EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Tony Ryan / Rodger Walker
Wo gehöre ich hin?
Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen
Weinheim: Juventa 2003
(144 Seiten; ISBN 3-7799-2031-X; 18,90 EUR)
Wo gehöre ich hin? 18 Jahre nach dem Erscheinen der britischen Originalausgabe "Life Story Work" liegt dank der Übersetzungsinitiative und –arbeit von Birgit Lattschar die zweite Auflage der "Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen" vor. Diesmal ergänzt um die in der ersten Auflage fehlenden Überlegungen zur Arbeit mit Kindern ausländischer Herkunft der Vorlage.

Der methodische Ansatz von "Biografiearbeit" mit fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen hat in all den Jahren nichts von seiner Aktualität verloren und ergänzt den biografieforschenden Diskurs der Erziehungswissenschaft um eine methodische Anleitung für die pädagogische Praxis.

Die Autoren legen großen Wert auf einen respektvollen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, deren Biografien bis hin zu den problematischen Bestandteilen, die zur Fremdunterbringung in Heimen oder Pflege- bzw. Adoptionsfamilien geführt haben, bearbeitet werden sollen. Mit dem Ziel der Vergangenheitsreflexion und identitätsstiftenden Integration der Vergangenheit in der Herkunftsfamilie bietet das erprobte Modell der Biographiearbeit Anleitungen, die jenseits therapeutischer Settings im pädagogischen Alltag umzusetzen sind.

Nach einleitenden, die Lebensgeschichten der Kinder und Jugendlichen deutlich wertschätzenden Bemerkungen, einigen Regeln zur reflektierenden Kommunikation mit Kindern sowie deren Rollen als HauptakteurInnen ihrer Geschichten gibt das dritte Kapitel zunächst ganz praktische Hinweise, wie - noch bevor mit den Betroffenen in die Biographiearbeit im engeren Sinne eingestiegen wird - Informationen zusammengetragen werden können, und wie die Kinder und Jugendlichen an der Beschaffung beteiligt werden müssen.

Die anschließende Umsetzung der Biografiearbeit wird detailliert in ihren Möglichkeiten und Grenzen beschrieben: Es finden sich Vorschläge, wie und mit welchen Hilfsmitteln z.B. Gefühle thematisiert werden können und wie Schwierigkeiten, die z.B. traumatische Erfahrungen im Prozess machen können, respektvoll überwunden werden können. Erst nachdem diese Hürden skizziert sind, erläutern die Autoren methodische Einzelheiten wie z.B. den Aufbau persönlicher Stammbäume, oder die Erstellung einer Lebensgrafik.

Stets geht es darum, die Integration der problematischen Vergangenheit in eine neue Familie zu gewährleisten. In ihrem Bemühen, eine tragfähige, zukunftsgewisse Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu bauen, scheinen die Autoren die Möglichkeit und existenzsichernde Relevanz von zeitweise blockierten Erinnerungen und Gefühlen zu übersehen. Besonders in Fällen schwerer Traumatisierungen ist aber eine vorzeitige Thematisierung nicht unbedingt hilfreich [1], sondern die (Wieder-)Erlangung von Gegenwartskompetenz für manche Kinder und Jugendlichen Herausforderung genug. Immerhin ziehen die Autoren die Möglichkeit der für Kinder und Jugendliche nicht aushaltbaren direkten Konfrontation in Betracht und erläutern indirekte Methoden der Kontaktaufnahme – aber beseelt von dem Gedanken, Gefühle besprechbar zu machen.

Im Bestreben um Vollständigkeit werden neben der individuellen Arbeit auch Gruppenarbeit, die besonderen Bedingungen der Arbeit mit behinderten Kindern, mit Traumatisierungen aufgrund sexueller Gewalterfahrungen, mit Erwachsenen, mit Krankheits- und Todesfällen sowie Differenzierungen für die Arbeit mit Kindern ausländischer Herkunft skizziert.

So sehr die auf Einzelarbeit bezogenen Darstellungen ausdifferenziert sind, so fragmentarisch bleiben die letztgenannten Teilbereiche. Hier wäre entweder eine Vertiefung in Form einer Problematisierung z.B. von Gruppendynamiken oder aber Hinweise auf ergänzende Literatur hilfreich. Das in der ersten Auflage fehlende Kapitel über die Arbeit mit Kindern ausländischer Herkunft ist eher am ausländerpädagogischen Ansatz der Vergangenheit denn am gegenwärtigen interkulturellen Diskurs orientiert.

Eine insgesamt nach wie vor interessante, die sozialpädagogische Praxis sicher sinnvoll ergänzende Handreichung für die Arbeit mit fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen [2], deren Umsetzung gewiss auch interessante Einsichten für sozialpädagogische(s) Diagnostik und Fallverstehen erwarten lässt. Leider lässt der vorgestellte Ansatz der Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen eine Aktualisierung u.a. hinsichtlich geschlechtssensibler und interkultureller Differenzierungen vermissen.


Anmerkungen

[1] Vgl. Spies, Anke: "Wer war ich eigentlich?" – Erinnerung und Verarbeitung sexueller Gewalt. Frankfurt: Campus 2000
[2] Eine umfassende Form der Erläuterung pädagogischer Aufgaben und Möglichkeiten in der biografieorientierten Arbeit mit traumatisierten Kindern bietet Wilma Weiß: "Philipp sucht sein Ich". Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen. 1. Auflage Weinheim: Beltz 2003, deren Ansatz und Darstellung weit über die Möglichkeiten der "Biografiearbeit" des vorliegenden Buches hinaus reicht..
Anke Spies (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anke Spies: Rezension von: Ryan, Tony / Walker, Rodger: Wo gehöre ich hin?, Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen, Weinheim: Juventa 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77992031.html