"Die Besonderheit der Montessori-Methode besteht darin, dass sie die Aktivität nutzt, die jedes Kind hervorbringt und einüben möchte; folglich wird sie auch nicht eine Schule von Widerwilligen, in Gedanken Verlorenen, Faulen, Undisziplinierten und Fahrigen hervorbringen, sondern ist die Grundlage einer frohen Werkstätte von Aktiven, die in der Aktion die Disziplin und die Freude an der Arbeit finden. Diese bilden dabei die eigene Persönlichkeit, die zu höchstem Wert kommt, sie dienen dem Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der produktiven Tätigkeit, des Bewusstwerdens des Wertes und der Stärke unseres Volkes. Damit entsteht nicht eine platonische Liebe zu unserm Vaterland und zum Gehorsam, sondern ein wahrer Stolz und folglich eine Leidenschaft, sich selbst italienisch zu fühlen. Und was will der Faschismus anderes?"
Mit diesen Worten empfahl 1926 Mussolinis Erziehungs-Minister Pietro Fedele die Integration der Montessori-Methode und der wenigen Montessori-Institutionen in die zweite Phase der italienischen Bildungsreform, die als das eigentlich faschistische pädagogische Werk bezeichnet wird.
Die Affinität zwischen Faschismus und Montessori-Methode war dabei keineswegs einseitig. Kurz vorher hatte sich Maria Montessori in einem persönlichen Schreiben direkt an den Duce gewandt, und ihre Methode als den grossen Zielen des Faschismus angemessen und gleichgesinnt bezeichnet:
"Es ist eine Methode die den Prinzipien und der tiefen Lehre entspricht, die Ihre Exzellenz vorangetragen und bekräftigt hat, um die Tugend unseres Volkes zu stärken und unser ewiges Vaterland gross zu machen."
Auf Einladung Montessoris wird Mussolini Ehrenvorsitzender der ‚Opera Montessori’, des Trägervereins der Methode, dem Giovanni Gentile und Pietro Fedele, die profiliertesten faschistischen Bildungspolitiker und –reformer vorstanden. Diese enge Verbindung sollte dazu dienen, die Montessori-Methode über die erneuerte Lehrerbildung fest mit dem faschistischen Regime und der von ihm betriebenen Erneuerung Italiens zu verbinden. Auch als Montessori Italien 1934 verließ – um ihre Methode international zu verbreiten – und das Interesse des Regimes merklich zurückging und schließlich auch die staatliche Methodenschule in Rom kurzerhand geschlossen wurde, brach der Kontakt und die Werbung um die faschistische Benevolenz nicht ab.
Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Montessori-Pädagogik und italienischem Faschismus und seinen Bildungsreformen steht im Zentrum der vorliegenden Dissertation von H. Leenders, die unter Betreuung von B. Rang 1999 in Utrecht abgeschlossen wurde. Was Leenders an Kontakt Motessoris mit dem Faschismus und vor allem an aktivem Werben um die Gunst des Regimes nachweist und analysiert, geht weit über das hinaus, was die bis heute sehr starke Gemeinde von Montessori-Bewunderern und Hagiographen als kaum beachtenswert abgetan haben.
Die Verdienste der vorliegenden Arbeit sind dabei vielfältig – und machen das von Petra Korte übersetzte Buch äußerst lesenswert. Zum einen basiert die Arbeit auf sehr eingehenden Studien von an sich nicht besonders schwer zugänglichen Archivmaterialen, die aber offensichtlich für die Hagiographie eher störend sind und bislang auch in der italienischen Montessori-Literatur nicht beachtet wurden. Zum zweiten ist es besonders erhellend, Montessoris Pädagogik in den Kontext ihrer Entwicklung einzubauen, statt sie – wie bis anhin - jeglichen Umfeldes zu entledigen.
Dieses Vorgehen zeigt dann besonders überzeugend, dass die dominante Stellung der Montessori-Pädagogik weitgehend auf einem gezielten strategischen Kalkül und Vorgehen von Montessori selbst beruht. Dieses besteht nicht nur in einer strategisch konzipierten Verschiebung des theoretischen Kontextes vom ursprünglichen Positivismus in die Richtung des die Bildungspolitik des ausgehenden liberal-konservativen und des frühen Faschismus bestimmenden Idealismus Gentiles. Auch die zweite Verschiebung in Richtung einer offeneren faschistischen, direktiven Schulpolitik //und// Propagandasprache macht Montessori durch eine Adaptation mit, wie Leenders überzeugend darlegt. Gleichzeitig kämpft sie aber auch gezielt um einen direkten und exklusiven Zugang zur staatlichen faschistischen Macht, zum Duce persönlich, von dem sie sich Protektion und die Errichtung einer pädagogischen Monopolstellung erhofft – und nach 1926 teilweise auch erhält. In ähnlicher Weise kämpfte sie vor und nach der faschistischen Ära um die Protektion durch die katholische Kirche und baute international ihre Allianzen auf.
Ausgehend von diesem Befund diskutiert Leenders die interessanteste Frage: nach Distanz und Übereinstimmung der Montessori-Methode von bzw. mit der faschistischen Bildungspolitik und Pädagogik, beziehungsweise ob Anpassung und Werbung nur einem Kalkül der eigenen Durchsetzung oder einer grundsätzlichen Kongruenz entsprangen. Dass für die Diskussion dieser Frage vor allem die Auseinandersetzung Lombardo-Radices mit Montessoris Pädagogik als Basis dient, ist vielleicht verwirrend, da dieser selbst nicht einfach als der faschistische Pädagoge par excellence gelten kann. In der Auseinandersetzung des Faschismus mit den Lehrerverbänden und dem schulischen "Aktivismus", die die zweite Phase der faschistischen Bildungspolitik einleitete, wandte sich Lombardo Radice zunehmend vom Regime und seiner Bildungspolitik ab. Dass Leenders dabei nicht eine einfache Antwort anstrebt, grenzt das vorliegende Buch umso klarer von der traditionellen Heiligenlegende ab und eröffnet einen neuen Typus von Auseinandersetzung über die Montessori-Pädagogik.
EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)
Der Fall Montessori
Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001
(276 Seiten; ISBN 3-7815-1100-6; 20,00 EUR)
Fritz Osterwalder (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Fritz Osterwalder: Rezension von: Leenders, HĂ©lène: Der Fall Montessori, Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151100.html
Fritz Osterwalder: Rezension von: Leenders, HĂ©lène: Der Fall Montessori, Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151100.html