Auf den ersten Blick scheint es sich um ein abseitiges Thema zu handeln, das Peter Dudek mit dem vorliegenden Buch behandelt. In drei unterschiedlich ausführlichen Kapiteln versucht er, sich der Lebensgeschichte von Johannes Nohl zu nähern und dessen Existenz im Schatten des berühmten Bruders Herman, des Göttinger Professors für Pädagogik, vor dem Vergessen zu bewahren.
Doch in der Biographieforschung impliziert das Besondere immer zugleich Allgemeines: Johannes Nohls bizarrer Lebenslauf steht exemplarisch für all jene, die romantischen anarchistisch-utopischen Vorstellungen anhingen und als bürgerliche Intellektuelle aus der Bahn geworfen wurden. Nicht nur, weil er Bruder eines Klassikers der Erziehungswissenschaft war, sondern vor allem, weil er als Schriftsteller zeitlebens an pädagogischen Fragestellungen interessiert war, wird seine Biographie für Dudek interessant. Für bildungshistorisch Interessierte ist dabei besonders das 7. Kapitel von Interesse, in dem Dudek den Zusammenhang lebensgeschichtlicher Erfahrungen mit pädagogischer Theoriebildung am Beispiel der Brüder Herman und Johannes diskutiert, biographietheoretisch Interessierte werden in den Kapiteln 4-6 fündig.
Die mühsame Spurensuche führte Peter Dudek in Archive in Göttingen, Amsterdam, Bern, Berlin, Marburg, Stuttgart und Zürich zu den Nachlässen von Hermann Hesse, Karl Wolfskehl, Stefan George, Herman Nohl u.a. Die umfangreichsten Archivalien zu Johannes Nohl sind im Nohl-Wentscher-Nachlass im Archiv der Akademie der Künste in Berlin zu finden. Außer Briefmaterial entdeckte Peter Dudek dort mehrere autobiographische Skizzen und Entwürfe aus verschiedenen Jahrzehnten (ein Glücksfall für Biographieforscher), die das Gerüst für die vorliegende Biographie bilden.
Die Spurensuche Dudeks erscheint umso verdienstvoller, je mehr man sich die ebenso bizarre Rezeptionsgeschichte verdeutlicht: In Studien zur Psychoanalyse, zur Homosexuellenbewegung, zur deutschen Literatur wird Johannes Nohl, der sich u. a. im Umkreis von Erich Mühsam, Hermann Hesse und der Lebensreformbewegung (Monte Verita) aufhielt, immer nur kurz erwähnt und als Analytiker, als Psychologe, Pädagoge u. a. bezeichnet. Die meisten der Verweise sind irreführend oder schlicht falsch, wie Dudek nachweisen kann.
Die lebensgeschichtlichen Stationen von Johannes Nohl werden in Kapitel 4 (1882-1914) und Kapitel 6 (1915-1963) rekonstruiert. Johannes Nohl verlebte nach eigenen Aussagen eine unglückliche Kindheit. Er litt unter dem frühen Tod der Mutter und hatte ein sehr gespanntes Verhältnis zum Vater. Obwohl er in der Schule mehrfach sitzen blieb (er ging wie sein Bruder Herman ins Graue Kloster), bezeichnete Johannes Nohl die Schulzeit rückblickend als glückliche Zeit seines Lebens. Zwei einschneidende Erlebnisse warfen den Studenten, der eine Universitätskarriere im Bereich Literatur anstrebte, aus der bürgerlich vorgezeichneten Bahn: Wegen eines Festes mit „homosexuellem Ambiente“ (31) kam es zum Bruch mit dem Vater, infolgedessen Johannes das Studium wegen nun ausbleibender finanzieller Mittel abbrechen musste. Als besonders schwerwiegend empfand er, dass er vom Bruder Herman in jener Lage keine Fürsprache erhielt.
