Gerd Hansen und Roland Stein haben mit dem vorliegenden Kompendium eine dem Handbuch „Sonderpädagogik konkret“ nachfolgende Einführung in die Sonderpädagogik vorgelegt. In einer „Zeit der Umbrüche“, in welcher sich die Sonder- und Heilpädagogik derzeit befindet, möchten die Herausgeber konstruktive und zukunftsweisende Überlegungen zur „(Neu-) Gestaltung“ (7) der von ihnen erlebten, „schwierigen, teilweise unwägbaren Situation“ (7) anstellen. Die Leser sollen wesentliche Themengebiete und Fragestellungen der Sonderpädagogik überblicken können. Neben der Skizzierung der Sonder- und Heilpädagogik nach Behinderungs- und Beeinträchtigungsformen ist die Erläuterung von „thematischen ‚Querlagen’“ (7) angestrebt, die eine neuere Orientierungsperspektive darstellen. Inwiefern und für welche Leser wird das Kompendium diesen Zielen gerecht?
Die einzelnen Beiträge sind alphabetisch angeordnet. Zur Besprechung des Buches wähle ich eine andere Reihenfolge, die von der Sonderpädagogik als Disziplin und ihrem Bezug zur Wissenschaft ausgeht und dann Begriffsbestimmungen, rechtliche und institutionelle Gestaltungen sowie Fragen der Ethik und Soziologie thematisiert. Schließlich werden Aspekte wie Didaktik, Diagnostik, Prävention und Alter in den Blick genommen und am Ende weitere Einzelthemen und Formen von Beeinträchtigungen kurz angerissen.
Ulrich Oskamp skizziert in seinem Beitrag zur Darstellung von „Wissenschaftstheoretischen Positionen“ die pädagogische Anthropologie, die empirische Sozialforschung, den Behaviorismus, den (Neo-)Positivismus, den kritischen Rationalismus, die kritische Theorie, den dialektischen Materialismus, den (radikalen) Konstruktivismus, den ökosystemischen Ansatz sowie die Systemtheorie in ihrer jeweiligen Rezeption durch die Sonderpädagogik. Interessant ist Oskamps Andeutung eines sich ankündigenden „Widerspruch[s] gegen die permanente Konstruktion eines subjektiven Weltbildes“ (387), welche intersubjektive Übereinstimmungen der Weltbilder nicht hinreichend begründen könne.
Handelt es sich bei der Sonderpädagogik um eine Profession? Roland Stein trägt im Zusammenhang mit „Professionalität“ Kriterien vor, die Professionen allgemein ausmachen. Er wirft Fragen zu den an die Sonderpädagogik gerichteten Ansprüchen und zur Sinnhaftigkeit des Strebens nach Professionalisierung durch die Disziplin Sonderpädagogik auf. Allerdings sei bisher offen, ob die Sonderpädagogik sich selbst als ‚eine’ Disziplin ansehe. Eine verstärkte Professionalisierung erfordere u.a. Kompetenzen in den Bereichen Diagnostik, Förderung, Beratung, Kooperation und Reflexion.
Susanne Nußbeck weist im Zusammenhang mit „Forschungsmethoden“ der Sonderpädagogik auf vielfältige alltagstheoretische Meinungen hin, die einer Durchsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse oftmals entgegenstehen. Nußbeck betont die Bedeutung der Beobachtung und unterscheidet zwischen quantitativen und qualitativen Methoden. Inwieweit dieser Text eine gewinnbringende Einführung und Orientierung für Studierende der Sonderpädagogik darstellt, müssen diese als Leser entscheiden. Allemal hilfreich für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Forschungsmethoden ist die angeführte Literatur.
