EWR 1 (2002), Nr. 3 (Juli 2002)

Hans-Uwe Otto / Thomas Rauschenbach / Peter Vogel (Hrsg.)
Erziehungswissenschaft in Studium und Beruf
Eine Einführung in vier Bänden
Opladen: Leske und Budrich 2002
Erziehungswissenschaft in Studium und Beruf Band 1: Erziehungswissenschaft: Politik und Gesellschaft
(226 S.; ISBN 3-8100-2726-X; UTB-ISBN 3-8252-8192-2; EUR 14,90)
Band 2: Erziehungswissenschaft: Lehre und Studium
(281 S.; ISBN 3-8100-2727-8; UTB-ISBN 3-8252-8193-0; EUR 14,90)
Band 3: Erziehungswissenschaft: Professionalität und Kompetenz
(262 S.; ISBN 3-8100-2728-6; UTB-ISBN 3-8252-8194-9; EUR 14,90)
Band 4: Erziehungswissenschaft: Arbeitsmarkt und Beruf
(228 S.; ISBN 3-8100-2729-4; UTB-ISBN 3-8252-8195-7; EUR 14,90)

Noch eine vierbändige "Einführung in die Erziehungswissenschaft"? So wird sich mancher spontan fragen, der etwa an Heinz-Herrmann Krügers im selben Verlag seit 1995 bereits mehrfach aufgelegten "Einführungskurs Erziehungswissenschaft" denkt, oder auch die vier primär hochschuldidaktisch konzipierten "Studienbücher Erziehungswissenschaft" vor Augen hat, die Franzjörg Baumgart seit 1997 bei Klinkhardt veröffentlicht hat. Die Häufigkeit solcher und ähnlicher Publikationen könnte, neben verlegerischen Erwägungen, allerdings auch ein Zeichen dafür sein, daß die Erziehungswissenschaft und ihre Themen und Probleme heute einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert haben als noch vor zwanzig oder gar vor fünfzig Jahren. Nicht nur deshalb müßte gelungene Einführungsliteratur stets willkommen sein.

Äußerer Anlaß für die Entstehung der vorliegenden Bände, an denen ca. 70 Autorinnen und Autoren mitgearbeitet haben, war die erste professionspolitische Konferenz von Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern aller Richtungen im Frühjahr 1999 in Dortmund. Als übergreifenden sachlichen Auslöser nennen die Herausgeber in ihrer Einführung, die allen Einzelbänden gleichlautend vorangeht, "daß nach wie vor ein großer Bedarf an einer Auseinandersetzung mit den fachlichen Eckwerten und den Fragen einer professionellen Identität besteht" (S. 9).

Die Problematik einer professionellen Identität sehen sie als Resultat des "weitreichenden Gestaltwandels" (S. 7) der Erziehungswissenschaft in den letzten 50 Jahren, der zwar einerseits zu einer Expansion und Etablierung der Disziplin geführt habe, andererseits aber mit einer "erheblichen fachinternen Dynamik" (S. 8) einhergegangen sei und noch einhergehe. Wichtigstes Kennzeichen dieser das Fach bisweilen überfordernden Dynamik sei, daß "die Ausbildungsverantwortung für die große Zahl der Studierenden nicht durchgängig als eine eigenständige akademische Aufgabe und Herausforderung anerkannt [werde], die mehr sein [müsse] als die Weitergabe allein disziplinären Wissens" (ebda.).

Das daraus entstandene Spannungsverhältnis zwischen dem verbreiteten traditionsorientierten "Beharrungsvermögen" der Disziplin und einem den wissenschaftsimmanenten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepassten "professionellen Veränderungsbedarf" ist der Ausgangspunkt des Einführungskurses. Dessen Anspruch ist es, "zentrale Bezugspunkte einer modernen Erziehungswissenschaft [aufzugreifen], wesentliche Orientierungen für Studium und Beruf [zu liefern] sowie für alle Studiengänge und Berufsgruppen grundlegende Entwürfe, Perspektiven und Wissensbestände [aufzubereiten]" (S. 9). Insgesamt soll damit ein grundlegender Beitrag "zu einer Professionalisierung akademisch-pädagogischer Berufe" (S. 8f.) geleistet werden.

Zu diesem Zweck sind alle Bände durchgängig dreiteilig aufgebaut. Auf einen einführenden und grundlegenden Abschnitt, in dem Begriffsklärungen und der Diskussionsstand zum jeweiligen Thema überblickartig präsentiert werden ("Grundlagen" bzw. "Grundlagen und Grundfragen"), folgt in den ersten drei Bänden eine differenzierte Auseinandersetzung mit thematisch einschlägigen Fragestellungen und Problemen aus unterschiedlichen Perspektiven ("Kontroversen"), im vierten Band stattdessen ein Überblick über "Neue Aufgaben und Beschäftigungsfelder" für Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler. Quellentexte und einschlägige qualitative und quantitative Daten und Befunde liefert jeweils der Abschnitt "Materialien". Neben diesem erleichtern das Studium der Bände die durchgängige Verwendung von Marginalien sowie umfangreiche Literaturangaben jeweils am Ende der Texte. Die Einzelbeiträge stammen von renommierten Autorinnen und Autoren und "bilden ein breites Spektrum des gegenwärtigen Fachdiskurses ab" (Umschlag).

