EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

Andreas Eckert
Eltern behinderter Kinder und Fachleute
Erfahrungen, Bedürfnisse und Chancen
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(259 Seiten; ISBN 3-7815-1179-0; 25,50 EUR)
Eltern behinderter Kinder und Fachleute Eltern, die ein behindertes Kind bekommen, sind mit einer unerwarteten Lebensperspektive konfrontiert. Sie sehen sich vielfältigen individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber. Mit Hilfe welcher Ressourcen sie diese bewältigen und welche Faktoren sich in ihrem Zusammenleben schützend auswirken, wurde bislang nur sporadisch untersucht. Dass sich aus der Lebenswirklichkeit der Familien mit behinderten Kindern nicht nur Belastungen sondern auch Chancen ergeben, ist erst in den letzten 10 Jahren zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden.

In der Gleichsetzung "behindertes Kind = behinderte Familie" zeigte sich bislang eine defektorientierte Sicht. Die Geburt eines behinderten Kindes ließ automatisch auch die Eltern unterstützungs- oder sogar therapiebedürftig erscheinen. Daher war es lange Zeit in der Heilpädagogik üblich, die Eltern behinderter Kinder als "behinderte" Eltern mit "Sonderproblemen" zu etikettieren und ihr Verhalten anhand von psychoanalytischen Modellen pathologisierend zu bewerten.

Seit Beginn der 90er Jahre ist jedoch ein Wandel in der Diskussion um die Rolle der Eltern behinderter Kinder zu beobachten. Der in der heutigen Heilpädagogik üblichen systemischen Perspektive folgend wird auch die Position der Eltern behinderter Kinder zunehmend im Hinblick auf ihre Autonomie, ihre Leistungen und Kompetenzen gesehen. Sie werden nicht mehr als unwissende Laien abgewertet, denen die professionellen Experten hierarchisch übergeordnet sind. Ihnen wird auch nicht mehr ohne weiteres die Rolle der Ko-Therapeuten mit der Aufgabe der Unterstützung der Fachleute, quasi als ihr "verlängerter Arm", zugewiesen. Vielmehr wird zum gegenseitigen Nutzen eine gleichberechtigte und partnerschaftliche Kooperation aller Beteiligten angestrebt.

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Eltern behinderter Kinder sich vielfältigen Herausforderungen gegenüber sehen, die sich jedoch nicht grundsätzlich von den Problemen in anderen Familien unterscheiden. Die Bewältigung dieser Herausforderungen gestaltet sich abhängig von den persönlichen Möglichkeiten der Beteiligten, den familiären Ressourcen, den gesellschaftlichen Einstellungen und nicht zuletzt abhängig von der Qualität professioneller Hilfeangebote. Daran anschließend stellt sich die Frage, wie Eltern angemessen unterstützt werden können.

Denn: Professionelle Unterstützung hat immer einen Doppelcharakter. Zum einen zielt sie darauf Menschen zu unterstützen, zum anderen kann sie zu einer Belastung und Etikettierung der HilfenehmerInnen führen. Familien, in denen Kinder mit Beeinträchtigungen leben, unterscheiden sich von anderen Familien vor allem dadurch, dass sie in ein solches Hilfesystem eingebettet sind und hier wie unter einem professionellen Vergrößerungsglas leben. Sie sind nicht selten geradezu "umzingelt" von Institutionen und einzelnen Fachleuten, die unterschiedlich adäquat auf die familiäre Lebenswelt eingehen. Wie kann nun unter diesen Umständen das professionelle Hilfesystem zu einer Ressource im Leben von Familien mit behinderten Kindern werden, anstatt sie noch zusätzlich zu belasten?

Andreas Eckert, Jahrgang 1968, lehrt an der Universität Köln. Er verfügt über eigene Erfahrungen in der Beratung und Therapie von Familien mit autistischen Kindern und hat bisher Arbeiten zu systemtheoretischen Ansätzen und zur Familienorientierung in der Heilpädagogik publiziert.

