
Die Gliederung der Dissertation ist stringent: Nach einer Klärung des Konzeptes „ländlicher Raum“ (Kapitel II) und einer kurzen Darstellung der Raumkonzepte in der Pädagogik (Kapitel III), wird der mögliche Zusammenhang zwischen Professionalisierung und Zentralisierung sonderpädagogischer Angebote untersucht. Dafür werden historische Ansiedlungsmuster eben dieser Angebote rekonstruiert (Kapitel IV). Im nächsten Schritt wird die derzeitige Situation in Bezug auf räumliche Ansiedlung sonderpädagogischer Institutionen analysiert und zwar folgerichtig anhand des ländlichsten Bundeslandes, nämlich Mecklenburg-Vorpommern (Kapitel V). Beide Analysen – historische wie moderne Ansiedlung – differenzieren nach angebots- und nutzerorientierter Perspektive. Das letzte Kapitel beschreibt die aus der Untersuchung gewonnenen Möglichkeiten zu einem Perspektivenwechsel hin zu einer nutzerorientierten Betrachtung und diskutiert die entsprechenden Neuorientierungen (Kapitel VI).
Die nutzerorientierte Perspektive wird somit der konsequente Ausgangspunkt der sowohl theoretisch wie empirisch gehaltvollen Untersuchung, wobei der methodische Hauptaspekt auf der empirischen Seite zu finden ist. Neben raumordnerischen und agrarsoziologischen Ansätzen nimmt das Bourdieu’sche Kapitalkonzept als theoretische Basisorientierung eine herausragende Stellung ein. Die zentrale Fragestellung, der Ada Sasse nachgeht, ist, inwiefern Sonderschülerinnen und Sonderschüler aus dem ländlichen Raum durch Schule in die Lage versetzt werden, kulturelles und soziales Kapital zu akkumulieren und welche Rolle die Entfernung zwischen Wohnort und Schulort dabei spielt. Kulturelles Kapital wird im Kontext der Studie verstanden als das Erlangen eines formalen Bildungsabschlusses, der das Individuum befähigt, später ökonomisches Kapital zu akquirieren. Das Ergebnis der Untersuchung ist, dass weite Schulwege oder notwendige Unterbringungen in Internaten einen negativen Einfluss auf die Möglichkeiten der Kapitalakkumulation haben. Dieser negative Einfluss ergibt sich vor allem aus der Separierung der Lebenswelten und der zunehmend seltenen Präsenz im angestammten Lebensumfeld.
Die Studie ist nicht primär ein weiterer Beitrag zur Debatte über Schulschließungen und -fusionen. Sie kann vielmehr als der gelungene Versuch verstanden werden, eine bisher kaum wahrgenommene Problemstellung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs zu bearbeiten. Denn die Schlussfolgerungen, die aus der stringenten Argumentation folgen, sind bedeutungsvoll: will man sich, so die Autorin, auf eine nutzerorientierte Perspektive einlassen und so die Möglichkeiten schaffen, kulturelles und soziales Kapital bei Schülerinnen und Schülern mit Behinderung zu vergrößern, wird man an einer integrationspädagogischen Orientierung nicht vorbei kommen. Anders formuliert: will man vermeiden, dass sich Schülerinnen und Schüler, die in Sonderschulen unterrichtet werden, zunehmend von ihrem eigentlichen Lebensumfeld entfremden (und damit für die Akkumulation kulturellen Kapitals auf ungleich mehr soziales Kapital verzichten müssen als jene, die im näheren Umfeld der entsprechenden Schule wohnen), dann ist es notwendig, sonderpädagogische Kompetenz in den ländlichen Raum hineinzubringen und nicht sonderpädagogische Bedürfnisse aus dem ländlichen Raum in die Städte zu transportieren. Ein solches Unterfangen kann nur im Kontext integrativer Beschulung gelingen, für den die infrastrukturellen Bedingungen geschaffen werden müssen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Studie eine bisher kaum wahrgenommene Problemstellung aufdeckt und bearbeitet. Der bewusst interdisziplinär gewählte Ansatz, der soziologische, raumplanerische und pädagogische Forschungsergebnisse vereint, erscheint als Mittel der Wahl, um sich der Problemstellung anzunähern und es gelingt, neue Erkenntnisse aus dem sowohl theoretisch wie empirisch interessanten Material zu generieren. Die vorgeschlagenen Neuorientierungen verbleiben dennoch eher moderat: integrative Beschulung als Antwort auf die Problemstellung, resultierend aus einer nutzerorientierten Perspektive – dieser Vorschlag enthält mehr Potential, zumal die Autorin mit einem Ausblick endet, der auf größere Problemfelder schließen lässt: wenn in den nächsten Jahren die Schülerzahlen weiter sinken, der demographische Wandel sich also weiterer Lebensbereiche bemächtigt, dann ist es fraglich, ob nicht eine „Schule für Alle“ auf der Agenda stehen sollte. Zumindest würden die Ergebnisse der Studie einen solchen Schluss ebenfalls zulassen.