Mit Erich Mühsam, den Johannes schon als Primaner kennen gelernt hatte, begab er sich 1904 auf Reisen durch die Schweiz und Italien. Die beiden landeten auf dem Monte Verita, dem Lebensort von Bohemiens, Anarchisten, Okkultisten und anderen „intellektuellen Vagabunden“. In diesem Milieu lebten die beiden, unterbrochen von Reisen und kurzen Verhaftungen. Die Freundschaft mit Mühsam dauerte bis 1911, als sie sich wegen Geld entfremdeten. Mühsam hatte Johannes Nohl bis dahin immer wieder finanziell unterstützt. Die Freunde gründeten u. a. den Sozialistischen Bund, dessen Zeitschrift Nohl erste Publikationsmöglichkeiten verschaffte. Er veröffentlichte vor allem Abhandlungen zu literaturgeschichtlichen Themen. Doch das scheint nur eine Seite des Johannes Nohl gewesen zu sein. Neben das rekonstruierte Bild eines homosexuellen Anarcho-Intellektuellen stellt Dudek als zweite Facette die eines verzweifelten Sohnes, der vergeblich den Weg zurück ins bürgerliche Milieu suchte, sich mit dem Vater versöhnen und sein Studium abschließen wollte.
Das kurze fünfte Kapitel ist dem Münchener Geheimbundprozess von 1910 gewidmet, bei dem neben Mühsam unter anderem auch Nohl angeklagt war, sich dem Verfahren aber durch Flucht in die Schweiz entzog. Kapitel 6 rekonstruiert die Stationen der „nach-anarchistischen Ära“ in Johannes Nohls Leben. Von 1914-1920 lebte er mit seiner Lebensgefährtin Iza Prussag in der Schweiz. Der Ehe, 1918 geschlossen, 1927 geschieden, entstammen 2 Kinder, die 1918 und 1919 geboren wurden. Die Familie war, ständig von Existenznot begleitet, auf finanzielle Unterstützung angewiesen, da die Tätigkeiten Nohls als Laienanalytiker und als freier Schriftsteller die Familie nicht ernähren konnten. Die Kinder Friedrich und Ursula lebten nach der Scheidung beim Vater. Eigene Teilkapitel sind dem Journalisten und dem Laienanalytiker gewidmet, wobei die Beziehungen zu Hermann Hesse und Sigmund Freud gesondert betrachtet werden. Während der Kontakt zu Freud nur kurzzeitig bestand, war die Beziehung zwischen Hesse und Nohl intensiver. Nohl war zu jener Zeit als Laienanalytiker tätig und behandelte Hermann Hesse (1916-1918). Mit längeren Briefzitaten wird die Position Nohls innerhalb der Psychoanalyse eingeholt, auch Einschätzungen der Zeitgenossen, anerkennende und ablehnende, werden von Peter Dudek dokumentiert und rekonstruiert.
In den folgenden Berliner Jahren (ab 1920) versuchte Johannes Nohl vergeblich, sich als Schriftsteller zu etablieren. Er setzte sich erfolgreich für andere Schriftsteller ein, 1924 erschien sein erstes Werk, viele seiner Ideen und Pläne konnten jedoch nicht realisiert werden. Zwischen 1929 und 1946 konnte bzw. durfte Nohl nicht publizieren, so dass seine finanzielle Lage extrem angespannt blieb. Dudek kennzeichnet die Situation des allein erziehenden Vaters als Beispiel für bildungsbürgerliche Arbeitslosigkeit eindrucksvoll mit langen Briefzitaten. Nohl wurde mehrfach ausgebombt, seine Kinder galten wegen der mütterlichen Abstammung als „nicht-arisch“, auch wurde er mehrfach verhaftet und zu Zwangsarbeit verpflichtet. Bis 1945 blieb er abhängig von der Alimentation des Göttinger Bruders. Den letzten Lebensabschnitt verbrachte Johannes Nohl als Schriftsteller in der DDR. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner neuen Lebensgefährtin in Weimar. Erstmals in seinem Leben erhielt er (für kurze Zeit) eine feste Anstellung und gab als Lektor beim Kiepenheuer Verlag zahlreiche Bücher heraus. Aus gesundheitlichen und/oder politischen Gründen tauschte er die feste Anstellung bald gegen eine freie Mitarbeiterschaft. Er trat der SED bei und wurde Mitglied im Schriftstellerverband, dem er bis zu seinem Tod 1963 angehörte.