Die vorliegende, auf seiner Dissertation basierende Veröffentlichung nimmt aktuelle Forderungen auf, institutionelle Hilfen stärker an den Wünschen der Betroffenen auszurichten. Ausgehend von einer ganzheitlich - systemischen Perspektive auf das Phänomen der Behinderung stellt der Autor die subjektive Sicht betroffener Eltern in den Mittelpunkt und untersucht anhand von 15 Leitfadeninterviews die Lebenswelt von Familien mit behinderten Kindern sowie die Passung von Unterstützungsangeboten. Er geht der Frage nach, wie der familiäre Alltag konkret gestaltet wird, wenn Eltern mit einem behinderten Kind leben; welche Erfahrungen diese Eltern mit Fachleuten machen, welche Bedürfnisse die Familien haben und wie das professionelle Hilfesystem auf diese Bedürfnislagen eingehen kann. Der Autor hat sich zum Ziel gesetzt, mit Hilfe der Erhebung der Elternperspektive die Verbesserung vorhandener Beratungs- und Unterstützungskonzepte sowie die Entwicklung neuer Hilfemodelle anzuregen und damit zur Erhöhung der Lebensqualität von Eltern und ihren behinderten Kindern beizutragen.

In dem hier zu besprechenden Band sondiert Andreas Eckert zunächst den theoretischen Bezugsrahmen. Anhand einer Literaturanalyse gibt der Autor eine Einführung in die Veränderung familiärer Strukturen in pluralistischen Lebenswelten und fasst die einschlägigen Forschungsergebnisse über die Lebenssituation von Familien mit einem behinderten Kind zusammen. Speck u.a. folgend zeichnet er die Veränderung der den Eltern zugewiesenen Rolle vom Laien- über das Ko-Therapeuten- bis hin zum aktuellen Kooperations- oder Ergänzungsmodell nach. Auch der Einfluss des Empowerment – Konzeptes in der Zusammenarbeit mit den Eltern als "Experten in eigener Sache" (Theunissen) wird ausführlich diskutiert.

In der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviews mit 8 Elternpaaren und 7 Müttern behinderter Kinder wird differenziert herausgearbeitet, welche hilfreichen und welche belastenden Erfahrungen die Eltern behinderter Kinder mit Fachleuten machen und welche Wünsche sie an ein professionelles Hilfesystem richten, das als sinnvolle Unterstützung der Familie erlebt wird. Dabei ergibt sich auf dem Hintergrund eines kritischen Grundtenors ein sehr heterogenes Bild: Neben der Schilderung konkreter positiver Erfahrungen mit Fachleuten überwiegen kritische Erzählungen über die Art und Weise, in der Professionelle den Kontakt gestalten und welche Informationen und Unterstützungsangebote sie bereithalten. Deutlich wird in der Analyse auch, welchen prozesshaften Charakter die Bedürfnisse von Familien haben: Von Professionellen wird erwartet, flexible subjektzentrierte Angebote zu gestalten, die die jeweilige individuelle Familiengeschichte beachten.

Seit ca. 15 Jahren werden Untersuchungen publiziert, die die Perspektive von Eltern und Geschwistern behinderter Kinder auf ihre Lebenssituation in den Mittelpunkt stellen (so zuletzt Neumann 2001; Schulz 1999). In den meisten Fällen beziehen sich diese Untersuchungen jedoch auf Eltern von Kindern mit einer spezifischen Beeinträchtigung wie autistische Verhaltensweisen (Finger 1995), auf bestimmte Unterstützungsbereiche wie die Frühförderung (Wesemann 1995; Warnke 1999) oder auf konkrete Schulformen (Theunissen u.a. 1997). Auch die Lebenssituation der Mütter schwerstbehinderter Kinder gerät zunehmend in den Fokus neuerer Untersuchungen (Wolf-Stiegemeyer 2000).

