Bildliche Quellen ergänzen nicht nur sprachliche Überlieferung, sondern sie eröffnen als originäre Gattung einen eigenständigen Zugang zur Erforschung der Vergangenheit. Diese Sichtweise existiert in der erziehungshistorischen Forschung erst seit knapp zehn Jahren. Wer den Gang der Forschung aufmerksam verfolgt hat, dem sind zwei Autorinnen durch ihre Beiträge gut bekannt: Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner. Nach zehnjähriger Forschungspraxis mit dem Medium Fotografie legten sie 2002 eine gemeinsame Habilitationsschrift zu diesem Thema vor, die nun (endlich!) in gekürzter Form als Buch erschienen ist. Der Verlag Julius Klinkhardt bietet damit bereits die dritte grundlegende methodische Publikation zur Erforschung von Bildern bzw. Fotografien an [1].
Die Absicht der Arbeit ergibt sich in erster Linie aus der wissenschaftlichen Qualifikation der Autorinnen; schnell lässt sich aber erkennen, dass das Buch mehr bieten will und bietet – das kann bereits hier festgehalten werden. Pilarczyk und Mietzner entwerfen einen methodischen Ansatz, der vom Begriff her nicht neu ist, aber in der vorgelegten Art und Weise doch eine neue Bedeutung bekommt. Dabei sprechen die Autorinnen von einem „Muster“, das heißt, die Methode ist an sich „ein aufeinander bezogenes Repertoire verschiedener Verfahrensmuster“ (111).
Dem Ansatz liegt eine konkrete Auffassung von Fotografie zugrunde, „die das fotografische Bild als auch ihren medialen Charakter einschließt“. Aus diesem Zweck wird unterschieden zwischen dem bloßen Trägermedium, das ein Bild transportiert, der technisch-materialen Dimension („Fotografie“) und der ästhetischen und inhaltlichen Dimension des Bildes („Fotografisches Bild“).
Im Teil A wird die Bedeutung von Fotografie für die Erziehungs- und Sozialwissenschaften herausgearbeitet (Einführung). Teil B verdeutlich das oben erwähnte konkrete Verständnis von Fotografie anhand der methodologischen Grundlagen für Fotografien als Quelle. Teil C hat die Vorstellung der methodischen Voraussetzungen und Standards der seriell-ikonographischen Fotoanalyse zum Gegenstand. Abschließend bringen die Autorinnen konkrete Untersuchungsbeispiele für die Anwendung dieser Methode (Teil D).
Schon längere Zeit ist allgemein klar, dass Fotografien manipulierbar sind und deshalb nicht zwangsläufig eine objektive Quelle darstellen. Dennoch kommt ihnen eine doppelte Bedeutung zu, indem sie Dinge zugleich präsentieren und repräsentieren. Darüber hinaus wird mit jeder Fotografie „nicht nur ein Gegenstand der eigenen Geschichte einverleibt, sondern durch die die Beobachtung begleitenden Gefühle, Ansichten und die Darstellung verändert sich das Verhältnis zum Gegenstand. Aber nicht nur der fotografierte Gegenstand verändert sich, vor allem die Fotografin bzw. der Fotograf, auch die Betrachterin oder der Betrachter der Aufnahme haben Teil an dem Wandel“ (43).
Weiterhin weisen Fotografien Besonderheiten als Lichtbildzeichnung auf, wie das Indexikalische, Vieldeutigkeit, Mehrspektivität und das Hervorheben eines Moments oder Motivs. Diese Besonderheiten, dass sie einerseits im historischen Kontext stehen und anderseits immer eine Codierung beinhalten, sind zwei Aspekte, welche die Fotoanalyse erschwert. Gleichwohl erwecken Fotografien den Eindruck, man könne sie (respektive den in ihnen enthaltenen Sinn) – im Gegensatz zu „Kunstgemälden“ – auf Anhieb verstehen. Das ist jedoch nicht der Fall, und hier liegt das Forschungsproblem und die Ursache dafür, dass bisher keine wissenschaftliche Analysemethode für fotografische Bilder entwickelt worden ist. Schon deshalb ist die Arbeit von Pilarczyk und Mietzner zu würdigen. Sie entwickeln ein methodisch systematisiertes Verfahren, mit dem es möglich wird, den Bild-Sinn freizulegen und das Verhältnis der Fotografie zwischen Bild und Wirklichkeit zu erfassen, um somit den Quellenwert von Fotografien wissenschaftlich auszuschöpfen.
