EWR 3 (2004), Nr. 2 (MĂ€rz/April 2004)

Petra Götte
Jugendstrafvollzug im "Dritten Reich"
Diskutiert und realisiert - erlebt und erinnert
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(492 Seiten; ISBN 3-7815-1280-0; 32,00 EUR)
Jugendstrafvollzug im "Dritten Reich" Untersuchungen zum Thema "Jugend im Nationalsozialismus" nehmen bekanntlich einen sehr breiten Raum im Rahmen der bildungshistorischen Forschung ein. Dabei findet zwar in erster Linie das große Feld der Hitler-Jugend mit ihren Gliederungen BerĂŒcksichtigung, zahlreiche Untersuchungen widmen sich jedoch auch dem vielfĂ€ltigen Spektrum der unangepassten und widerstĂ€ndigen Jugendgruppen. Ihrem Status als soziale Randgruppe entsprechend blieben dagegen die durch Eigentums- oder Gewaltdelikte kriminell gewordenen Jugendlichen bislang vom Forschungsinteresse weitgehend ausgeschlossen, ein Zustand, dem Petra Götte mit ihrer Dissertation - so viel sei vorab gesagt - sehr erfolgreich entgegenwirkt.

Erstaunlich ist diese ForschungslĂŒcke schon deshalb, da die Zahl verurteilter Jugendlicher beiderlei Geschlechts in den Jahren von 1933-1939 nicht unerheblich war. Sie schwankte jĂ€hrlich zwischen ca. 16.000 und 19.000 Verurteilungen bei einem Tiefststand von 12.294 im Jahre 1934 und einem Höchststand von 24.562 im Jahre 1937 (vgl. den tabellarischen Überblick ĂŒber den Zeitraum 1925-1939, 484). In ca. 50% der FĂ€lle wurde eine GefĂ€ngnisstrafe verhĂ€ngt, die zumeist eine Dauer von drei Monaten nicht ĂŒberschritt, aber bei immerhin ca. einem Drittel der Verurteilten deutlich lĂ€nger dauerte (vgl. 183).

Eine nicht geringe Zahl von Jugendlichen durchlief also in der Zeit des Nationalsozialismus eine bislang weitgehend unbekannte Form des Strafvollzugs, was der nĂ€heren Betrachtung des Alltags in den Jugendstrafanstalten und den damit verbundenen Zielen eine klare Berechtigung verleiht. Götte widmet sich diesem Thema in ĂŒberaus grĂŒndlicher Form. Dabei spricht sie zwar von einer "Fallstudie", die das JugendgefĂ€ngnis Wittlich in seiner Strafvollzugspraxis untersuchen will, sprengt den so gesetzten Rahmen aber bei weitem, indem sie zunĂ€chst in einem ersten Teil "den rechtlichen Rahmen des Jugendstrafvollzugs, d.h. das Jugendstrafrecht und die Verordnungen und VerfĂŒgungen zum Jugendstrafvollzug" sowie die VerĂ€nderungen nach 1933 in den Blick nimmt. Anschließend geht sie im zweiten Teil dazu ĂŒber, "sowohl die Strafvollzugspolitik auf Reichsebene als auch die Vollzugspraxis vor Ort im Wittlicher GefĂ€ngnis" darzustellen (17).

Die Grundlage ihrer Arbeit besteht einerseits aus der Auswertung eines umfangreichen Bestandes zeitgenössischer Texte zum Themenbereich Jugendkriminalpolitik, Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug; andererseits stĂŒtzt sie sich auf die AktenbestĂ€nde der am Jugendstrafvollzug beteiligten Behörden und Institutionen. Obwohl bei den sicherlich langwierigen Archivaufenthalten die Sichtung des Materials zum JugendgefĂ€ngnis Wittlich im Vordergrund stand, wertete Götte außerdem Akten aus, die das JugendgefĂ€ngnis Hahnöfersand bei Hamburg betreffen, um eine vergleichende Ebene bei ihrer Betrachtung zu gewinnen.

Um zusĂ€tzlich "die Perspektive damals inhaftierter Jugendlicher mit einzubeziehen", fĂŒhrte sie Interviews mit acht Zeitzeug/inn/en, die in der NS-Zeit eine Strafe in einem JugendgefĂ€ngnis verbĂŒĂŸten. Die begangenen Straftaten bestehen hier in zwei FĂ€llen aus Eigentumsdelikten, in einem Fall aus illegalem GrenzĂŒbertritt und in den restlichen fĂŒnf FĂ€llen aus im weitesten Sinne staatsfeindlichen Handlungen (Vorbereitung zum Hochverrat). Leider handelt es sich bei den Interviewpartner/inne/n nur in einem Fall um einen Inhaftierten des JugendgefĂ€ngnis Wittlich, so dass der Beitrag der Befragung zur Fallstudie gering ausfĂ€llt. Dennoch ermöglichen die an geeigneten Stellen platzierten Zitate aus diesen Erinnerungen einen Einblick in die Wahrnehmung der damals inhaftierten Jugendlichen und tragen so zur Veranschaulichung der Untersuchung bei.

