EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)

Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.)
Die Praxis der Reformpädagogik
Dokumente und Kommentare zur Reform der öffetnlichen Schulen in der Weimarer Republik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005
(285 S.; ISBN 3-7851-1292-4; 18,00 EUR)
Die Praxis der Reformpädagogik „Man möchte näher heran an das tatsächliche Leben in der Schule, als es durch geistesgeschichtliche und ideengeschichtliche Darstellungen und Dokumentationen in den Monographien (...) möglich ist“ (7). Um reformpädagogische Grundideen praxisnah aufzufächern, hat Inge Hansen-Schaberg einen Studienband herausgegeben, den sie als Fortsetzung der Arbeit von Dieter Hoof aus dem Jahr 1969 [1] versteht und als Ergänzung zu weiteren Quellentextsammlungen, die bis heute erschienen sind, einordnet. Dabei hat sie Textauszüge von Autorinnen und Autoren zusammengestellt, die sich zwischen 1918 und 1935 für schulreformerische Bemühungen im Sinne der „Pädagogik vom Kinde aus“ engagierten. In ihren Dokumenten haben die damaligen Autorinnen und Autoren ihre Erfahrungen und Beobachtungen der Praxis in den Versuchsschulen festgehalten.

Neu in der Runde der Quellentextsammlungen ist am vorliegenden Band die Konzentration auf Dokumente der pädagogischen Arbeit an städtischen öffentlichen Volksschulen und höheren Schulen in der Zeit der Weimarer Republik. Hansen-Schaberg sieht diese besonders geprägt im „Milieu des Umbruchs vom Kaiserreich zu Republik, vom Untertanengeist zu demokratischer Gesinnung, vom autoritätsfixierten geschlossenen Unterricht zu gemeinschaftlichen offenen Ansätzen“ (7). Doch will die Herausgeberin sie weniger als Beweisstücke von „Exotik“ (8) verstanden wissen, als vielmehr als Belege dafür, dass die Reformpädagogik damals bereits in die schulische Wirklichkeit Einzug gehalten hatte.

Das Ziel der Studienausgabe ist es, so der Anspruch der Autorin, „den innovativen Charakter und die Entwicklung der damaligen Reformpädagogik auf allen Feldern der Schulpädagogik zu zeigen“ (8). Für drei Gruppen von Leserinnen und Lesern sucht sie mit ihrer Zusammenstellung Wege zu öffnen: für jene, die in der Schulpraxis tätig sind, für jene, die in ihrem Studium an pädagogischen Alternativen aus der Geschichte interessiert sind, und für jene, die bereits in reformpädagogischen Diskursen bewandert sind. Wenngleich jede/r im Band Interessantes finden kann, können m.E. nicht alle drei Gruppen in gleichem Maß vom vorliegenden Band profitieren. Für die erste Gruppe, die Praktikerinnen und Praktiker, fallen viele der dargelegten Gedanken zu allgemein pädagogisch und wenig konkret für die heutige Praxis aus. Am ehesten vermag sie dieser Band an Eckpunkte schulischer Arbeit zu erinnern, die in der Reformpädagogik neu waren, heute aber bereits zu einem ‚Muss’ in der schulischen Arbeit gehören (Schülerorientiertheit, Ganzheitlichkeit, Projektlernen, Klassenrat etc). Für die dritte Gruppe, die der reformpädagogisch Bewanderten, bietet der Band nichts grundlegend Neues, sondern allenfalls kleine Entdeckungen, in welchen Nuancen die Schlagwörter damals gedacht wurden. Dabei erinnert die Sammlung noch einmal daran, dass die Reformpädagogik eine Bewegung vieler Personen war.

Besonders gut geeignet erscheint mir der Band jedoch für die zweite Gruppe, die der Studierenden des Fachs Pädagogik, die auch derzeit noch gerne Veranstaltungen mit reformpädagogischem Themenbezug besuchen. Ihnen bietet die Textsammlung einen reichen Schatz an pädagogischen, didaktischen und schulgestalterischen Gedanken der damaligen Akteurinnen und Akteure, über die sie die häufig nur allgemein gefassten Schlagwörter zur Reformpädagogik in ihren ursprünglichen Zusammenhängen und unterschiedlichen Auslegungen – und im Original – nachvollziehen und erfassen können.

