eine Herausforderung für interpretative Verfahren genau darin, die Relevanz solcher gesellschaftstheoretischen Strukturannahmen im Detail zu erweisen, d.h. als gültigen Strukturierungszusammenhang, an dem Individuen ihr Handeln ausrichten müssen. Man kann starke Zweifel daran haben, ob der gewählte Rahmen theoretisch überzeugend ist oder ob nicht unter modernisierungstheoretischen Gesichtspunkten (die dann in der Arbeit eine viel größere Rolle spielen, als zu Beginn angekündigt) eine Auseinandersetzung mit funktionalen Differenzierungstheorien näher gelegen hätte. Das ist aber hier nicht entscheidend, sondern wichtiger ist, dass die Arbeit erst in den abschließenden Kapiteln auf diesen Rahmen zurückkommt und die Analysen gewissermaßen darunter subsumiert – für Objektive Hermeneuten bekanntermaßen der Sündenfall. Wer sich über den Sündenkatalog dieser Schule nicht zu viele Sorgen macht, wird gleichwohl registrieren, dass die Autorin es damit versäumt, die Erschließungskraft des gewählten Theorierahmens wirklich auszuprobieren. Das hätte im Detail einiges erbringen können, wie – nach eigenem Ausprobieren – im detaillierten Durchgang durch den ersten Fall leicht gezeigt werden könnte. Man fragt sich dann in diesem Zusammenhang allerdings, warum die Autorin es versäumt, über den Bezug auf die modischen Modelle der "dreifachen Vergesellschaftung" und Bourdieu hinaus auf klassische Untersuchungen zur sozialen Aufsteigerproblematik einzugehen, wo vieles von dem vorformuliert ist, was das Buch dann schließlich an Einsichten erbringt (oder auch wiederholt).
Fazit: Merle Hummrichs Buch ist ein verdienstvolles Buch, so weit es detaillierte Einblicke in die verschlungenen Konstellationen erlaubt, unter denen es Migrantinnen der Zweiten Generation gelingt, das Bildungssystem erfolgreich zu durchlaufen. In methodischer und theoretischer Hinsicht vermag das Buch weniger zu überzeugen. Es mutet sich (und dem Leser) zu viel zu und wird dadurch in seiner Durchführung wie in seinem Ertrag unübersichtlich.
EWR 2 (2003), Nr. 4 (Juli/August 2003)
Bildungserfolg und Migration
Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft
Opladen: Leske und Budrich 2002
(350 Seiten; ISBN 3-8100-3429-0; 36,00 EUR)
Michael Bommes (Osnabrück)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Bommes: Rezension von: Hummrich, Merle: Bildungserfolg und Migration, Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft, Opladen: Leske und Budrich 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003429.html
Michael Bommes: Rezension von: Hummrich, Merle: Bildungserfolg und Migration, Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft, Opladen: Leske und Budrich 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003429.html