Petra Götte geht es aber nicht nur darum, den Jugendstrafvollzug im Nationalsozialismus und die ihn bestimmenden Bedingungen nachzuzeichnen. Ihr Erkenntnisinteresse wird zusĂ€tzlich durch die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Forschungsliteratur zur Strafvollzugspraxis im Nationalsozialismus geprĂ€gt. Die dort behauptete "NormalitĂ€t" und weiterhin bestehende Rechtsstaatlichkeit des Strafvollzugs stehen nĂ€mlich in deutlichem Widerspruch zu der Tatsache, dass sich die Vollzugsanstalten widerspruchslos in die Verbrechen des NS-Staates einbinden ließen, indem sie die so genannten "Gemeinschaftsfremden" nach und nach aussortierten, dem nationalsozialistischen Lagersystem und somit der "Vernichtung durch Arbeit" zufĂŒhrten. Eine Antwort auf die Frage, wie dieser Vorgang möglich wurde, sucht Götte nicht nur in der Auseinandersetzung mit der MentalitĂ€t der beteiligten Menschen, sondern auch in der Untersuchung der strukturellen Voraussetzungen.

Dies geschieht unter RĂŒckgriff auf das Konzept der "totalen Institution" des amerikanischen Soziologen Erving Goffman, der in seinem 1973 auf deutsch erschienenen Buch "Asyle" Einrichtungen analysiert, in denen Menschen eher unfreiwillig Abschnitte ihres Lebens fristen.[1] Die dort erfolgende "Regelung lebensnotwendiger menschlicher BedĂŒrfnisse einer ganzen Gruppe von Individuen durch eine bĂŒrokratisch organisierte Institution" lĂ€sst diese in Verbindung mit anderen Merkmalen einen allmĂ€chtigen Zugriff auf das Dasein des Menschen ausĂŒben. Die damit verbundene Entindividualisierung des Menschen, so die These Göttes, erleichterte die im nationalsozialistischen Jugendstrafvollzug beobachtbare Auslese- und Ausgrenzungspraxis, die als selbstverstĂ€ndlicher Teil des bĂŒrokratischen Alltags angesehen wurde. Da die "Mechanismen bĂŒrokratischen Handelns nicht nur kennzeichnend fĂŒr das ‚Dritte Reich’ sind, sondern fĂŒr die Moderne generell", könne eine Untersuchung zum Strafvollzug im Nationalsozialismus "die destruktiven Möglichkeiten eines modernen, rational und bĂŒrokratisch organisierten Jugendstrafvollzugs" im Allgemeinen offen legen (25).

Auch wenn die Arbeit von Götte mit den hier nur kurz umrissenen Schwerpunkten meiner Ansicht nach ein weiteres Beispiel fĂŒr eine Dissertation darstellt, die den vernĂŒnftigen Rahmen einer solchen Qualifizierungsarbeit sprengt (was selbstverstĂ€ndlich nicht allein im Verantwortungsbereich der Autorin liegt), so muss doch festgestellt werden, dass es ihr gelungen ist, die an sich selbst gestellten Anforderungen mit einer gewissen Leichtigkeit zu erfĂŒllen.

Sicherlich ist es zuweilen eine Herausforderung, die FĂŒlle an Verordnungen, Paragraphen und Gesetzestexten, die Götte vor allem im ersten Teil skizziert, noch nachzuvollziehen. Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen Verordnungen zeigt sich aber beim Lesen des zweiten Teils, wenn man feststellen muss, wie Theorie und Praxis zuweilen auseinander klafften bzw. wie situationsabhĂ€ngig die Verordnungen angewandt wurden.

