Die zu besprechende Arbeit beginnt mit einer relativ aufwendigen theoretischen Rahmung. Reinhartz knüpft dabei zunächst an postmoderne Diskussionslagen an und geht dann zu Adorno und Heidegger über. Die Verbindung besteht für sie darin, dass bei beiden eine Anwaltschaft für das Vergessene und Verdrängte vorliege, so dass beide zu Vordenkern heutiger postmoderner Philosophie gerechnet werden könnten. Reinhartz verfolgt eine erziehungswissenschaftliche Perspektive, die sich gerade nicht an den pädagogischen und gesellschaftspolitischen Äußerungen Adornos orientiert, sondern die methodologischen Reflexionen der philosophischen Schriften bildungstheoretisch fortsetzt (vgl. 33). Daraus ergibt sich eine Fokussierung nicht-identischer und widersprüchlicher Wirklichkeitskonstellationen. Um unter dieser Perspektive für die Analyse von Bildungsprozessen näher zu sensibilisieren und genetische und konstellative Analysen durchführen zu können, zieht Reinhartz die Strukturphänomenologie von Heinrich Rombach hinzu. Die empirische Anschlussfähigkeit stellt sie in methodologischer und methodischer Hinsicht her, indem sie ihre Überlegungen in den Kontext Qualitativer Sozialforschung einordnet. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Studie von Reinhartz sich jener Forschung zuordnen lässt, die im letzten Jahrzehnt als bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung bezeichnet worden ist.
In dem durch diesen Band dokumentierten Forschungsprojekt liegt eine interessante Verbindung von quantitativem und qualitativem Design vor. Aus der quantitativen Auswertung der Erhebung sind nämlich Leitthemen für die qualitative Interviewstrukturierung erarbeitet worden. Der Fragebogen hat drei Schwerpunkte erfragt: 1. Erwartungen an Bildungsinstitutionen (Schule, Universität). 2. Verhältnis von allgemeiner und politischer Bildung. 3. Religiöse Aspekte der Bildung. Es geht Reinhartz im qualitativen Teil darum, ein Verständnis von Bildung, dessen Sinnstruktur durch die quantitative Erhebung nicht zu entdecken war, strukturell zu Tage zu fördern. Insgesamt unterscheidet sie drei Horizonte:
Aus dem ersten Horizont, dem bildungsbürgerlichen, resultieren beispielsweise Fragen, ob die Erfahrung von Krankheit und Verfall noch als bildungsrelevant gewertet werden könne, ob der Bildungsprozess noch schwerpunktmäßig als Kultivierung der Innerlichkeit aufgefaßt werde und ob es noch die Vorstellung des Bildungsprozesses als eines Wandlungsprozesses im Sinne einer Erhöhung und Perfektionierung gebe (60). Im Ergebnis stellt sie fest, dass der klassische Wesensgehalt der deutschen Bildungstradition, nämlich ein romantisch-protestantischer Geist der Innerlichkeit und des künstlerisch-musischen Geschehens jenseits des politischen Tagesgeschäftes, nicht mehr anzutreffen, bzw. genauer: empirisch nicht mehr in den Befragungen nachweisbar sei. Allgemeinwissen als zentrale Deutungskategorie steht an erster Stelle dessen, was mit Bildung verknüpft werde. Sie wird von der Reflexionsfähigkeit an zweiter Stelle gefolgt. Allgemeinwissen werde von den Studierenden im Kontext von Sprachlichkeit gesehen, denn Gespräche und Diskussionen sowie eine allgemeine Informiertheit werden stark mit Bildungsprozessen in Verbindung gebracht. Interessant ist der Befund, dass die Erfahrung im Umgang mit Kranken und Sterbenden von vielen Informanten als hoch bildungsrelevant eingestuft wird.
Aus dem zweiten Horizont, dem öffentlich-politischen, resultieren Fragen, die auf das Verhältnis von Privatsphäre und öffentlichem Raum zielen, die das Verhältnis von Bildung und Demokratie sowie Bildung und Ethik betreffen. Schließlich interessiert sie sich dafür, welche Rolle das Studium im Hinblick auf Bildungs- und/oder Berufsausbildungsprozesse spielt. Reinhartz kommt zu dem Resultat, dass Aktivitäten in politischen Institutionen und Gruppierungen weitgehend nicht als bildungsrelevant betracht werden, dass institutionalisierte Formen von Demokratie (z.B. Parteiendemokratie bzw. ein Engagement innerhalb von Parteien) eher abgelehnt werden. Der "Durchgang durch Parteien" erschwere eher politisches Engagement; anders formuliert: Institutionelles Engagement wird für Bildung als nicht wichtig eingestuft.
