Die Geschichte der Sozialpädagogik und die Geschichte der Sozialen Arbeit sind unterschiedliche Geschichten. Die Erkenntnis ist nicht neu, hingegen die Zahl derer, die daran ihre Zweifel hegen, nach wie vor groß; spätestens nach der Lektüre des Buches von Carsten Müller werden sie umdenken müssen. Das macht das Buch nützlich. Sozialpädagogische Denkformen seien nicht, wie derzeit noch die Mehrheit der Sozialarbeitswissenschaftler meint glauben zu dürfen, als reflektierte Hilfepraxis für randständige und desintegrierte Minderheiten der modernen Industriegesellschaft entstanden, sondern als notwendige Reaktion auf die individualpädagogische Einseitigkeit der allgemeinen und natürlichen Menschenbildung. Damit knüpft das Buch an den derzeitigen Forschungsstand an. Aber gegenüber neueren Forschungen, die vor allem das Vergemeinschaftungsthema als das Gemeinsame sozialpädagogischer Denkformen herausgearbeitet haben, stellt Müller die These auf, die Geschichte der Sozialpädagogik sei, und zwar von ihren Anfängen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, als kritische Theorie der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung des republikanischen Menschen zu verstehen. Das macht das Buch anspruchsvoll.
Nach einem längeren Einleitungsteil (12-36) entfaltet Müller sein Thema in drei Teilen: Im ersten Teil („Die frühe Sozialpädagogik und ihre politische Relevanz“, 37-88) erinnert Müller, wie andere vor ihm, zunächst noch einmal an den Ursprung des Wortes und des Begriffs „Sozialpädagogik“. Er findet ihn, wie könnte es anders sein, bei Karl Mager, der den Begriff als erster gebrauchte. Der entscheidende und neue Schritt besteht darin, dass das republikanische Verständnis von „Social-Pädagogik“ bei Mager aufgenommen, erweitert und der gesamten Arbeit als Interpretationsfolie zugrunde gelegt wird. Sozialpädagogik ist dann die Erziehung aller Menschen zu selbsttätiger und selbstbestimmter Teilhabe am politischen wie gesellschaftlichen Gemeinwesen. Die Pointe dabei ist, dass die in der heutigen Sozialarbeit/Sozialpädagogik verbreitete Sucht, aus der Soziologie und politischen Philosophie Theoreme zu übernehmen, als völlig überflüssig erscheinen muss, weil „Demokratie von Beginn an in einem Theoriestrang der Sozialpädagogik hineingewoben“ war (21).
Im zweiten Teil („Sozialpädagogik als Bürgererziehung von Karl Mager, über Paul Natorp bis John Dewey“, 89-272) wird der Zusammenhang von sozialpädagogischen und demokratischen bzw. republikanischen Denkformen am Beispiel dreier Denker entfaltet; ein Kapitel über Rousseau und die Französische Revolution wird vorangestellt. Die Aufnahme von John Dewey in den Kreis sozialpädagogischer Vordenker wird viele überraschen, ist aber konsequent, längst überfällig und von daher verdienstvoll. Bei der Darstellung kritischer Positionen zu Natorp (184-197) hätte Theodor Litt nicht fehlen sollen.
Im dritten Teil („Gewinne eines erneuerten demokratischen Problembewusstseins für die Theorie Sozialer Arbeit“, 273-290) versucht Müller, die „alte Sozialpädagogik“, d.h. die Sozialpädagogik vor ihrer Reduzierung auf Nothilfe, für die neue Sozialpädagogik/Sozialarbeit zu reaktivieren, um als Ergebnis eine „Theorie Sozialer Arbeit“ zu gewinnen.
