EWR 1 (2002), Nr. 4 (September 2002)

JĂŒrgen Grzesik
Operative Lerntheorie
Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung des Menschen durch SelbstverÀnderung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(580 Seiten; ISBN 3-7815-1197-9; 29,90 EUR)
Operative Lerntheorie Das Vorhaben von Grzesik ist interessant: Er möchte psychologische Lerntheorien und neurobiologische Erkenntnisse ĂŒber das Lernen miteinander verbinden. Seiner Ansicht nach besitze diese bisher nicht erbrachte Verbindung vor allem fĂŒr die Verbesserung der pĂ€dagogischen Praxis große Relevanz.

Im ersten Kapitel wird dargestellt, was das Besondere an einer operativen Theorie des Lernens sei und wodurch sie sich von anderen Lerntheorien unterscheide, die sich entweder auf eine Auflistung psychologischer Lerntheorien oder auf Beschreibung neurobiologischer VorgĂ€nge beim Lernen beschrĂ€nkten. Der Autor möchte einen anderen Zugang herstellen, um dem derzeitigen Wissensstand der Disziplinen Neurophysiologie und Psychologie gerecht zu werden. Es gĂ€be, so schreibt er "zwar immer noch nur wenige ErklĂ€rungsversuche fĂŒr den Gesamtprozeß des Lernens, aber die Zahl von Untersuchungen einzelner Prozesse, die im Gesamtprozeß des Lernens eine Rolle spielen können, hat außerordentlich zugenommen" (20). Aus diesem Grund möchte er die "ZusammenhĂ€nge zwischen den bis jetzt untersuchten Teilprozessen erkennbar machen" (21).

Die Darstellung allgemeiner Aspekte der Informationsverarbeitung im "neuropsychischen System" ist zentrales Thema des zweiten Kapitels. Hier sei eine Beobachtung biologischer VorgÀnge von einer Beobachtung psychischer Prozesse immer abgegrenzt, womit der Autor zum Ausdruck bringt, dass er kein Vertreter einer materialistischen Sichtweise ist, die "alles Psychische als NervenaktivitÀt ansieht" (29). Die Untersuchung von Lernprozessen spiele sich immer in "beiden erfahrbaren RealitÀtsbereichen des neuronalen und des psychischen Systems" ab (29). Die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Nervensystem werden primÀr unter Bezugnahme auf systemtheoretisch und konstruktivistisch orientierte Autoren beschrieben.

Im dritten Abschnitt behandelt der Autor das neuronale System gesondert, in dem er die neuroanatomische Struktur des Nervensystems, Reizverarbeitungsprozesse zwischen Nervenzellen und die funktionale Unterteilung des Gehirns darstellt. Er referiert dabei neurowissenschaftliche Publikationen und verfolgt die erforschten neurobiologischen VorgĂ€nge beim Lernen bis hin zur Transmitterebene. In diesem Kapitel finden sich viele Abbildungen, die grĂ¶ĂŸtenteils einschlĂ€gigen Standardwerken der Neurowissenschaften und der Biologischen Psychologie entnommen sind.

Die Darstellung der VerĂ€nderungen durch Lernen im psychischen System nimmt das vierte Kapitel ein. Besonderes ausfĂŒhrlich wird hier die Bedeutung des ‚kurzzeitigen ArbeitsgedĂ€chtnisses’ (KAG) beschrieben, weil es "in einem spezifischen WechselwirkungsverhĂ€ltnis mit der Prozeßeinheit der Handlung [steht]" (282). Ausschlaggebend ist dabei die Annahme, dass das KAG nicht als Informationsspeicher gedacht werden soll, sondern dass Handlungen und dabei ablaufende psychische Prozesse an zeitliche Aspekte, an KapazitĂ€t und die Funktionsstruktur des KAG gebunden sind. Ferner geht der Autor in diesem Kapitel auf die Theorie der Operation, insbesondere von Piaget ein, auf dessen Annahmen sein operatives VerstĂ€ndnis von Lernen beruht (vgl. 325).

Im fĂŒnften Kapitel versucht der Autor, die im Titel des Werkes angezielte "operative Lerntheorie", als eine "integrative Theorie" zu entwerfen, die sich daraus ergibt, dass "das neuronale und das psychische System zusammen eine operational geschlossene Ganzheit bilden" (385). Die "Systemstörung", verstanden als "Input des Lernsystems" (421) wird unter BerĂŒcksichtigung psychologischen und neurologischen Wissens, ebenso beschrieben wie die Operationen, die zum Beheben der Störung fĂŒhren. Die vom Autor angestrebte interdisziplinĂ€re Verbindung besteht in der DurchfĂŒhrung darin, dass er das verfĂŒgbare Wissen ĂŒber Lernprozesse in Relation zueinander setzt: Wenn beispielsweise eine Assimilation im Sinne Piagets nicht gelingt, tritt eine Störung auf, und Grzesik macht sich nun daran parallel zur psychologischen Beschreibung den Ort und die entsprechenden AktivitĂ€tsmuster im zentralen Nervensystem zu beschreiben (423fff.).