Der erste Band zum Thema "Politik und Gesellschaft" vereint im Abschnitt Grundlagen sieben Beiträge zur gesellschaftlichen Einordnung der Erziehungswissenschaft, u.a. aus den Perspektiven von "Politik" (Ingrid Gogolin) und "Wissenschaftssystem" (Rudolf Tippelt) oder mit Blick auf "mediale Öffentlichkeiten" (Jochen Kade/Sigrid Nolda) und "einen globalisierten Horizont" (Christoph Wulf). Kontrovers diskutiert werden u.a. das Verhältnis von gesellschaftlichen Ansprüchen an Pädagogik und pädagogische Leistungsfähigkeit (Micha Brumlik bzw. Heinz-Elmar Tenorth), der Stellenwert erziehungswissenschaftlicher Forschung im Studium (Christian Lüders) und die zunehmende Tendenz, pädagogische Bereiche nach Kriterien des Managements zu strukturieren (Dieter Timmermann). Einschlägige Materialien bietet die Zusammenstellung von kurzen Quellentexten zum Verhältnis von Pädagogik und Politik (Peter Kauder), die sehr interessante Zeittafel "zur institutionellen Entwicklung der Erziehungswissenschaft in Deutschland" seit August Herrmann Francke (Klaus-Peter Horn) sowie die quantitative Bestandsaufnahme der gegenwärtigen "Erziehungswissenschaft im Hochschulsystem" (Ivo Züchner).

Im zweiten Band mit dem Titel "Lehre und Studium" bekommt man zunächst im Grundlagenkapitel einen differenzierten Überblick über allgemeine und spezielle Probleme der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Studiengänge. (Die Herausgeber, Ewald Terhart u.a.) Die anschließenden Kontroversen drehen sich in diesem Band vorrangig um Fragen der Vereinbarkeit bzw. Gewichtsverteilung von theoretischen und auf Forschung bezogenen Studienanteilen und solchen der Praxisorientierung bzw. Berufsqualifikation (Peter Kauder, Hans Merkens u.a.). Spezifische Sichtweisen auf das erziehungswissenschaftliche Studium bieten Beiträge aus der Biografieforschung (Barbara Friebertshäuser/Margret Kraul) und aus der Frauenforschung (Hannelore Faulstich-Wieland). Weitere Themen sind die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen von obligatorischen Anteilen in der Ausbildung, kurz gefasst als "Kerncurriculum Erziehungswissenschaft" (Lothar Wigger/Klaus-Peter Horn), sowie Aspekte der Ökonomisierung der Erziehungswissenschaft (Jan-Hendrik Olbertz) als Folge u.a. der "Europäisierung und Internationalisierung von Hochschule und Studium" (Karola Kampf/ Günther Sander). Zahlenmaterial zur Verteilung der Studierenden auf die verschiedenen Studiengänge seit 1975 (Ivo Züchner) und "Stellungnahmen erziehungswissenschaftlicher Gremien zu Ausbildungsfragen" (1956-1998) in Form von Quellentexten (Klaus-Peter Horn) begleiten die Kontroversen.

Der dritte Band, "Professionalität und Kompetenz", behandelt im Abschnitt Grundlagen die im Professionalisierungsdiskurs zentrale Frage, was Lehrerinnen und Lehrer bzw. Diplom-Pädagoginnen und Diplom-Pädagogen können müssen. Die entsprechenden Profilbeschreibungen "LehrerIn" (Karl-Oswald Bauer) und "Diplom-PädagogIn" (Karin Böllert/Wolfgang Nieke) sind eingerahmt von terminologischen Klärungen der Begriffe "Kompetenz" (Wolfgang Nieke) und "Professionalität" (Arno Combe/Werner Helsper) sowie von Überlegungen zu Einflußfaktoren und Reflexionsformen professionellen pädagogischen Handelns. Anknüpfend an die Frage, ob "Qualitätsentwicklung" bzw. Qualitätssicherung "eine neue Herausforderung" für die Erziehungswissenschaft sei (Bernd Dewe/Lutz Galiläer), werden Anforderungen an pädagogische Professionalität aus verschiedenen Blickwinkeln, wie etwa Unterricht (Hartmut Wenzel), Erwachsenenbildung (Wiltrud Gieseke), Sozialpädagogik (Hans Thiersch) und Berufspädagogik (Anne Busian/Günter Pätzold), konkretisiert und kontrovers diskutiert. Passende historische Materialien zur Frage "der 'geborene Erzieher'?" (Peter Kauder) liefert die Quellensammlung aus vier Jahrhunderten.