In dem aus erziehungswissenschaftlicher Sicht vielleicht interessantesten 7. Kapitel werden bildungshistorische und biographietheoretische Fragen zusammengeführt. Unter Rekurs auf Klaus Prange und in kritischer Auseinandersetzung mit Stephan Pfeifer verdeutlicht Dudek, dass Herman Nohls Position der Sozialpädagogik als „individueller Nothilfe“ auch in der biographischen Erfahrung mit dem Bruder wurzelt. Dudek fragt nach den Zusammenhängen historischer Erfahrungen mit pädagogischer Theoriebildung ‚im Fall Nohl’. Gegenübergestellt werden zunächst die ganz unterschiedlichen Erinnerungen der Brüder Johannes und Herman an das Elternhaus bzw. den Vater. Während Herman Nohl seine Erinnerungen „pädagogisch überformt“ (158) und die biographisch erlebte Differenz der Generationen als Einstieg in die wissenschaftliche Pädagogik nutzt, erfuhr der Bruder die Generationen different als existenzielle Bedrohung. Johannes Nohl wurde zum schwarzen Schaf der Familie, für den Bruder eine „höchst peinliche Angelegenheit“ (170).
Nach mehreren Jahren ohne jeglichen Kontakt, nahmen die Brüder voller gegenseitiger Vorwürfe die Korrespondenz nach 1909 wieder auf. Herman unterstützte seinen Bruder finanziell, aber auch mit Büchern und Kleidung bis 1945. Johannes hoffte in Herman einen Vermittler für die Rückkehr ins bürgerliche Leben zu finden, sandte dem Bruder im Gegenzug die eigenen Abhandlungen über Psychoanalyse, Literaturgeschichte und andere Publikationen. Der ambivalenten Beziehung nähert sich Dudek vorsichtig aus verschiedenen Perspektiven. Während Johannes dem Bruder die mangelnde Unterstützung beim väterlichen Hinauswurf verübelte, wurde dessen Existenz noch in der Todesanzeige Hermans verschwiegen.
Zwar galt Johannes Nohls primäres Interesse der Literaturgeschichte, seine Publikationen zur Psychoanalyse, zu pädagogischen und bildungspolitischen Fragen sollten jedoch auch im Kontext der Theoriebildung seines Bruders Herman zur Kenntnis genommen werden. Johannes Nohl betonte die Bedeutung der Psychoanalyse für die Pädagogik, insbesondere für die Lehrer, sprach sich radikaler als sein Bruder für die Veränderung des Generationenverhältnisses aus, rezensierte Wynekens „Kampf für die Jugend“ sehr positiv, teilte das romantische Kindheitsbild mancher Reformpädagogen, führte sogar eine Befragung bei Berliner Gymnasiasten zu deren Lektürevorlieben durch und setzte sich „erstaunlich gut informiert“ (180) mit der Reform der Volksschullehrerausbildung auseinander. Nicht zuletzt durch seine psychoanalytische Vorbildung war Johannes Nohls Interesse darauf gerichtet, die eigene Erziehung und die seiner Kinder kritisch zu reflektieren.
Wie implizit verdeutlicht ist das Buch Dudeks in mehrfacher Hinsicht sehr interessant: wissenschaftsgeschichtlich in Bezug auf die Theorierekonstruktion der Schriften Herman Nohls: In Bezug auf die deutsche Bewegung, die Sozialpädagogik und das Verhältnis zur Psychoanalyse liefert Dudek viele Hinweise, die es lohnenswert erscheinen lassen, hier weitere Forschungen anzuschließen. Aus biographietheoretischer Perspektive ist nicht nur der bizarre Lebenslauf des Johannes Nohl von exemplarischem Interesse. Auch das Geschwisterverhältnis, das hier im biographischen „Längsschnitt“ erscheint, liefert Möglichkeiten zu weiteren Forschungen.
Schließlich aber nicht zuletzt erscheint mir das Buch besonders lesenswert, weil Peter Dudek versucht, bei seinen Rekonstruktionen einerseits präzise zu dokumentieren und andererseits Ambivalenzen sowie Bereiche offener Fragen aufzuzeigen. Er bezieht klar Position und bleibt gleichzeitig zurückhaltend, eine Balance, die nicht immer so gut gelingt wie in diesem Buch.
EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)
Ein Leben im Schatten
Johannes und Herman Nohl - zwei deutsche Karrieren im Kontrast
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004
(215 S.; ISBN 3-7815-1374-2; 18,00 EUR)
Dorle Klika (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dorle Klika: Rezension von: Dudek, Peter: Ein Leben im Schatten, Johannes und Herman Nohl - zwei deutsche Karrieren im Kontrast, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151374.html
Dorle Klika: Rezension von: Dudek, Peter: Ein Leben im Schatten, Johannes und Herman Nohl - zwei deutsche Karrieren im Kontrast, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151374.html