Nach der Überblicksrezension von Ricarda Reimer in der letzten erziehungswissenschaftlichen Revue [1] soll erneut das Handbuch von Glaser, Klika und Prengel besprochen werden, dessen Ziel es ist, den Begriff Gender in seinen verschiedenen Auslegungen als Perspektive für erziehungswissenschaftliche Studien stark zu machen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich allerdings nur auf Fragen, wo und wie Jungen und Männer bzw. Männlichkeiten im Handbuch thematisiert werden. Ich möchte zeigen, dass diese Thematik systematisch wie inhaltlich letztlich nicht vollständig im Handbuch integriert werden konnte, und werde im zweiten Teil der Rezension einige fragende Anmerkungen zum Verständnis von Männlichkeitskritik machen.
Männer erscheinen zum ersten Mal, sieht man von der Einleitung und dem Inhaltsverzeichnis ab, im ersten Artikel zur Wissenschaftsforschung unter der Überschrift Frühe Frauenforschung! Hier werden unter "(nicht nur) weibliche Gegenstimmen" (in Anschluss an Pia Schmid) Hippel, Rousseau, Campe und andere Autoren genannt. Auch Sprangers Psychologie des Jugendalters von 1924, die ausschließlich Jungen behandelt, wird erwähnt. Später erscheinen Männer in diesem Artikel als Wissenschaftler oder auch als Gegenstand von Forschung erst wieder ab 1990. All dies ist exemplarisch und es wird gleich deutlich, was ja auch schon hinlänglich bekannt ist: Männer, ob als Subjekte oder als Untersuchungsgegenstand, haben in der Geschlechterforschung keine große Bedeutung und gewinnen diese erst in jüngster Zeit. Frauen haben insbesondere und legitimerweise vor allem Fragen zur Mädchenerziehung und Frauenbildung bearbeitet. Trotzdem soll im Folgenden näher gefragt werden, welche Rolle und Bedeutung Männer bzw. Männlichkeiten im Handbuch bekommen und wo sie in dessen Systematik verortet werden.
Ins Auge springen zunächst die beiden Artikel zu Männerforschung und Erziehungswissenschaft im Theoriekapitel des Handbuchs und Jungen- und Männerarbeit im dritten Kapitel zu Teildisziplinen und Handlungsfeldern. Offensichtlich sind beide Artikel aber außerhalb der Ordnung der übrigen Artikel der Kapitel, worauf in der Einleitung nicht hingewiesen wird. Im Theorieteil finden sich nämlich Theoriekonzepte von Geschlecht/Gender, die weiterhin insbesondere Fragen von Konstruktion bzw. Dekonstruktion thematisieren. Der Männerforschungsartikel geht dagegen von einem Gegenstandsbereich aus. Ein Pendant, also Frauenforschung und Erziehungswissenschaft, findet sich nicht. Dasselbe gilt für den Artikel Jungen- und Männerarbeit im dritten Kapitel. Die angekündigte Ordnungsfunktion des Handbuchs, Wissen "in ein geordnetes System" (Einleitung S.12) zu bringen, ist für die Männerforschung wohl noch nicht erreicht. Die Männerartikel erscheinen angehängt, nicht integriert.
Dieser Eindruck verstärkt sich beim Durchgang durch die Artikel. In den übrigen 16 Artikeln im ersten Kapitel zu theoretischen Fragen werden Jungen und Männer bzw. Männlichkeiten als Gegenstand der Forschung kaum thematisiert oder höchstens als Forscher, die sich androzentrisch oder auch mal frauenfreundlich zur Geschlechterfrage geäußert haben. Über Geschlecht und Geschlechterdifferenz wird dagegen auf die verwegensten Weisen philosophiert. Aber: Darf im Haus des Henkers nicht über den Strick gesprochen werden?
In den vier bildungshistorischen Artikeln im zweiten Kapitel werden Männer bzw. Männlichkeiten ebenfalls nur randständig erwähnt. Unter den neueren "kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten" finden sich mehrere Studien zur Männergeschichte (329ff.). Auch sozialgeschichtliche Arbeiten fokussieren in jüngerer Zeit auf Jungen und Männer (291) unter einer Geschlechterperspektive. Ideengeschichtlich wird die neuere, internationale Rousseau-Forschung vorgestellt. Ein Hinweis auf den interdisziplinären Arbeitskreis Männer- und Geschlechterforschung (AIM-Gender), der mit seinen Tagungen schwerpunktmäßig historische Studien zu Männlichkeiten unterstützt (siehe www.igm-bosch.de, Martin Dinges) fehlt. Vielleicht weil sich kein eigener Artikel zu Männerforschung findet?
