Dewey in Deutschland, das ist, wie JĂŒrgen Oelkers einmal formulierte, ein "bekannter Unbekannter". Wie bei anderen âKlassikernâ des Fachs verlief seine Wirkungsgeschichte hĂ€ufig nach dem âStille-Post-Prinzipâ: Man kennt Dewey vom Hörensagen, nur selten aber aus eigener Auseinandersetzung mit seinem Werk. Was am Ende solcher Ăberlieferung und âMeta-Rezeptionâ aus zweiter oder dritter Hand hĂ€ufig hĂ€ngen bleibt, sind wenige Klischees und Schlagworte, die freilich umso nachhaltiger das Bild des Autors bestimmt haben: Dewey als vermeintlicher Vater der Projektmethode und als Erfinder des Prinzips âlearning by doingâ. Hat sich dieses Bild erst einmal festgesetzt, spielt es keine Rolle mehr, daĂ beide Konzepte in Deweys Werk nur eine marginale Rolle spielen und zudem dort gĂ€nzlich anders verstanden wurden.
Die Dewey-Rezeption in Deutschland ist nun in einem an der UniversitĂ€t Bayreuth unter der Leitung von Hans JĂŒrgen Apel durchgefĂŒhrten DFG-Projekt untersucht worden, an dem neben Stefan Bittner auch Birgit GĂŒtersloh und, in maĂgeblicher Funktion, Michael Knoll mitgewirkt haben. Zwar sind in den letzten Jahren zahlreiche Einzelarbeiten zur Wirkungsgeschichte Deweys in der deutschsprachigen PĂ€dagogik publiziert worden - ĂŒber die in der vorliegenden Publikation genannten Autoren hinaus sei auf Arbeiten von Philipp Gonon, Franz-Michael Konrad und Erwin Rigo hingewiesen - , gleichwohl liegt mit Bittners Forschungsbericht erstmals ein umfassender Ăberblick von der ersten Rezension eines Dewey-Werkes in Deutschland bis in die Gegenwart vor.
Die einzelnen Kapitel enthalten vor den Einzelanalysen der nach Hauptrichtungen unterschiedenen Rezeption zumeist eine kurze Einleitung zum historischen Rezeptionskontext und eine quantitative Auswertung der Bezugnahmen auf Dewey im betreffenden Zeitraum. Leider ist dieser Aufbau nicht in jedem Kapitel durchgehalten worden.
Zu welchem ResĂŒmee kommt nun Bittner am Ende seines rezeptionsgeschichtlichen RĂŒckblicks? Die "entscheidende Wende im deutschen Dewey-VerstĂ€ndnis" (209) sieht Bittner Ende der Achtziger Jahre mit den Arbeiten von Michael Knoll. Dieser hatte vor allem das MiĂverstĂ€ndnis Deweys als Vater der Projekt-Methode aufgeklĂ€rt. Der Streit um das ârichtigeâ VerstĂ€ndnis der Projekt-Methode gewann dadurch an SchĂ€rfe, war doch ihren BefĂŒrwortern nun eine prominente Legitimationsinstanz genommen. FĂŒr die aktuelle Schulreformdiskussion dĂŒrfte freilich die Frage, "welchen Unterricht Dewey denn nun eigentlich wirklich gewollt habe" (210) nicht entscheidend sein. Auch JĂŒrgen Oelkers wĂ€re m.E. zu nennen, wenn heute von weitreichenden Korrekturen der pĂ€dagogischen Dewey-Rezeption die Rede ist. Zu einem differenzierteren VerstĂ€ndnis des Pragmatismus im allgemeinen hat schlieĂlich der Soziologe Hans Joas in zahlreichen Arbeiten beigetragen.