Dass die Autorin mit dem Band gleichzeitig einen Beitrag zur Bildungsreform nach PISA zu leisten sucht, indem sie „für die Auseinandersetzung mit historischen Reformschulen und für das Wagnis (plädiert), Lösungsstrategien in der Kreativität, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit aller an Bildungsprozessen Beteiligten zu suchen“ (10), ist zwar zu würdigen, erscheint mir jedoch etwas gewollt und lässt sich auch nur sehr indirekt einlösen. Die Stärke des Bandes liegt vielmehr in der Aufmerksamkeit, die er den Nuancen im pädagogischen Denken einer Zeit widmet, die gern bemüht, aber häufig nur über Schlagwörter präsentiert wird. Hansen-Schaberg lässt über ihre Auswahl und Sortierung der Texte ein Wechselspiel deutlich werden: Sie zeigt einerseits durch die Textzusammenstellung, wie zentral bestimmte Aspekte für die Reform der Schule in der Weimarer Zeit gesehen wurden, die auch heute noch als markante Prinzipien der reformpädagogischen Bewegung anerkannt sind. Und sie zeigt andererseits durch die Gegenüberstellung, in welch unterschiedlichen Nuancen die Akteurinnen und Akteure ihre ‚gemeinsame’ Reformanstrengung fassten.

In der Gliederung ihres Bandes folgt Hansen-Schaberg Schwerpunkten, mit denen sie sich an den von Bruno Schonig beschriebenen Merkmalen einer reformpädagogischen Unterrichtspraxis [2] anlehnt. Ihre Quellentexte sammeln sich kapitelweise um die Aspekte: 1. „Pädagogik vom Kinde aus“, 2. „Arbeitsschule“, 3. „Lehrplankritik und Lehrplanentwicklung“, 4. „Schulorganisatorische Rahmenbedingungen“, 5. „Schulkonzeptionen“, 6. „Didaktisch-methodische Überlegungen“, 7. „Unterrichtsbeispiele“, 8. „Gemeinschaftserziehung der Geschlechter“, 9. „Demokratie in der Schule“ und 10. „Schulkultur“. Dass die dabei vorgenommene Trennung eine künstliche ist, die der analytischen Durchdringung dienen soll, obwohl sich in den Texten einige Aspekte überschneiden, schränkt die Herausgeberin selbst von vornherein ein. So ließen sich durchaus einige der Quellen auch zu einem der anderen Stichworte auswählen bzw. auf einen engeren Ausschnitt kürzen, und nicht immer erscheint ein Kapitel ganz präzise auf das Merkmal zugeschnitten. Immer werden jedoch der reformpädagogische Grundduktus sowie vergleichende Aspekte sichtbar. Hin und wieder sind den Texten Bilder zugeordnet, die auch an anderer Stelle ihren Platz fänden (130/131), und hin und wieder ließe sich durchaus ein Gesichtspunkt aufwerten, indem er herausgelöst und als eigenständiges Kapitel dargestellt würde (z. B. „Schulbau“ oder „Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler“). Doch gelingt es der Herausgeberin in der Mehrheit, einen anregenden Fächer an Sichtweisen und Akzentuierungen zu markanten Aspekten auszubreiten.

Jedes Kapitel beginnt einleitend mit einer theoretischen Zusammenfassung zum reformpädagogischen Merkmal bzw. Schwerpunkt, die als Einstieg für Neulinge zwar zu kurz, als Wiederholung für Bewanderte jedoch interessant zu lesen ist, weil die Autorin auf historische Entwicklungen im Kaiserreich Bezug nimmt und ausgewählte Kommentare zur Verdeutlichung heranzieht. Sie vermag aufschlussreiche Akzentuierungen zu setzen und begründet jeweils kurz und verständlich die Auswahl der dann folgenden Quellentexte. An zwei Kapiteln will ich exemplarisch zeigen, wie sie vorgeht.

In Kapitel 1. „Pädagogik vom Kinde aus“ schlägt die Herausgeberin mit Hilfe zweier Textauszüge (Dresdner Versuchsschule und Lebensgemeinschaftsschule Spandau) einen Bogen von einer Pädagogik, die die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie aufgreift, bis hin zu einer Pädagogik, der es gelingt, die Kinder ihre Schule als Mittelpunkt ihres Lebens erleben zu lassen. Hierdurch wird die breite Auslegung des Schlagworts „vom Kinde aus“ gut sichtbar: Wo auf der einen Seite „vom Kinde aus“ als psychologisches Wissen über das Kind im Allgemeinen wie auch das Wissen um das einzelne Kind verstanden wird, reicht „vom Kinde aus“ bis dahin, Kinder als Gleichberechtigte in der Schule ernst zu nehmen und ihnen dort Aktivitäten zu ermöglichen, die ein Erleben in einer Gemeinschaft gewährleisten. Die Textauszüge weisen außerdem auf die sich damit verändernde Rolle der Lehrkraft hin: Ihr kommt auf der einen Seite zu, die Kinder in ihrem Tun genau zu beobachten, um an sie anknüpfen zu können - dort wird die Lehrkraft zur Helferin. Auf der anderen Seite wird die Lehrkraft zum zurückhaltenden Freund, dessen Persönlichkeit ebenfalls in der Beziehung zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern Gewicht und Beachtung findet. In diesem Kapitel, wie in den meisten anderen, kann die quellenkritische Analyse außerdem verdeutlichen, was die ideenkritische Betrachtungsweise nicht primär sichtbar macht: „Alle Versuchsvolksschulen entwickeln ein einzigartiges Profil bei der Ausprägung ihrer Pädagogik „Vom Kinde aus“, denn die Interpretation des Postulats und die pädagogische Umsetzung waren abhängig vom jeweiligen Kollegium und von einzelnen Persönlichkeiten, die die Schulentwicklung beeinflussten“ (14).