Der vierte Band, "Arbeitsmarkt und Beruf", behandelt im Kapitel Grundlagen und Grundfragen den Übergang von erziehungswissenschaftlichen Studiengängen in den Beruf, zunächst in allgemeinem Zugriff (Christiane Schiersmann), danach differenziert nach den Abschlüssen Lehramt (Klaus Klemm), Diplom (Thomas Rauschenbach) und Magister (Cornelia Gräsel/Rudolf Tippelt). Die Gegenüberstellung von Absolventenzahlen und Beschäftigungssituation auf dem Arbeitsmarkt ist - neben vorsichtigen Prognosen - vor allem dazu geeignet, verbreitete öffentliche Einschätzungen und Bewertungen erziehungswissenschaftlicher Ausbildung und Berufstätigkeit zu korrigieren. Ein Überblick über die Vielfalt "neuer Aufgaben und Beschäftigungsfelder" im Anschluß an ein erziehungswissenschaftliches Studium - die Spannbreite reicht von Spezialisierungen etablierter Bereiche wie "Sozialgerontologie", "Pflegepädagogik" und "Frauen- und Mädchenarbeit" über "Kulturpädagogik und Kulturarbeit" sowie "Neue Medien" bis hin zu primär ökonomisch geprägten Tätigkeiten in der "Wirtschaft" im allgemeinen bzw. in "Sozialmanagement", "Bildungsmanagement" oder "'Neuer Selbständigkeit'" im besonderen - ersetzt in diesem Band das Kapitel Kontroversen aus den anderen drei Bänden. "Wenn Erziehung zum Beruf wird", ist die leitende Fragestellung der abschließenden Materialsammlung von Daten und Befunden zur "Entwicklung und Zukunft von Hauptfach-PädagogInnen und LehrerInnen" (Ivo Züchner).

Die so gewählte Dramaturgie der vier Bände, Politik und Gesellschaft, Lehre und Studium, Professionalität und Kompetenz, Arbeitsmarkt und Beruf, läßt wenig Zweifel daran aufkommen, daß der Schritt weg vom traditionsorientierten "Beharrungsvermögen" der Disziplin hin zu professionalitätsorientierten Veränderungen nicht nur thematisiert oder als Bedarf eingefordert wird, sondern vor allem vor dem Hintergrund der theoretischen Möglichkeiten der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung auch vollzogen werden soll. Insofern erfüllt der Einführungskurs seine eigenen Ansprüche weitgehend.

Ob in dem spürbar favorisierten Zugriff von gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen und Funktionsbeschreibungen und -zuschreibungen Traditionsstränge erziehungswissenschaftlichen Denkens vernachlässigt oder ganz ausgeblendet werden (müssen), bleibt ausführlich zu diskutieren. Zumal deshalb, weil nicht auszuschließen ist, daß erziehungswissenschaftliche Professionalität auch bedeutet, wissenschaftsimmanente und gesellschaftliche Rahmenbedingungen als solche, d.h. in ihrer jeweiligen Faktizität und Funktionalität, infragestellen zu können, um ihnen gegebenenfalls entgegenzuwirken, statt sich ihnen "anzupassen" (vgl. S. 8).

Der Einführungskurs insgesamt ist geeignet, die Problematik der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft zwischen Studium und Beruf - in der Mehrzahl der Beiträge auch für Einsteigerinnen und Einsteiger - transparent zu machen. Eine solche Verortung kann überdies deutlich machen, daß die "Ausbildungsverantwortung [als] eigenständige akademische Aufgabe und Herausforderung" (S. 8) zunehmend unter den Druck nicht-akademischer Eingriffe gerät. Dem Ziel, zu einer Professionalisierung akademisch-pädagogischer Berufe beizutragen, kommen die vier Bände somit ein großes Stück näher.

Im Vergleich mit den eingangs angesprochenen und ähnlichen Publikationen füllt dieser Einführungskurs in der Tat, wie die Verlagswerbung betont, eine Lücke. Gewinnbringend können die Bände dann sein, wenn man sie komplementär zu solchen Einführungen in die Erziehungswissenschaft studiert, die - neben anderem - auf Einsichten beharren, die bislang gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber (noch) weitgehend resistent sind.
Andreas Poenitsch (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Poenitsch: Rezension von: Otto, Hans-Uwe / Rauschenbach, Thomas / Vogel, Peter (Hg.): Erziehungswissenschaft in Studium und Beruf, Eine Einführung in vier Bänden, Opladen: Leske und Budrich 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.07.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81002726.html