Aus dem Beitrag Roland Steins zu „Beeinträchtigung und Behinderung“ wird die Schwierigkeit einer klaren Begriffsbestimmung und Klassifikation deutlich, die sich im Kontext von Begriffen wie „Störung“, „Schädigung“, „Krankheit“, „Gefährdung“ oder „Benachteiligung“ andeutet. Stein verwendet Beeinträchtigungen als Oberbegriff, dem andere Begriffe untergeordnet sind. Er lehnt die „klassische“ Orientierung an „erkannten“ Defiziten ebenso ab, wie eine reine Orientierung an den Kompetenzen des Individuums. Zudem weist er darauf hin, dass es künftig die Selbstsicht von Menschen mit Beeinträchtigungen stärker zu berücksichtigen gelte.
„Gesetzliche Grundlagen der Rehabilitation“ werden von Carl-Wilhelm Rößler insbesondere hinsichtlich des seit Juli 2001 in Kraft getretenen Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) referiert. Von der Bildungspolitik werden Menschen mit Behinderung seitdem als ihr Leben eigenständig gestaltende „Subjekte“ (236) und nicht mehr nur als „staatlich zu fördernde Objekte“ anerkannt. Obwohl damit zwar die Interessen behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein rückten, kritisiert Rößler, dass die Ausgestaltung eines „Leistungsgesetzes für Behinderte“ (246) noch ausstehe.
Matthias Grünkes Beitrag zur „Beruflichen Rehabilitation“ beschäftigt sich mit verschiedenen Maßnahmen zur Umsetzung des beruflichen Rehabilitationsanliegens. Er erläutert das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) und das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) als Maßnahmen zur Berufshinführung. Diese unterscheidet er von maßnahmengestützten Berufsausbildungen und maßnahmengestützten Weiterbildungen zur Wiedereingliederung bzw. Maßnahmen während der Erwerbstätigkeit. In seinem Fazit sieht er die Aufteilung der Zuständigkeiten an Schulen, die Agentur für Arbeit, die Rehabilitationsträger u.a. als hinderlich für eine Eingliederung von Menschen mit Behinderung in das Berufsleben an.
Eine Übersicht von „Institutionen der Heil- und Sonderpädagogik“ gibt Stephan Ellinger, indem er zwischen sonderpädagogischer Förderung im Bereich vorschulischer, schulischer und nachschulischer Institutionen unterscheidet. Maßnahmen im vorschulischen Bereich sind vor allem auf Prävention ausgerichtet. Aufschlussreich ist sein Abriss der sonderpädagogischen Institutionen im schulischen Bereich einzelner Bundesländer. Als nachschulische Institutionen nennt er Organisationsformen wie Sonderberufsschule, Berufsbildungswerke, Einrichtungen der medizinisch-beruflichen Rehabilitation, Berufsförderungswerke, und Werkstätten für behinderte Menschen sowie die jeweilige gesetzliche Verankerung der Fördermaßnahme.
Martina Schlüter verdeutlicht die Komplexität „Ethischer Fragestellungen“ anhand von ausgewählten Beispielen. Zwei kritische Anmerkungen seien erlaubt: Bei der lediglich marginalen Erwähnung umstrittener Kosten-Nutzen-Analysen im Sinne Singers bleibt offen, inwieweit dieser kurze Verweis ausreicht, um Studierende zu einer vertieften kritischen Auseinandersetzung mit (präferenz-) utilitaristischen Positionen zu veranlassen. Wenn „Profitgier“ und „Ökonomisierung“ vorherrschend wahrnehmbare, gesellschaftliche Prozesse sind, ergibt sich die Frage, ob und warum das von Schlüter genannte Ziel der „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an gesellschaftlichen Prozessen“ (185) überhaupt angestrebt werden sollte.
„Soziologische Fragestellungen“, die sich damit befassen, mit welchen Einstellungen sich Menschen mit Behinderung konfrontiert sehen, gewannen nach Reinhard Markowetz erst ab Ende der 1960er Jahre im sonderpädagogischen Kontext an Bedeutung. Mit den Abschnitten zum Behinderungsbegriff, zu sozialen Problemen und zur Integration finden u.a. die Aspekte der Normalisierung, Entstigmatisierung und Inklusion Erwähnung. In seiner Zusammenfassung nennt Markowetz exemplarische Fragestellungen, die den Bedarf an Forschung andeuten und für Studierende zur Annäherung an die ‚Soziologie der Behinderten’ geeignet sind.