In Kapitel 9 „Demokratie in der Schule“ legt die Herausgeberin den Fokus auf den Aspekt der Mitwirkungsmöglichkeiten in der Schule. Sie kombiniert dazu einen Textauszug über die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule (Arnold Ziechert) mit einem Text über Regelungen zur Selbstverwaltung der Schülerinnen und Schüler (Paul Fechner). Zu Beginn des Kapitels legt sie dar, wie zunächst über das Gremium der Schulgemeinde, die 1918 durch einen maßgeblich auf Gustav Wyneken zurückgehenden Erlass Eingang in die öffentlichen höheren Schulen fand, demokratische Erziehungs- und Lebensformen angestrebt wurden. Dass dabei auch chaotische Erfahrungen mit der neuen Freiheit gesammelt wurden, schildert die Herausgeberin einleitend ebenso wie den Widerstand von Eltern- und Lehrerschaft und ministerielle Einschränkungen. Dabei skizziert sie, dass die Versuchsschulen Mitbestimmung und Selbstverwaltung in weiter Form realisierten, dass sogar die Mitwirkungsmöglichkeiten der Eltern über Vorschriften hinausgingen.

Ihre dann folgende Quellenauswahl zur Eltern- und SchülerInnenbeteiligung begründet die Herausgeberin damit, dass verschiedene Ebenen zu betrachten seien, wenn demokratische Bestrebungen der Weimarer Republik kenntlich gemacht werden sollen (236). Die Elternebene vertritt Arnold Ziecherts Plädoyer für eine starke Einbindung der Eltern, die er aus positiver Erfahrung seiner schulischen Arbeit schildert. Elternarbeit versteht er als Beteiligung der Eltern an den schulischen Aktivitäten, an einer engen Eltern-Schule-Kooperation sowie an der Einbindung von Elterngremien. Die Ebene der SchülerInnen wird vertreten von Paul Fechner mit der kurzen Beschreibung der Selbstverwaltung der Schülerinnen und Schüler an der Lebensgemeinschaftsschule Berlin-Spandau, an der er Schulleiter war. Er begründet die Selbstverwaltung pädagogisch und stellt sie organisatorisch vor. Da die Textauswahl dieses Kapitels auf die Bandbreite von Mitwirkung von Gruppen ausgelegt ist, wäre hier ein ergänzender Blick auf die Ebene von Schulleitung und Kollegium sinnvoll.

Die stellvertretenden Einsichten in diese zwei Kapitel lassen deutlich werden, dass der Sammelband historische Spuren anbietet, denen Reformpädagogik-Interessierte folgen können, wenn sie sich mit zentralen Schlagwörtern bzw. Prinzipien und der Bandbreite ihrer Auslegung in der reformpädagogischen Bewegung beschäftigen möchten. Es gelingt der Herausgeberin, die Leserinnen und Leser näher an das tatsächliche Leben in den damaligen Schulen herankommen zu lassen – nicht zuletzt wegen des leichten Zugangs zu den Originaltexten - und durchaus werden der innovative Charakter und die Entwicklung der damaligen Reformpädagogik auf einigen, wenn auch, wie ich meine, nicht allen zentralen Feldern der Schulpädagogik erfahrbar. Wenn ich die Lektüre des Bandes auch nicht für die Suche nach Lösungen nach PISA empfehlen würde, als Lektüre im Rahmen des Studiums der Reformpädagogik würde ich ihn allemal nahe legen.

[1] Hoof, Dieter (1969): Die Schulpraxis der Pädagogischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Bad Heilbrunn.

[2] Schonig, Bruno (1989): Reformpädagogik. In: Lenzen, Dieter (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. Band 2. Reinbek, S. 1302-1310.

Katja Kansteiner-Schänzlin (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Kansteiner-Schänzlin: Rezension von: Hansen-Schaberg, Inge (Hg.): Die Praxis der Reformpädagogik, Dokumente und Kommentare zur Reform der öffetnlichen Schulen in der Weimarer Republik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78511292.html