Der Ansatz ist phänomenlogisch in Bezug auf die Fotografie und hermeneutisch, wo es um das fotografische Bild geht. So kann die seriell-ikonografische Fotoanalyse für einzelne Fotografien unterschiedlicher Quellarten und Zeitepochen Anwendung finden. Sie dient aber auch zur Auswertung größerer Bildbestände. Eine Standardisierung des Verfahrens schließt sich von selbst aus, denn der Ansatz ist im Grunde „ein Set von detaillierten, variierbaren, aufeinander bezogenen methodischen Schritten“ (112). Diese entstammen bekannten kunstwissenschaftlichen Analyseverfahren, wie der ikonografisch-ikonologischen Methode und der seriellen Fotoanalyse. Eine knappe Darlegung von methodologischer Absicht und Vorgehensweise kann das folgende Zitat verdeutlichen:
„Klassifikation und Qualifizierung von Quellen im Verfahren der seriell-ikonografischen Fotoanalyse berücksichtigen insbesondere die unterschiedlichen Quellensorten, ihren Entstehungszeitpunkt und ihre Verwendung; sie betreffen auch ästhetische Kategorien, die in der Einzelbildinterpretation präzisiert werden. Das heißt, in den ikonografisch-ikonologischen Bildinterpretationen werden spezifische Form-Inhalt-Relationen, bestimmte ästhetische Gestaltungen oder Stilmittel, dominante Motive oder Symbole für einen Zeitraum und/oder eine Religion hypothetisch ermittelt. Deren Häufigkeit wird dann an einem großen, nach Zeit, Raum und Herkunft spezifizierten Bildkorpus geprüft. Wenn auch dort beobachtet wird, dass tatsächlich ein bestimmtes Stilmittel o.ä. auffallend häufig vorkommt, kann eine gesellschaftliche Bedeutung vermutet werden. Diese wiederum kann dann an einer ausgewählten Klasse von Fotografien, die dieses Phänomen aufweist, genauer bestimmt werden. Zugleich wird das Verfahren der seriell-ikonografischen Fotoanalyse nicht nur der Bildmäßigkeit der Fotografie gerecht, sondern würdigt auch den Quellenwert des Indexikalischen“ (158).
Es ist klar, dass der Ansatz bislang nur anhand der vorgestellten Darstellungen der Autorinnen in seiner Bedeutung gewürdigt werden kann. Doch bereits im konkreten Fall wird ersichtlich, dass typische Quellenspezifika sehr gut erfasst werden und deshalb wohl auch allgemein erfassbar sind, so zum Beispiel der massenmediale Charakter und die Mehrspektivität der Fotografie. Die angeführten vier bildungshistorischen Untersuchungsbeispiele sind allesamt auf die Erziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts ausgerichtet. Die bildanalytischen Untersuchungen verdeutlichen unterschiedliche Qualitäten der fotografischen Quelle, z.B. Abbildungsqualität und Modellfunktion (Thema: Gesten und körperlicher Habitus von Lehrerinnen und Lehrern) oder ästhetische Konstruktionen des fotografischen Bildes (Thema: Inszenierung von Geschlecht).
Dass und in welcher Weise Fotografien nutzbringend in den erziehungswissenschaftlichen Blick gebracht werden können, ist wesentliches Anliegen der Autorinnen. Ihre entsprechenden methodologischen und methodischen Erläuterungen sind nachvollziehbar und verständlich, nicht zuletzt aufgrund der vorgelegten Beispielthemen. Zusammenfassend kann ich deshalb festhalten: Das Buch kann vom Aufbau und Inhalt her als Kompendium verstanden werden. Insgesamt ist der Text sehr dicht verfasst. Es werden sehr viele Informationen zu bedeutsamen Facetten des Gegenstandes „Fotografie“ allgemein und im pädagogischen Kontext sehr anschaulich zusammengeführt. An den Kapitelenden werden wichtige Informationen zusammengefasst, am Beginn der Kapitel wird der Leser mit einem Rückblick gedanklich abgeholt und weitergeführt. Das erleichtert die Orientierung in diesem inhaltsreichen Werk enorm.
Fazit: Wer mit Fotografien als Forschungsquelle arbeitet, wird zwangsläufig auf dieses Buch zurückgreifen müssen. Hier findet er grundlegende methodische Hinweise, die über die seriell-ikonographische Analyse hinausgehen. Das Buch enthält die zur Zeit wichtigsten bibliographischen Verweise. Insgesamt halte ich das Buch für eine sehr bedeutsame Bereicherung in der pädagogischen Methodenliteratur.
[1] Die beiden anderen Publikationen sind Schmitt, H./Link, J.-W./Tosch, F. (Hrsg.) (1997): Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte und Keck, R.W./Kirk, S./Schröder, H. (Hrsg.) (2004): Bildung im Bild. Bilderwelten als Quellen zur Kultur- und Bildungsgeschichte.
EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)
Das reflektierte Bild
Die seriell-ikonographische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005
(261 S.; ISBN 3-7815-1409-9; 32,00 EUR)
René Börrnert (Braunwschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
RenĂ© Börrnert: Rezension von: Pilarczyk, Ulrike / Mietzner, Ulrike: Das reflektierte Bild, Die seriell-ikonographische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151409.html
RenĂ© Börrnert: Rezension von: Pilarczyk, Ulrike / Mietzner, Ulrike: Das reflektierte Bild, Die seriell-ikonographische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151409.html