In ihrer Darstellung der Praxis des Jugendstrafvollzugs im JugendgefĂ€ngnis Wittlich geht Götte zum einen auf die beteiligten Menschen ein: Fragen nach den Aufsichtsbehörden, der Leitung, den Vollzugsbeamten und der statistischen Zusammensetzung der HĂ€ftlinge werden hier ausfĂŒhrlich geklĂ€rt. Zum anderen beschreibt sie den Vollzugsalltag in seinen zahlreichen Facetten: rĂ€umliche Umgebung, Kleidung, Tagesablauf, Arbeit und Freizeit, Unterricht, Seelsorge, Sport, Verpflegung und medizinische Versorgung sind hier die Bereiche, die alle Gefangenen betrafen, wĂ€hrend rassenhygienische Maßnahmen, Disziplinierungsmaßnahmen, Misshandlung von HĂ€ftlingen und Ausgrenzung "unerziehbarer" Gefangener nur fĂŒr eine kleinere Gruppe relevant wurden. Wege aus dem GefĂ€ngnis wie Entlassung, Begnadigung oder "BewĂ€hrung vor dem Feind" sowie die eventuell sich anschließende fĂŒrsorgerische Betreuung nach der Haftentlassung schließen das Kapitel ab.

Eine in diesem Zusammenhang erwĂ€hnenswert Erkenntnis ist sicherlich die Tatsache, dass Vorstellungen von einem brutalen, durch drakonische Strafen geprĂ€gten Jugendstrafvollzug im Nationalsozialismus nicht der RealitĂ€t entsprechen. Anhand des Zeitzeugen Wilhelm Goldner wird zwar die BrutalitĂ€t der Verhöre durch SS und Gestapo drastisch verdeutlicht, die Zeit im GefĂ€ngnis verlief bei entsprechender FĂŒhrung und unter der Voraussetzung der "Volksgemeinschaftszugehörigkeit" relativ glimpflich. Hier kam der aus der Weimarer Zeit ĂŒbernommene Erziehungsgedanke als zentraler Bestandteil des Jugendstrafvollzugs zum Tragen, den die Nationalsozialisten in ihrem Sinne verfolgen wollten. Die Erziehung zur Reintegration in die Volksgemeinschaft blieb ein ausgemachtes Ziel, wobei Götte die Ambivalenzen des ErziehungsverstĂ€ndnisses der NS-Zeit deutlich zu machen versteht (vgl. 109ff.).

SelbstverstĂ€ndlich, und dies war zu erwarten, brachte die Haftzeit vielfĂ€ltige psychische und im Verlauf des Krieges auch physische Belastungen mit sich, als die Essenszuteilungen immer karger und die ohnehin eingeschrĂ€nkten Kontakte zu Angehörigen noch seltener wurden. Dies aber ließ sich genauso ertragen wie Arreststrafen und die Monotonie des Alltagslebens. Eine ganz andere Dimension des Leidens stellte sich erst dann ein, wenn die HĂ€ftlinge ins Blickfeld der Kriminalbiologie rĂŒckten, zu den so genannten "Gemeinschaftsfremden" gezĂ€hlt oder als "unerziehbar" eingestuft wurden. Ohne großen Widerstand ließen sich die Strafvollzugsbehörden einerseits in die rassenhygienischen Verbrechen des NS-Staates einbinden, indem sie HĂ€ftlinge zur Sterilisation und Kastration vorschlugen, und lieferten andererseits "nichtarische" und "unerziehbare" HĂ€ftlinge an das nationalsozialistische Lagersystem aus.

Die Argumentationslinie zur BestĂ€tigung ihrer anfangs aufgestellten These verfolgt Götte durchgĂ€ngig, aber unauffĂ€llig. Erst im Schlussteil fĂŒhrt sie die FĂ€den noch einmal zusammen und erschwert einen Widerspruch gegen ein VerstĂ€ndnis von GefĂ€ngnis als totaler Institution, auch unabhĂ€ngig vom historischen Umfeld, obwohl sie die Besonderheiten eines nationalsozialistisch ideologisierten Strafvollzugs noch einmal hervorhebt. Somit liefert die Arbeit von Petra Götte nicht nur detaillierte Informationen ĂŒber den JugendgefĂ€ngnisalltag im Nationalsozialismus, sondern auch ĂŒberzeugende Argumente gegen einen bĂŒrokratisierten Strafvollzug, in dem der "Gefangene immer weniger als menschliches Individuum und immer mehr als Objekt, als Fall" (453) behandelt wird.

Eine rundum gelungene Arbeit also, doch sei abschließend noch eine MĂ€kelei gestattet: Es finden sich nĂ€mlich auffĂ€llig viele Fehler bis hin zu fehlenden Wörtern, was einerseits wieder einmal auf die Folgen eines fehlenden Lektorats seitens der Verlage hinweist. Andererseits ist hier natĂŒrlich die Autorin gefordert, sich den Korrekturarbeiten mit doppelter Aufmerksamkeit zu widmen.

Anmerkung:

[1] Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 1973.
RĂŒdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
RĂŒdiger Loeffelmeier: Rezension von: Götte, Petra: Jugendstrafvollzug im "Dritten Reich", Diskutiert und realisiert - erlebt und erinnert, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151280.html