Die pĂ€dagogische Relevanz seiner AusfĂŒhrungen soll dann im sechsten Kapitel deutlich werden. "Lernen ist zwar die VerĂ€nderung des neuropsychischen Systems durch sich selbst, die Prozesse des Lernens werden aber durch die Welt als Ă€ußere Umgebung dieses Systems beeinflusst" (540) schreibt Grzesik. Die praktische Anwendung dieser Sicht soll sich aus Aussagen ĂŒber Erziehungsprozesse ergeben, die fĂŒr ihn "aus Informationen, die von Personen an Personen medial vermittelt werden" (545) bestehen. Der Erzieher mĂŒsse ĂŒber Informationsquellen genau Bescheid wissen und dabei sei die operative Lerntheorie hilfreich.

FĂŒr Studenten, die neben Wissenschaftlern und Lehrern als Adressaten des Werkes genannt werden, dĂŒrfte die LektĂŒre mĂŒhsam und unergiebig sein: Grzesik bietet weder einen systematischen Überblick, noch einen gut verstĂ€ndlichen Zugang zu interdisziplinĂ€ren Fragen. Aufgrund der vielen theoretischen Voraussetzungen ist ein Grundwissen, beispielsweise in Bezug auf systemtheoretische und konstruktivistische PrĂ€missen, vonnöten, um seinem Vorhaben folgen zu können.

Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis gibt erste Hinweise auf die Strukturierungs- und Argumentationsweise der Publikation: Untergliederungspunkte mit einer LĂ€nge von bis zu fĂŒnf Zeilen, deren Bedeutungen sich bestenfalls aus dem dazugehörigen Textteil erschließen lassen, deuten darauf hin, dass die Darstellung weder um Kompaktheit noch um Klarheit bemĂŒht ist. Zahlreiche Redundanzen und Querverweise zwischen einzelnen Kapiteln tragen ebenso wenig zum VerstĂ€ndnis bei.

Der pĂ€dagogisch interessierte Leser, der den ersten fĂŒnf Kapiteln geduldig folgt, weil er die Grundlagen fĂŒr den eingangs angekĂŒndigten "hohen ErklĂ€rungswert fĂŒr die Praxis" (17) im sechsten Kapitel verstehen möchte, wird eine EnttĂ€uschung erleben. Auf 13 Seiten - von insgesamt 580 Seiten - versucht Grzesik hier die Anwendung der operativen Lerntheorie aufzuzeigen. Dabei irritieren – in Anbetracht der vorausgegangenen AusfĂŒhrungen ĂŒber die operationale Geschlossenheit des neuropsychischen Systems - nicht nur die grundlegende Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbsterziehung (543), sondern auch Formulierungen, in denen davon die Rede ist, dass es der Erzieher sei, der "Beziehungen des Edukanden zu allen anderen Ă€ußeren Umgebungen her[stellt]" (543), oder in denen von "Informationen" die Rede ist, "die der Erzieher vermitteln kann" (546). Vergeblich sucht man als Leser die BezĂŒge zwischen Neurobiologie, Psychologie und PĂ€dagogik. Stattdessen zĂ€hlt Grzesik GegenstĂ€nde der Sinneswahrnehmung auf und leitet daraus ab, dass der Erzieher diese als mögliche Informations- und Lernquellen genau kennen mĂŒsse, um angemessene Lernhilfe leisten zu können. Die Ableitung handlungsrelevanten Wissens aus den zuvor dargelegten Beschreibungen des neuropsychischen Systems gelingt nicht: Dementsprechend fallen die Handlungsmaximen, die sich laut Grzesik aus der operativen Lerntheorie herleiten, nicht innovativ aus Dass der Erzieher beispielsweise "den Edukanden zum grĂ¶ĂŸtmöglichen Maß unterschiedlicher eigener AktivitĂ€t anregen [sollte]" ist nicht besonders neu.

Grzesiks Entwurf einer ,operativen Lerntheorie’ stellt aus pĂ€dagogischer Sicht einen vielversprechend formulierten, aber an seinen eigenen AnsprĂŒchen gescheiterten Versuch dar, neurobiologisches und psychologisches Wissen mit Anspruch auf praktische Anwendbarkeit in der Erziehungswissenschaft zu rezipieren. Der Autor ĂŒberschĂ€tzt in diesem Punkt die derzeitigen Erkenntnismöglichkeiten durch die Neurowissenschaften: Psychische VorgĂ€nge können zwar zunehmend mit neuronalen VorgĂ€ngen korreliert werden. Aber in Bezug auf pĂ€dagogische Fragen lassen sich bisher allenfalls BestĂ€tigungen fĂŒr Professions- und Alltagswissen finden und von neuen Handlungsmaximen kann keine Rede sein – wie der pĂ€dagogische Teil des Buches unbeabsichtigterweise auch zeigt.
Nicole Becker (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Becker: Rezension von: Grzesik, JĂŒrgen: Operative Lerntheorie, Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung des Menschen durch SelbstverĂ€nderung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151197.html