Im dritten Kapitel finden sich Artikel zu Teildisziplinen und Handlungsfeldern der Erziehungswissenschaft. Die Artikel sind zunächst geordnet nach dem Lebenslauf, von der Familienerziehung bis zur Erwachsenenbildung. Unverständlich ist mir, warum dann erst die Artikel zur Hochschule und LehrerInnenbildung folgen. Schließlich werden noch Einzel-Themen behandelt (Beratung, Medien, Gender Mainstreaming). Der Artikel zur Jungen- und Männerarbeit wurde hinter den Artikel zur Kinder- und Jugendhilfe gesetzt. Warum wurde er nicht, wie der Männerforschungsartikel im Theorieteil, ans Ende gesetzt? Oder hinter die Kinder- und Jugendarbeit, die der Artikel schwerpunktmäßig bespricht? Die Reihenfolge der Artikel und damit die Ordnung auch dieses Kapitels werden auch in der Einleitung nicht wirklich klar.
Geht man die einzelnen Artikel dieses Kapitels durch, findet man mehr Hinweise als in den anderen Kapiteln – so z.B. zu Jungen im Kindergarten (365, 368), in der Grundschule (376ff.), in den Sekundarstufen (393ff.), in den Fachdidaktiken (414ff.), zur Computernutzung von Jungen und medialer Gewalt (563ff.) oder zur Situation von Jungen in den erzieherischen Hilfen (469ff.). Leider sind diese Hinweise meist beschränkt auf Nachweise oder Widerlegungen von Geschlechtsunterschieden. Hier zeigt sich, dass die Theoriediskussion noch nicht in die empirische Forschung integriert ist. Weiter finden sich Hinweise zur Rolle von Männern beim Gender Mainstreaming (583).
Es fehlen allerdings auch Hinweise, wo man sie erwartet hätte. So erfährt man im Artikel zu Gender Studies wenig über Initiativen zur Etablierung von Männerforschung und trotz des Handbuchs von Brandes/Bullinger von 1996, das hier einen Schwerpunkt hat, findet sich im Artikel zu psychosozialer Beratung die Männerberatung ausgespart. Auch im Artikel zur Sonder- und Integrationspädagogik könnte man erwarten, dass aufgrund der genannten eklatanten Geschlechtsunterschiede auf die Situation von Jungen und Männern besonders eingegangen wird. Es ist zu erfahren, dass nach zwei Phasen, die in der Tradition der Frauenforschung standen, aktuelle Arbeiten den Zusammenhang (der Konstruktion) von Behinderung mit (der Konstruktion von) Geschlecht behandeln. Hinweise zur Situation von Jungen und Männern finden sich im Artikel nicht. Immerhin genannt werden Männerbildungsansätze im Artikel zur Erwachsenenbildung. Die dortige Kommentierung (vgl. S.512f.) erscheint allerdings so wenig informiert, wie ihre Kritik am Malestream der Erwachsenenbildung zutreffend.
Erwartungsgemäß wird im Artikel zur außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit die Jungenarbeit behandelt (451ff.). Im kurz darauf folgenden Artikel zur Jungen- und Männerarbeit wird Jungenarbeit ein zweites Mal behandelt – was allerdings nach der ersten fragmentarischen Darstellung Not tut. Einmal, weil nun die theoretischen Bezugspunkte und politischen Kontexte der Jungenarbeit deutlicher werden und zweitens, weil eine internationale Sicht dargestellt wird. Drittens ist nun auch Raum wenigstens ansatzweise Themen der Jungen- aber auch der Männerarbeit zu skizzieren: Gewalt, Jungenarbeit in der Schule sowie Körper, Gesundheit und Grenzerfahrungen. Die pädagogische Arbeit mit Vätern, schwule Bildungsarbeit und die aktuell aufkeimende Profession der Gendertrainer (im Gender Mainstreaming) kommen dabei m.E. aber immer noch zu kurz. Diese Tätigkeitsfelder werden so im ganzen Handbuch nicht behandelt, obwohl es doch wünschenswert wäre, wenn bei Studierenden und sonstigen LeserInnen des Handbuchs dafür Interesse erzeugt werden könnte.
Im vierten Kapitel zu methodologischen Fragen finden sich, wie nun schon zu erwarten, keine Forschungszugänge, die sich auf Männer richten. Allein einen Literaturhinweis (624) habe ich gefunden. Warum kam hier nicht auch ein Artikel zu methodologischen Fragen der Männerforschung in Frage?