Carsten Müllers „problemgeschichtlicher Theorieentwurf“ ist nicht nur rekonstruktiv, sondern auch normativ, und das hat seinen Preis, denn die normative Ausrichtung auf den republikanischen Menschen hat beschränkende Effekte. Müller akzeptiert nur solche theoretischen Denkfiguren der Sozialpädagogik, „die entweder in einem zustimmenden oder erweiternden Zusammenhang zu Magers Begriffsschöpfung stehen“ (21). Der Grund ist nachvollziehbar: er will die negativen Konnotationen des Gemeinschaftsbegriffs aus seinem Theorieentwurf heraus halten. So entsteht aber ‚nur’ eine Geschichte der guten, weil demokratischen und republikanischen Denkformen der Sozialpädagogik. Für rekonstruktive Zwecke ist der Theorieentwurf daher nur bedingt geeignet. Das zeigt sich an der Behandlung, bzw. Nichtbehandlung z.B. von Herman Nohl, der im gesamten Buch, einschließlich Literaturverzeichnis, nicht vorkommt. Müssten aber gerade in einem „problemgeschichtlichen“ Entwurf nicht auch die Problemfälle vorkommen?
Mit seinem Theorieentwurf rechnet sich Müller einer Minderheitenposition innerhalb der theoretischen Sozialpädagogik zu, welche die Entstehung und Entwicklung sozialpädagogischer Denkformen historisch-systematisch als allgemeinpädagogisches Thema versteht (280). Andererseits will er die demokratischen Potenziale aus der Geschichte der „alten“ bzw. „frühen Sozialpädagogik“ (23) nicht nur in die realgeschichtliche Erinnerung rufen, sondern auch für eine „Theorie Sozialer Arbeit“ zu neuer normativer Geltung bringen (273ff.). Damit stellt sich die Frage, wo ein solcher Spagat als fruchtbarer Spannungsbogen lebensfähig sein könnte. In der Erziehungswissenschaft wohl kaum; für sie ist die Sozialpädagogik eine Bereichs-Pädagogik, ein Lehrfach mit zahlreichen Überschneidungen mit der Berufs- und Sonderpädagogik, der Erwachsenenbildung und Vorschulerziehung.
Das unter universitären Sozialpädagogen verbreitete Selbstverständnis, sie seien Vertreter einer wissenschaftlichen „Disziplin“ namens Sozialpädagogik ist für die Erziehungswissenschaft und Allgemeine Pädagogik noch nicht einmal fragwürdig. Bliebe die Sozialarbeitswissenschaft, einmal angenommen, dass es sie gibt oder geben könnte; auch sie ist als Integrationsrahmen kaum vorstellbar. Von der antipädagogischen Gestik vieler Sozialarbeitswissenschaftler ganz abgesehen, die Sozialarbeitswissenschaft wurzelt historisch nicht in den Theorien pädagogischer Denker, sondern in der älteren deutschen Fürsorgewissenschaft, nicht im Denken eines Paul Natorp, Albert Görland, Robert Rissmann oder Johannes Tews, sondern im Denken und Wirken einer Alice Salomon oder eines Christian Jasper Klumker. Eine Sozialarbeitswissenschaft ließe sich auch nur als interdisziplinäres Gebilde aus Familien-, Jugend-, Sozial- und Verwaltungsrecht, aus Politologie, Soziologie, Sozialmedizin, Pädiatrie und Psychiatrie, aus Ökotrophologie, Psychologie und vielleicht ein wenig Pädagogik vorstellen, um nur einiges Unverzichtbare zu nennen.
Das Verdienst der Arbeit von Carsten Müller um die historisch-systematische Sozialpädagogik besteht darin, dass sie die Rekonstruktion der Gemeinschaftsdiskurse um die Rekonstruktion republikanischer Diskurse erweitert und damit differenziert hat.
EWR 5 (2006), Nr. 2 (März/April 2006)
Sozialpädagogik als Erziehung zur Demokratie
Ein problemgeschichtlicher Theorieentwurf
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005
(309 S.; ISBN 3-7815-1422-6; 29,80 EUR)
Jürgen Reyer (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Reyer: Rezension von: Müller, Carsten: Sozialpädagogik als Erziehung zur Demokratie, Ein problemgeschichtlicher Theorieentwurf. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151422.html
Jürgen Reyer: Rezension von: Müller, Carsten: Sozialpädagogik als Erziehung zur Demokratie, Ein problemgeschichtlicher Theorieentwurf. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151422.html