Grundanliegen des Forschungsberichts ist es, im AnschluĂ an diese Vorarbeiten manche âMiĂverstĂ€ndnisseâ in der Dewey-Rezeption aufzuklĂ€ren. Unklar bleibt freilich, wie Bittners Vermutung zu verstehen ist, die Formel âlearning by doingâ gehe auf einen 1931 publizierten Aufsatz Hermann Böschensteins zurĂŒck und sei Dewey irrtĂŒmlich zugeschrieben worden (vgl. 92, Anm. 367; 192). Fakt ist, daĂ es sich durchaus um eine von Dewey selbst verwendete Formel handelt, die vereinzelt bereits in Schools of To-Morrow (1915), aber auch in Democracy and Education (1916) zu finden ist. Dessenungeachtet stellt Bittner zurecht klar, daĂ das Schlagwort in der deutschen Rezeption eine Bedeutung erhĂ€lt, die Deweys Anliegen zuwiderlĂ€uft.
Das bei Bittner einleitend zugrundegelegte RezeptionsverstĂ€ndnis mĂŒĂte in mehrerer Hinsicht problematisiert werden. ZunĂ€chst stellt sich die Frage, ob nicht doch zwischen Wirkung und Rezeption unterschieden werden sollte (vgl. 11); nur so lĂ€Ăt sich begrifflich fassen, was an vielen Beispielen wie etwa der Re-education ĂŒberzeugend demonstriert wird: Dewey ist ein âbekannter Unbekannterâ geblieben, weil sich seine "ideengeschichtliche Wirkung" (74) auch unabhĂ€ngig von einer ausdrĂŒcklichen Rezeption seines Werkes entfaltet hat. DarĂŒber hinaus scheint mir Bittners Anliegen, "generell zwischen Interpretation und Funktionalisierungen zu unterscheiden" (10), von einem fragwĂŒrdigen Dualismus auszugehen: den verbreiteten Beispielen einer instrumentalisierenden âApplikationshermeneutikâ (Langewand) im Sinne einer "interpretative(n) Ăberformung" (47), werden die wenigen Versuche entgegengestellt, Deweys Gedankenwelt "hermeneutisch zu erfassen" (167) und zu einem "werkimmanenten" (186), "korrekten" (163) oder gar "schriftgetreuen" (196) Dewey-VerstĂ€ndnis zu gelangen. Dieser rezeptionstheoretische Dualismus ist inzwischen in Historischer und Vergleichender Erziehungswissenschaft vielfach hinterfragt worden. Franz-Michael Konrad hat gerade am Beispiel Dewey zu zeigen versucht, daĂ nicht in erster Linie rezipiert wird, um zu âverstehenâ, sondern um das Rezipierte in kultur- und situationsspezifische Adaptionen zu ĂŒberfĂŒhren. Nichts anderes wird in Bittners Forschungsbericht ja eindrucksvoll gezeigt. LĂ€Ăt man aber den genannten Dualismus von Interpretation und Funktionalisierung hinter sich, dann bleibt es aus methodischen GrĂŒnden fĂŒr eine auch an "qualitativen Urteilen" (11) interessierte Rezeptionsforschung unerlĂ€Ălich, ein eigenes, möglichst vielschichtiges VerstĂ€ndnis des Werkes zu entwickeln. Erst vor dieser Folie kann man dann erkennen, welche Schichten bei den untersuchten Rezipienten aus strategischen GrĂŒnden jeweils aktualisiert wurden und welche nicht. Ohne den bloĂ heuristischen Status einer solchen âStandarderzĂ€hlungâ deutlich zu markieren, entwickelt Bittner sein eigenes Dewey-VerstĂ€ndnis einleitend in kurzen ZĂŒgen, hauptsĂ€chlich im Rekurs auf eine nicht in die Dewey-Gesamtausgabe aufgenommene Mitschrift der Lectures in the Philosophy of Education von 1899. Das pĂ€dagogische und philosophische Hauptwerk Democracy and Education wird auf den Status einer "Einleitung in die eigentliche Bildungsphilosophie der Lectures" (167) zurĂŒckgestuft, auch die spĂ€teren Schriften möchte Bittner aus der Perspektive des FrĂŒhwerks verstanden wissen (vgl. 32). Ambivalenzen und DiskontinuitĂ€ten in Deweys Werk werden auf diese Weise doch wieder auf eine "stringente Linie" (167) gebracht, ein Text wird zum MaĂstab eines ârichtigenâ Dewey-VerstĂ€ndnis erklĂ€rt.