Kerstin Merz-Atalik befasst sich in ihrem Beitrag mit dem sonderpädagogischen Verständnis von „Integration und Inklusion“. Als Hauptrisikofaktoren für den Erfolg schulischer Kooperationsmodelle zur Integration werden die Bereitschaft und die jeweilige Kompetenz auf Seiten der Personen und zudem auf Seiten der Institutionen angeführt. Einige didaktische Modelle (Feuser, Reiser, Sander) werden exemplarisch nachgezeichnet und ihre Auswirkungen auf das sonderpädagogische Selbstverständnis beleuchtet.
Rekurrierend auf Kersten Reichs Konstruktivistische Didaktik (2004) und Rolf Wernings Überlegungen zum lernfördernden Unterricht bei Lernbeeinträchtigungen (2002) wird von Gerd Hansen in groben Zügen ein grundsätzliches Verständnis von „Didaktik“ geboten. Im Zusammenhang mit den durch Schulleistungsstudien vorgesehenen und angemahnten Schulreformbemühungen, deutet Hansen an, dass als Verursachungsfaktor für das Abschneiden bundesdeutscher Schülerinnen und Schüler möglicherweise nicht so sehr die Organisationsformen schulischer Bildungsmodelle in Frage komme, sondern der „Generalfaktor (…) ‚einer höheren gesellschaftlichen Wertigkeit von Lernen und Bildung’“ (179) in anderen Staaten.
Willi Seitz stellt mit seinem Beitrag „Diagnostik“ Elemente des diagnostischen Prozesses, der Ziele und Verfahrensweisen vor. Er unterscheidet als Varianten diagnostischer Zuordnungen die Selektion, die Platzierung und die Klassifikation. Grenzen und Möglichkeiten nennt er zu Verfahren wie Verhaltensbeobachtung, psychodiagnostischem Gespräch, Fragebogen, „projektive Verfahren“, Leistungs- und Funktionsüberprüfungen. Kurz wird die Diskussion um die Abwägung zwischen eher „klassischer Testdiagnostik“ und „neuer Förderdiagnostik“ beschrieben.
Unter der Überschrift „Prävention und Therapie“ unterscheidet Susanne Nußbeck zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Das medizinische und das sonderpädagogische Verständnis von „Therapie“ werden vergleichend reflektiert. Nussbeck spricht sich für eine Qualitätskontrolle von „Therapien“ durch eine Beurteilung nach den Stufen empirisch ermittelter Evidenz aus. Eindringlich warnt sie vor ‚Heilsversprechungen’ (z.B. ‚Delphintherapie’, ‚Tomatis-Hörkur’) und vermeintlich global anwendbaren Konzepten (z.B. Festhaltetherapie nach Prekop [1989] oder Sensorische Integration nach Ayres [1984]).
Reinhilde Stöppler unterzieht unter dem Thema „Beeinträchtigungen und Behinderungen im Alter“ allgemeine Theorien des Alterns hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf ältere Menschen mit Behinderung einer kritischen Betrachtung. Die Vielfältigkeit der Aufgaben für die Sonderpädagogik wird vergleichend zur so genannten „Normalbevölkerung“ für die Erwachsenenbildung, den Übergang in den Ruhestand, das Wohnen und die Tages- und Freizeitgestaltung betrachtet. Abschließend weist Stöppler darauf hin, dass der Umgang mit Sterben und Tod bislang bei der Aus- und Weiterbildung wenig professionell thematisiert wurde.