Aus dem dritten Horizont, dem biographischen, resultieren Fragen, die sich auf die Art der Präsentation von Lebensgeschichten beziehen sowie auf den Sachverhalt der Relevanz von Wendepunkten im Leben. Reinhartz kommt zu dem Ergebnis, dass ein Studium für die meisten Befragten eng mit einer individuellen Persönlichkeitsbildung zu tun habe. Berufsplanung und die Arbeit an der eigenen Biographie seien eng miteinander verbunden. Für einen überwiegenden Teil der PädagogikstudentInnen sind Schule und Elternhaus entscheidende und positiv bewertete Bildungsinstanzen. Religiöse Aspekte werden eher als nicht wichtig eingestuft. "Die Geschichte des eigenen Selbst sucht dabei keine Anker im Jenseitigen, sondern weiß sich tendenziell im Nahraum von Familien und Freunden geborgen und gestärkt. Dies mag auch bedingen, dass ein großes Interesse und große Bereitschaft besteht, sich für die eigene und auch andere Biographien hin zu öffnen." (149) Interessant ist an den Analysen unter biographieanalytischer Perspektive, dass der Metapher ein besonderer bildungsrelevanter Wert zugemessen wird (vgl. beispielsweise 119), weil die Metapher und der Ausdruck von Unbestimmtheit in einem Zusammenhang stehen. Die Metapher wird nämlich von Reinhartz als typische Ausdrucksform für das Verhältnis von Identität und Differenz im Bildungsprozess gesehen, ähnlich wie Koller und Kokemohr es in ihren Arbeiten expliziert haben.
Welches ist nun der Ertrag der vorliegenden Arbeit? Die vorgelegte Studie ist von der Gesamtanlage her plausibel und in sich konsistent konzipiert. Was leider – und das ist aus meiner Sicht ein Wermutstropfen – nicht ganz deutlich wird, ist, warum ein so hoher Theorieaufwand zu Beginn der Arbeit betrieben wird. Misst man diesen Aufwand an der Anlage und den Resultaten des empirischen Teils der Studie, so sind gemäß eines ökonomischen wissenschaftstheoretischen Grundsatzes (Ockhams Rasiermesser) erhebliche Diskrepanzen festzustellen: Warum beispielsweise die Strukturphänomenologie von Heinrich Rombach herangezogen werden muss – obwohl sie im empirischen Teil absolut keine Rolle mehr spielt -, bleibt schleierhaft. Hier hat die Theoriearbeit eine Eigendynamik erhalten, die aus meiner Sicht sachlich nicht zu begründen und im Hinblick auf die Gesamtstudie zu bedauern ist. Von diesen theoretischen Nörgeleien abgesehen, liegt jedoch eine wertvolle Arbeit vor, die aus meiner Sicht insbesondere im empirischen Bereich ihre Stärken aufweist, und das, obwohl die Stichprobe mit insgesamt fünf qualitativen Interviews als entschieden zu niedrig anzusehen ist.
Es ist für mich sehr plausibel, wenn Reinhartz im Ergebnis ihrer Forschungen von einer "realistischen Wendung des Bildungsverständnisses" spricht. Darunter ist zu verstehen, dass das deutsche Deutungsmuster bürgerlichen Bildungsgeistes bei Studierenden (der Pädagogik) nicht mehr aufweisbar ist. Bildung wird auf der einen Seite eben nicht mehr von vornherein generell auf Literatur und bildende Künste bezogen, sie weist auch keine transzendente Fundierung (in der Religion) auf. Bildung ist für die Studierenden auf der anderen Seite mehr als Allgemeinwissen; sie indiziert einen Reflexionsstand. Empirisch deutlich wird auf diese Weise in der vorliegenden Arbeit, dass Bildung als Reflexionsmodus jener zentrale Fokus ist, in dem Wissen, Können und Persönlichkeit sich verschränken. Eine solche Auffassung korrespondiert mit jenen Debatten, die der Moderne eine Steigerung von Reflexivität attestieren (vgl. beispielsweise Giddens). Bildung, das wäre eine mögliche Schlussfolgerung, ist insofern in der Tat eine heuristisch wertvolle Kategorie, die ein hohes zeitdiagnostisch und biographisches Potential aufweist, um die entscheidenden Veränderungen in unseren Gesellschaft zu thematisieren und zu verstehen. In diesem Sinne leistet die vorliegende Arbeit für eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung einen wichtigen Beitrag.
EWR 1 (2002), Nr. 4 (September 2002)
Vom alten und neuen Zauber der Bildung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001
(162 Seiten; ISBN 3-7815-1175-8; 26,60 EUR)
Winfried Marotzki (Magdeburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Winfried Marotzki: Rezension von: Reinhartz, Petra: Vom alten und neuen Zauber der Bildung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151175.html
Winfried Marotzki: Rezension von: Reinhartz, Petra: Vom alten und neuen Zauber der Bildung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151175.html