Dennoch scheint mir bei Bittner ein ĂŒberaus vielversprechendes Grundanliegen erkennbar: Er rĂŒckt gerade die bildungstheoretischen Dimensionen in Deweys Begriff von education in den Mittelpunkt, die in der deutschen Rezeption hĂ€ufig ĂŒbersehen wurden. Mit Hinweisen auf die wenigen Ausnahmen von diesem Trend (siehe Egon SchĂŒtz!) wird die zukĂŒnftige Forschung auf eine weiterfĂŒhrende Spur gesetzt. WĂ€hrend nĂ€mlich Deweys deutsche Zeitgenossen wie Spranger und Petersen den AnschluĂ an ein Bildungsdenken auf dezidiert modernem Problemniveau eher verpaĂten, scheint es gerade Dewey zu sein, der von seinen eigenen Voraussetzungen aus an diesem kritisch-reflexiven Problemniveau anknĂŒpft und von hier aus kreativ weiterdenkt.
Der RĂŒckblick auf 100 Jahre Dewey-Rezeption in Deutschland zeigt, daĂ es beides gegeben hat: auf der einen Seite waghalsige und gewollte Synthetisierungsversuche zwischen amerikanischer und deutscher PĂ€dagogik (z.B. bei Theodor Wilhelm, Friedrich Wilhelm Foerster), auf der anderen Seite ebenso waghalsige Versuche, Pragmatismus und Idealismus zu unversöhnlichen GegensĂ€tzen zu stilisieren, wobei mal fĂŒr diese (Sergius Hessen), mal fĂŒr jene Seite (Werner Correll) des vermeintlichen Gegensatzes Partei ergriffen wurde. Diese Applikationen zeigen: Dewey konnte im deutschsprachigen Diskurs in kontrĂ€rer Weise instrumentalisiert werden: als BestĂ€tigung dessen, was in deutscher Theorietradition angeblich immer schon gedacht wurde, aber auch als Katalysator der lang ersehnten Emanzipation von den eigenen idealistischen Erblasten. Beide Rezeptionslinien operieren freilich mit unhaltbaren Vereinfachungen und Dekontextualisierungen. Sie stilisieren beide Seiten als in sich homogene Lager und ĂŒberspringen die Frage nach den vielschichtigen spezifischen Voraussetzungen (Gegnerschaften und AffinitĂ€ten), von denen aus Deweys Texte verstanden werden mĂŒssen. Der Fall âDewey in Deutschlandâ ist vielleicht deshalb so komplex und interessant, weil zu Deweys Kontexten - neben Pragmatismus und ReformpĂ€dagogik - auch und an prominenter Stelle die kontinentaleuropĂ€ischen Theorietraditionen selbst gehören, womit klar sein dĂŒrfte, daĂ weder Identifizierung noch Dichotomisierung die spannungsreiche GegenabhĂ€ngigkeit erfassen können, in der Deweys PĂ€dagogik ihre eigenen Konturen gewinnt.
Die Alternative der von Bittners Forschungsbericht ĂŒberzeugend herausgearbeiteten Applikationsversuche kann also nicht allein eine historisierende RĂŒckkehr zu âwerkimmanenten LektĂŒrenâ sein; wir mĂŒssen zugleich ĂŒber Dewey hinaus zurĂŒckfragen nach dessen eigenen Quellen und Kontexten, - nicht allein, weil ohne diese Dewey selbst nicht zu verstehen ist, sondern weil vermutlich auch hier, in Deweys kritischer Rekonstruktion der pĂ€dagogischen Klassik die Potentiale liegen, die der gegenwĂ€rtigen Debatte neue Impulse geben könnten.
EWR 1 (2002), Nr. 1 (Januar bis MĂ€rz 2002)
Learning by Dewey?
John Dewey und die Deutsche PĂ€dagogik 1900 - 2000
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001
(260 Seiten; ISBN 3-7815-1118-9; 30,60 EUR)
Johannes Bellmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Bellmann: Rezension von: Bittner, Stefan: Learning by Dewey?, John Dewey und die Deutsche PĂ€dagogik 1900 - 2000, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151118.html
Johannes Bellmann: Rezension von: Bittner, Stefan: Learning by Dewey?, John Dewey und die Deutsche PĂ€dagogik 1900 - 2000, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151118.html