Nun möchte ich noch näher auf die schon erwähnten Artikel zur Männerforschung und zur Jungen- und Männerarbeit eingehen. Ich halte beide Artikel für gelungen und informativ. Sie nutzen die Gelegenheit, die Breite der Ansätze und die Vielfalt der Themen anzudeuten, auch wenn ihnen dazu wenig Raum bleibt. Geschickt umgeht z.B. der Theorieartikel zunächst die bisher übliche, einengende Verwendungsweise des Ausdrucks Männerforschung als Forschung von Männern über Männer und definiert sein Thema allein vom Gegenstand her. Dies ermöglicht eine breitere Darstellung von Theorien. So kann neben Connell, der tatsächlich hauptsächlich Männlichkeiten untersucht, auch der geschlechter- und herrschaftstheoretische Ansatz von Bourdieu skizziert werden, dessen ursprüngliche Schrift Männliche Herrschaft sich ja hauptsächlich mit Frauen beschäftigte (im Gegensatz zum erweiterten, vollständigen Text, der gerade bei Suhrkamp erschienen ist). In der Übersicht über zentrale Themen der Forschung über Männer (Sozialisation und Identität, Vaterschaft, Gewalt, Täter/Opfer) erscheinen so auch sinnvoller Weise Autorinnen wie auch zur Geschichte der Männerforschung. Wiederum wäre es wünschenswert gewesen, weitere Themen zu behandeln, so z.B. historische.
Kritisch anmerken möchte ich zum Artikel zur Jungen- und Männerarbeit, dass im Zuge der Darstellung des politischen Kontextes eine in der Zwischenzeit typische Ausblendung vorgenommen wird. Dort heißt es in Anschluss an Skeltons Unterscheidung von sechs Zugängen zur Männerpolitik: "Eine eigene sozialistische Männerbewegung hat hingegen keine Relevanz". Dies trifft zumindest für Deutschland nicht zu. Als Beleg kann hier die erste Männerzeitschrift HerrMann aus Berlin genannt werden, aus dessen Umfeld viele heutige Männerforscher und –aktivisten stammen und die zur unorthodoxen Linken zu rechnen war. Es kann das linke Männerarchiv im Archiv Papiertiger in Berlin genannt werden oder auch die Hamburger Männerzeitschrift Männerrundbrief, die in den 1990er Jahren von Autonomen herausgegeben wurde. Auch bei Michael Meusers und Cornelia Behnkes Studien zu Männergruppen ist aufgefallen, dass Gruppen, die diese Projekte betrieben oder unterstützt haben, nicht vorkommen. Ich sehe in diesem Ausblenden linker Männerpolitiken eine Parallele zum Ausblenden von linken Gruppierungen in den Darstellungen der Neuen sozialen Bewegungen der 1980er und 1990er Jahre.
Im selben Artikel werden im Folgenden verschiedene Formen der "Männerbewegung" dargestellt, um schließlich zu den pädagogischen Schwerpunkten der Jungen- und Männerarbeit zu kommen. Dazu einige Fragen zur Begrifflichkeit: Ich halte es in der Forschung, nicht nur im Artikel, für bisher unklar, was unter Männerpolitik(en) verstanden werden kann. Abgelehnt wird im Artikel das Kriterium der Institutionalsierung (479). Ist damit auch das Kriterium des Grades der Organisierung ausgeschlossen? Sind Selbst- oder/und theoretische Fremdbeschreibungen für die Unterteilung der Strömungen ausschlaggebend? Wie geht man z.B. um mit Gruppierungen, die eindeutig Männerinteressen artikulieren, diese aber nicht als solche benennen, wie z.B. mit dem ADAC, DFB, studentischen Verbindungen oder so manch anderen universitären Verbindungen? Auch beispielsweise bei Connell finden sich m.E. hierzu keine ausreichenden Abgrenzungen, z.B. des Grads der geschlechterstrategischen Bewusstheit von Politiken bzw. was überhaupt als "Politik" verstanden werden kann. Auch der Begriff Männerbewegung(en) ist schillernd und wird, wie im Artikel auch dargestellt, z.B. von Brzoska oder auch mir kritisch, weil männlich-anmaßend, gesehen. Im Artikel wird er, ohne dieser Kritik zu widersprechen, trotzdem benutzt.
