Historische Forschungsarbeiten zu den Feldern, Konzepten und Adressaten der Pädagogik sind ein wichtiger Beitrag zur Selbstvergewisserung der pädagogischen Disziplin. Sie dienen der professionellen Erinnerungsarbeit sowie der Ordnung der Wissensbestände, der kritischen Dokumentation des Vergangen ebenso wie der Reflexion zukünftiger Optionen. Unter den sozialpädagogischen Feldern lässt sich gerade für eine Geschichtsschreibung zur Heimerziehung auf gut gefüllte Bücherschränke verweisen. Nun wird eine neue Abteilung in diesem Spektrum eröffnet, die Geschichte der Heimerziehung in der DDR. Nach Verena Zimmermanns Buch über die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (siehe Rezension von Petra Götte in http://www.klinkhardt.de/ewr/41212303.htm) liegen nun die Rekonstruktionen der Heimerziehung in der DDR von Hans-Ullrich Krause unter dem deutlich andere Akzente markierenden Titel „Fazit einer Utopie“ vor. Die Arbeit ist als Dissertation am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften (!) der FU Berlin angenommen worden und der Autor ist ein bekannter Praxisvertreter, Vorsitzender eines Fachverbandes (der Internationalen Gesellschaft für Erzieherische Hilfen) und Leiter einer Heimeinrichtung in Brandenburg; vor allem aber war er Heimerzieher in der DDR, ist also Zeitzeuge.
Schon in der Einleitung macht Krause deutlich, dass er Heimerziehung im Gegensatz z.B. zu Verena Zimmermann nicht vorrangig als „Maßnahme zur Umerziehung und Disziplinierung von Abweichlern“ begreift, sondern als den „deutlich größten Bereich sozialpädagogischer Praxis in der DDR“ und bei durchschnittlich 30.000 betreuten Kindern habe es „praktisch keinen anderen Bereich gegeben, in welchem Kinder und Jugendliche so global von staatlich organisierter Erziehung betroffen waren“ (11). Nur so versteht sich auch der Titel: Fazit einer Utopie.
Die Arbeit gliedert sich dann in vier größere Kapitel: Im ersten wird die „Erziehung in der DDR“ als „System im System“ untersucht, wobei insbesondere das spannungsreiche Verhältnis zwischen einem auf Planbarkeit angelegten Gesellschaftsmodell und einer nur begrenzt planbaren Erziehungspraxis betont wird. Spannend sind dabei vor allem die Skizzen zu den „Funktionen von Erziehung und ihren Dilemmata“, zur politischen Funktion der Erzieher mit detaillierten Ausbildungsplänen oder zur Theorieentwicklung in der DDR-Pädagogik. Im zweiten Kapitel, dem Hauptteil, wird auf knapp 100 Seiten eine „Historische Rekonstruktion“ der Heimerziehung in der DDR angeboten, im Kern als Konzeptgeschichte angelegt, mit zahlreichen Originalquellen belegt und immer wieder prägnant zusammengefasst. Diese reicht von den „verdrängten Wurzeln der DDR-Heimerziehung“, die in der Reformpädagogik, der NS-Zeit und der Sowjetpädagogik gesehen werden, über die prekäre Übergangs- und Konsolidierungszeit bis in die Mitte der 50er Jahre und Reflexionen über „das gefährdete und das gefährliche Kind“, die Zentralbegriffe, die wichtigsten Methoden und die Strukturmerkmale der DDR-Heimerziehung. Der als „Heimerziehung im Rückblick“ überschriebene dritte Teil ist aus „40 intensiven Interviews mit wichtigen Gesprächspartnern aus dem DDR-Heimerziehungssystem“ (Wolff im Vorwort, 8) entstanden. Leider wird diese „Rekonstruktion der Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Akteure (…) nur im Sinne einer engen Zusammenfassung“ (159) unter 10 Leitfragen angeboten, von: „(1) Wie sehen die Akteure Heimerziehung im Kontext zur DDR-Gesellschaft“ [ebd.) bis „(10) Die Praxis der Heimerziehung und die eigene Rolle im Rückblick (Rekonstruktive Positionierung)“ (179). Nach jeweils exemplarisch ausgewählten Zitaten fasst Krause auch hier sein Material zu knappen Thesen zusammen.