Im Unterschied zu den bisher vorliegenden Studien bezieht sich Andreas Eckert nicht auf Kinder mit bestimmten Beeinträchtigungen und evaluiert keine konkreten Unterstützungsformen. Vielmehr teilt er mit, die Eltern nicht primär zu den Beeinträchtigungen ihrer Kinder, sondern hauptsächlich zu ihren Erfahrungen mit Fachleuten befragt zu haben. Die Entscheidung für dieses forschungsmethodische Vorgehen lässt einerseits weniger Differenzierungsmöglichkeiten zu, da individuelle Informationen über die befragten Eltern und ihre Kinder fehlen. Andererseits bietet sich hier die Gelegenheit, übergreifende Strukturen in den Aussagen der Eltern deutlicher herauszufiltern. So entsteht ein aussagekräftiges Bild von den grundsätzlichen Erwartungen der Eltern an Professionelle. Besonders positiv fällt auf, dass Eckert die Perspektive der oft vergessenen Väter behinderter Kinder nachdrücklich mit einbezieht.

Der Autor hat sich bei der Darstellung der aktuellen Forschungslandschaft und der Analyse der Interviewergebnisse für ein abstrakt - fachspezifisches Sprachniveau entschieden. Damit richtet sich das Buch in erster Linie an WissenschaftlerInnen und Studierende. Für Professionelle, die ein Interesse daran haben, eigenes Handeln im Kontakt zu Eltern zu reflektieren, bietet die hier vorliegende Studie erst nach der Lektüre differenzierter theoretischer Erörterungen auch konkrete Handlungsvorschläge. Deshalb ist dieser Band in erster Linie nicht als ein Elternratgeber zu lesen. Besonders geeignet ist er jedoch für Studierende - als wichtiger Impuls zur Entwicklung der eigenen professionellen Rolle und als Orientierungsfolie für die spätere Gestaltung des eigenen professionellen Handelns.

Abschließend bleibt festzustellen, dass der Band einen hervorragenden Überblick über den aktuellen fachlichen Diskussionsstand im Themenfeld Familie und Behinderung sowie insbesondere hinsichtlich der Einschätzung professioneller Hilfesysteme durch Eltern bietet. Die Leistung der vorliegenden Studie liegt in der sehr differenzierten Analyse der durch Eltern als hilfreich bzw. belastend erfahrenen Kontakte mit Fachleuten. Insofern gibt das Buch wertvolle Impulse für eine familienorientierte Gestaltung heilpädagogischen Handelns - sofern Fachleute bereit sind, elterliches Erfahrungs- und Handlungswissen anzuerkennen, ihre Bedürfnisse zur Kenntnis zu nehmen und von der elterlichen Perspektive zu lernen.

Literatur:

Finger, G. (1995): Mein Kind ist nicht wie andere: Leben mit verhaltensauffälligen, behinderten und autistischen Kindern. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
Neumann, H. (2001): Verkürzte Kindheit. Vom Leben der Geschwister behinderter Menschen. Königsfurt: Krummwisch.
Schulz, D. (1999): Besondere Wege. Welche Bedeutung haben Kinder mit Behinderung für die Biographie ihrer Eltern? Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben.
Theunissen, G./ Plaute, W./ Garlipp,B./ Westling, D. (1997): Wünsche von Eltern behinderter und entwicklungsverzögerter Kinder in den neuen Bundesländern – eine Studie aus Sachsen-Anhalt. In: Die neue Sonderschule 1997, 2, 115-129.
Warnke, A. (1999): Frühförderung und Zusammenarbeit mit der Familie. 297 – 308. In: Neuhäuser/Steinhausen (Hrsg.) (1999): Geistige Behinderung – Grundlagen, Klinische Syndrome, Behandlung und Rehabilitation. 2. Aufl.. Stuttgart: Kohlhammer.
Wesemann, A. (1995): Wie Mütter schwerstbehinderter Kinder Frühförderung und Selbsthilfe erleben. Unveröffentlichte Examensarbeit. Heidelberg.
Wolf-Stiegemeyer, D. (2000): Der (etwas?) andere Alltag von Müttern schwerstbehinderter Kinder. http://www2.uibk.ac.at/bidok/library/psychosozial/beh3-00-alltag.html (Zugriff am 30.08.2003) (Gedruckt in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr.3/2000).
Dietke Sanders (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dietke Sanders: Rezension von: Eckert, Andreas: Eltern behinderter Kinder und Fachleute, Erfahrungen, Bedürfnisse und Chancen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151179.html