Einige weitere Themenaspekte seien im Rahmen dieser Buchbesprechung lediglich kurz erwähnt. Auf den Aspekt der „Freizeit“ von Menschen mit Behinderung geht Reinhard Markowetz ein. Neben seinen Denkanregungen zu den Stichwörtern „Mobilitätsprobleme“, „Schranken im Kopf“, „gelebte Kontakte“ und „Sonderprogramme“ (218) bietet er eine ausführliche Literaturliste. Gerd Hansen stellt das Thema „Frühförderung“ vor, bei der es auf eine Partnerschaft mit den Eltern ankomme. Die „Kooperation mit den Eltern“ steht im Zentrum von Andreas Eckerts Ausführungen. Diese veranschaulicht er mit zwei Abbildungen. Erhard Fischer zeigt diverse Aspekte der „Pädagogik bei schwerster Behinderung“ auf. Er nennt eine Vielzahl methodischer Verfahren. Auf die ungeklärte Situation der Schulen für Kranke macht das Kapitel „Pädagogik bei Krankheit“ von Reinhard Lelgemann aufmerksam. So ist einerseits ihre Existenz durch stark verkürzte Liegezeiten schulpflichtiger Patienten in den letzten Jahren bedroht, andererseits herrscht auf Seiten von Lehrkräften oftmals Unsicherheit im Umgang mit schwer erkrankten Schülern.
Harry Bergeests Beitrag befasst sich mit der Thematik „Sexualität“. Er spricht sich für eine offensivere Sexualerziehung von Menschen mit Behinderung aus, die auf ‚kommunikativer Transparenz’ (356) aufbaut. Roland Stein gewährt Einblicke in „Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung“; Erhard Fischers Beitrag fokussiert „Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung“; „Beeinträchtigungen des Hörens“ werden von Thomas Kaul vorgestellt. Gerd Hansens Beitrag dient als Einstieg zu einem sonderpädagogischen Verständnis von „Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung“; „Beeinträchtigungen des Lernens“ skizziert Dagmar Orthmann. Mit „Beeinträchtigungen des Sehens“ befasst sich der Beitrag von Sven Degenhardt und Alfons Welling stellt „Beeinträchtigungen der Sprache“ dar. Diese zuletzt genannten sieben Autoren streben eine Systematisierung des Wissens zu den jeweiligen Beeinträchtigungs- und Behinderungsformen an und geben Hinweise auf vertiefende Literaturquellen.
Insgesamt bietet das „Kompendium Sonderpädagogik“ zu wesentlichen Themengebieten und Fragestellungen kurz gefasste, zumeist zehn- bis zwölfseitige Lehrtexte. Die alphabetische Reihung erlaubt es, Informationen zu Stichwörtern schnell zu finden. In dieser Nutzungsperspektive ist vertretbar, dass einige Aspekte wie etwa Prävention oder Inklusion in verschiedenen Beiträgen erwähnt werden. Das Anliegen der Herausgeber, ein Kompendium für die Hand von Studierenden zu schaffen, ist meines Erachtens gut erfüllt. Auch eine Verwendung in Lehrveranstaltungen ist denkbar, wobei in Abhängigkeit der Schwerpunktsetzungen weitere Quellen notwendig sein werden. Zudem erscheint mir das Buch geeignet, um in der Praxis tätigen Sonderpädagogen als Nachschlagewerk und als Anlass zur weitergehenden Auseinandersetzung zu dienen. Es bleibt zu wünschen, dass das „Kompendium Sonderpädagogik“ auf entsprechenden Widerhall treffen wird. Vielleicht kann es dann den angestrebten Beitrag zur Neugestaltung der Sonderpädagogik leisten.
EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)
Kompendium Sonderpädagogik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(391 S.; ISBN 3-7815-1420X; 19,50 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Hansen, Gerd / Stein, Roland (Hg.): Kompendium Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151420X.html
Daniel Blömer: Rezension von: Hansen, Gerd / Stein, Roland (Hg.): Kompendium Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151420X.html