Spannende Einblicke lassen die in den Zitaten erkennbaren Selbstbeschreibungen vermuten, z.B.: „Wenn Du das gemacht hättest, wie es vorbestimmt wurde durch Parteisekretär und Partei und pädagogischen Rat, na dann, ich denke mal, dann wäre es schlimmer gekommen. (…) Es ist immer viel dem individuellen Engagement der Erzieher zu verdanken“ (172) oder „Es war ein schönes Arbeiten hier. Ich habe selten so viele schöne Erfahrungen gemacht, hier in diesen sechs Jahren bis 1989“ (179). Im vierten und letzten Teil versucht Krause dann eine Zusammenfassung als „Rekonstruktion der Rekonstruktion“ (182), in der wesentlich systemtheoretisch argumentierend Erziehung generell und Heimerziehung speziell in der „bemerkenswerten Schieflage zwischen dominanter Fremd- und eingeschränkter Selbstreferenz“ (182) untersucht werden – eine auch für westdeutsche Erziehungsreflexionen nicht unbekannte Positionierung.
Das Buch von Hans-Ullrich Krause ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Spurensicherung. Gerade die 100 Seiten Konzeptgeschichte dokumentieren systematisch und kenntnisreich diesen Abschnitt deutscher Pädagogikgeschichte. Ausgesprochen bedauerlich ist hingegen, dass die Interviews mit den 40 Experten der DDR-Heimerziehung nur stark komprimiert vorgestellt werden. Die wenigen Zitate lassen eben nur vermuten, dass hier ein Fundus differenzierter und erkenntnisreicher Konstruktionen auszuwerten war, wobei zentrale Aspekte des Verhältnisses von Gesellschaft und Erziehung im Spiegel der Rekonstruktion professioneller Deutungsmuster herauszuarbeiten wären, die sich kaum von denen ihrer westdeutschen Kolleginnen und Kollegen unterscheiden – aber dies ist eben nur zu erahnen.
Irritiert hat mich nach der Eröffnung mit Günter de Bruyns Historikerschelte „und überall (in der Geschichtsschreibung) erscheint das Individuum nur als Illustration von Thesen, falls es in diese paßt“ [10] auch, wie defensiv Hans-Ullrich Krause mit seiner eigenen Erfahrung als Heimerzieher in der DDR umgeht: Weder in seiner Vorstellung als Autor wird dieser Teil seiner Berufsbiographie erwähnt und auch im Kapitel über die Interviews mit den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen bleibt diese Beziehungsdimension unbeschrieben. Wenn Geschichte „nach den Erinnerungen der damals an ihr Beteiligten geschrieben“ werden soll, so der erste Satz des de Bruyn Zitates (10), dann hätte dieses auch konsequent umgesetzt werden sollen. Die Enteignung des Interviewmaterials als Illustration für Rekonstruktionen, deren Herleitung und Plausibilität nicht mehr nachvollzogen werden kann, wird so nur zu einer weiteren Variante der so heftig kritisierten Geschichtsschreibung vom „Feldherrenhügel“ aus. Schade.
Formal zu kritisieren ist die verlegerische Unsitte, wissenschaftliche Texte mit Fußnoten in einen Anhang von Endnoten zu verbannen, die nur noch mit Mühe mitgelesen werden können.
Insgesamt aber bleibt Hans-Ullrich Krauses Buch ein wichtiger Beitrag zur disziplinären Selbstvergewisserung der Erziehungswissenschaft und zur professionellen Spurensicherung und Erinnerungsarbeit für die Heimerziehung. Es ist gut lesbar und ausgesprochen informativ.
EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)
Fazit einer Utopie
Heimerziehung in der DDR - eine Rekonstruktion
Freiburg i.B.: Lambertus 2004
(254 S.; ISBN 3-7841-1539-X; 19,00 EUR)
Christian Schrapper (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Schrapper: Rezension von: Krause, Hans-Ulrich: Fazit einer Utopie, Heimerziehung in der DDR - eine Rekonstruktion, Freiburg im Breisgau: Lambertus 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78411539.html
Christian Schrapper: Rezension von: Krause, Hans-Ulrich: Fazit einer Utopie, Heimerziehung in der DDR - eine Rekonstruktion, Freiburg im Breisgau: Lambertus 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78411539.html