Schließlich bleibt die Frage: Ist die pädagogische "Jungen- und Männerarbeit" ebenfalls als politisch oder als politische Arbeit anzusehen, wenn ihr "Horizont" (479) u.a. politische Positionen sind? Richtig ist sicher, dass sich Forschung zu Männlichkeiten und Forschung von Männern zum Geschlechterverhältnis nicht aus dem Geschlechtermißverhältnis herausdenken kann, ja prinzipiell unter Ideologieverdacht steht und (auch insofern) sich zum Feminismus und zur Frauenforschung positionieren sollte. Eine Männlichkeitskritik (und Weiblichkeitskritik?), wie sie im Artikel von Edgar Forster vertreten wird, soll sich über Netzwerke formieren. Warum diese dazu "keine neue Bewegung" (S.487) formieren sollen, erscheint mir unklar. Widersprüchlich scheint mir auch das Schlussplädoyer, dissident masculinities forcieren, aber gleichzeitig keine neuen Männerbilder entwerfen zu wollen (ebd.).
Für einen falschen Gegensatz halte ich den letzten Satz des Artikels: "Männlichkeitskritik bezieht ihre Kraft nicht aus der »Krise der Männlichkeit« …, sondern aus der Lust auf ein anderes Begehren" (487) – außer eben, wie hier im Zitat ausgelassen, man identifiziert "Krise von Männlichkeit" mit der "falschen Voraussetzung der Möglichkeit einer vollen positiven männlichen Identität" (ebd.). Die Rede von der "Krise der Männlichkeit" ist tatsächlich (leider) oft verbunden mit dem Bemühen einer Rekonstitution einer solchen hegemonialen Identitätsform. Dies ist aber nicht notwendig und ich möchte provozierend fragen, von welchem Ort die Lust auf ein anderes Begehren und Leben denn kommen soll als von einem, an dem Männlichkeit in die Krise geschickt wird? Ich halte Männlichkeitskritik insofern auch für kein gänzlich "offenes Projekt" (ebd.), weil Kritik eben auch heißt, etwas abzulehnen und überwinden zu wollen. Ob dazu gerade "(Männer-)Arbeit" und "(Männer-)Politik" geeignet sind, jene Inbegriffe des Männlichen, sollte dann auch irgendwann gefragt werden.
Zweifellos hat sich die pädagogische Geschlechterforschung in den letzten zehn Jahren gewaltig entwickelt. Vergleicht man das Handbuch beispielsweise selbst mit dem damals herausragenden Jahrbuch für Pädagogik von 1994, sieht man die große Entwicklung. Die Geschlechterforschung ist nicht mehr "nur" Frauenforschung und sie hat Anschluss zu vielen relevanten Diskursen anderer Disziplinen gefunden. Eine Forschung zu Jungen/Männern bzw. Männlichkeiten befindet sich aber weiterhin erst im Aufbau. Die Forderung von Prengel von 1990 im Heft 7/8 des Sozialmagazins, diese zu entwickeln, bleibt also aktuell. Ob durch die Strukturierung und den zur Verfügung gestellten bzw. genutzten Raum des Handbuchs die Forschung von und zu Männern bzw. Männlichkeiten wirklich befördert wurde, kann ambivalent bewertet werden.
Zum Abschluss noch ein allgemeiner Gedanke. Zum Teil geraten die erziehungswissenschaftlichen Konsequenzen aus den gendertheoretischen Ausführungen kurz und an das Ende der Aufsätze. Dies macht deutlich, dass bisher oft nur Anregungen, aber noch kein Forschungsprogramm vorliegt. Eine Verbindung zur Erziehungs- und Bildungstheorie bleibt zudem vielfach undeutlich. Bei der Lektüre der siebzehn theoretischen Artikel fragt man sich z.B. irgendwann unweigerlich, ob diese immer weiteren Erweiterungen des Blicks wirklich nur nutzen – zumal eine methodische Umsetzung vielfach nicht diskutiert wird und eine gegenseitige Kritik ganz offensichtlich der Entfaltung der Vielfalt der Ansätze vorgezogen wurde.
[1] Ricarda T.D. Reimer: Rezension von: Glaser, Edith/Klika, Dorle/Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: Erziehungswissenschaftliche Revue 4 (2005). Nr. 2 (Veröffentlicht am 6.04.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151323-1.htm.
Fritjof Bönold (Nürnberg)
EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)
Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2004
(704 S.; ISBN 3-7815-1323-8; 39,90 EUR)
Fritjof Bönold (Nürnberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Fritjof Bönold: Rezension von: Glaser, Edith / Klika, Dorle / Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151323-1.html
Fritjof Bönold: Rezension von: Glaser, Edith / Klika, Dorle / Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151323-1.html