Heterogenität bzw. Homogenität einer Gruppe kann sich prinzipiell auf eine Vielzahl von Merkmalen beziehen. Wie aus dem Untertitel hervorgeht konzentriert sich Graumann in ihren Ausführungen auf Fragen zur Leistungsheterogenität bzw. -homogenität.
Nach der Klärung grundlegender Begrifflichkeiten setzt sich Graumann mit Argumenten für sowie gegen den Unterricht in heterogenen und homogenen Gruppen auseinander: Dabei stellt sie fest, dass die Befürworter des gemeinsamen Unterrichts unterschiedlich leistungsfähiger Kinder und Jugendlicher wie die Befürworter des getrennten Unterrichts gleichermaßen deklarieren, das Optimale für alle Schüler anzustreben. Die Frage, was dieses Optimum ist, kann freilich nur im Hinblick auf bestimmte Intentionen beurteilt werden. Graumann selbst postuliert die gleichzeitige Förderung kognitiver sowie sozialer Kompetenzen als ein solches Optimum und geht von der These aus, dass beide Ziele in heterogenen Lerngruppen besser erreicht werden können als in eher homogenen Gruppen. Die Autorin führt im Folgenden sowohl bildungspolitische als auch pädagogische Begründungen für den Unterricht in heterogenen Lerngruppen an und liefert einen kurzen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des integrativen bzw. getrennten Unterrichtens Behinderter und Hochbegabter in regulären Klassen.
In jeweils einem Kapitel setzt sich Graumann mit den beiden Extrema des Begabungsspektrums, Lernbeeinträchtigungen und Hochbegabungen, auseinander. Ihre Ausführungen umfassen Begriffsbestimmungen, Erörterungen zur Identifikationsproblematik, mögliche Ursachen und/oder verschiedene, sich daraus ergebende Aspekte der Förderung. Dabei arbeitet sie hinsichtlich beider Schülergruppen u.a. die Bedeutung der (schulischen) Umwelt bei der Entwicklung der Kinder heraus und zeigt, dass Lehrkräfte auf den Umgang mit diesen vom Durchschnitt abweichenden Schülergruppen nicht hinreichend vorbereitet werden.
Zur Beantwortung der Frage, ob Auslese oder Integration bzw. dem Leben und Lernen in gleichartigen oder unterschiedlichen Gruppen Vorrang zu geben ist, geht Graumann auf die Auslesefunktion der Schule sowie die historische Entwicklung der gemeinsamen Unterrichtung unterschiedlich leistungsfähiger Kinder ein und führt dazu vielfältige empirische Befunde zur gemeinsamen Unterrichtung allgemein sowie speziell im Hinblick auf besonders begabte oder lernbeeinträchtigte Schüler an. Den Schwerpunkt ihrer Ausführungen legt Graumann auf die Frage der unterrichtlichen Gestaltung in heterogenen Lerngruppen. Als Grundlage einer angemessenen Didaktik skizziert sie lern- und entwicklungspsychologische Kenntnisse von Piaget und der kulturhistorischen Schule sowie als weitere Bezüge die Theorie des Denkenden Handelns und den Konstruktivismus. Als Anregungen zur methodischen Gestaltung des Unterrichts bei zunehmender Heterogenität der Lerngruppen zieht sie verschiedene reformpädagogische Ansätze (Montessori, Petersen, Dewey) sowie die darin wurzelnden Möglichkeiten der Öffnung von Unterricht zu Rate. Sowohl bei den theoretischen Grundlagen als auch bei den methodischen Ansätzen arbeitet sie konkret deren Bedeutung für das Unterrichten und Lernen in heterogenen Gruppen heraus. Neben den Chancen, die sich aus der Realisierung dieser Unterrichtsformen ergeben, weist Graumann aber auch auf mögliche Fallstricke gerade im Hinblick auf besonders schwach- oder gut begabte Kinder hin. Beispielsweise garantiert die Öffnung des Unterrichts per se keineswegs passende unterrichtliche Anforderungen für alle Schüler: Werden bei der Auswahl der bereitgestellten Aufgaben die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse unzureichend berücksichtigt, können insbesondere vom Leistungsdurchschnitt abweichende Kinder auch hierbei über- bzw. unterfordert werden. Ergänzend werden Möglichkeiten von Diagnostik und Leistungsbeurteilung vorgestellt, geprüft und diskutiert.
Ein gesondertes Kapitel widmet Graumann dem Lehren und Lernen in heterogenen Gruppen in weiterführenden Schulen und thematisiert dabei insbesondere Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben können – so z.B. die geringere soziale Einbindung behinderter Jugendlicher aufgrund divergierender Interessensentwicklung.
Abschließend wird gezeigt, inwiefern die Berücksichtigung integrativen Unterrichts zur Schulentwicklung beitragen kann. In diesem Zusammenhang werden auch die Schulprogramme einer Grund- sowie einer Gesamtschule vorgestellt. Bedauerlicherweise weicht Graumann an dieser Stelle von ihrer sonst durchgängig beide Seiten umfassenden Darstellung ab und konzentriert sich auf Schulen, die sich die Integration Behinderter auf die Fahne geschrieben haben; die besondere Berücksichtigung hochbegabter Schüler spielt in den erörterten Programmen zumindest keine explizite Rolle.
Graumann plädiert (bekanntermaßen schon seit längerem) für ein integratives Konzept. Sie weist eindringlich auf die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens hin und will u.a. Lehrkräfte ermutigen, sich auf den Weg zu einem solchen Unterricht zu machen. Dies könnte gelingen – wenn Lehrerinnen und Lehrer sich Graumanns Analysen und Reflexionen anschließen. Zumindest ist das Buch allen zu empfehlen, die sich für ihre Argumentation auf empirische Befunde zur Entwicklung Hochbegabter sowie Lernbeeinträchtigter in gemeinsamem sowie getrenntem Unterricht stützen wollen. Die kann man hier finden – was hervorzuheben ist, weil das zumindest in der Literatur zur Entwicklung Hochbegabter keineswegs immer geleistet wird. Praktikern werden darüber hinaus die Fallbeispiele zu einzelnen hochbegabten und lernbeeinträchtigten Kindern sowie die Darstellungen von Unterrichtssequenzen aus Integrationsklassen hilfreich sein. Graumann zeigt nicht nur, dass gemeinsamer Unterricht möglich ist, sondern auch, wie er realisiert werden kann. Unterrichtsrezepte liefert die Autorin freilich nicht, dafür aber reichlich Material zum Gegenstand selbst. Zusammen mit den "Fallstricken" zeichnet das Buch ein ausgewogenes Bild der Chancen und Schwierigkeiten gemeinsamen Unterrichts.
Auch sollen die vielen hilfreichen Übersichten nicht unerwähnt bleiben, anhand derer beispielsweise die Vielfalt möglicher Verhaltensweisen hochbegabter Kinder zusammengefasst und illustriert werden. Bedauerlich ist nur, dass die graphischen Darstellungen mehrfach so kleine Schriftgrößen enthalten, dass nur noch die Lupe hilft. Soweit zu dem Wermutstropfen im sonst gut lesbaren, empfehlenswerten und vielleicht sogar ermutigenden Buch.
EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)
Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen
Von lernbehindert bis hochbegabt
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(248 Seiten; ISBN 3-7815-1174-X; 17,50 EUR)
Kathrin Ahlbrecht (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin Ahlbrecht: Rezension von: Graumann, Olga: Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen, Von lernbehindert bis hochbegabt, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151174.html
Kathrin Ahlbrecht: Rezension von: Graumann, Olga: Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen, Von lernbehindert bis hochbegabt, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151174.html