Das vorliegende Buch markiert einen der interessantesten Kreuzungspunkte aktueller Bildungsforschung. In ihm berichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie Mitglieder der Bielefelder Laborschule über die Ergebnisse einer Evaluation, die in der Laborschule mit PISA-Instrumenten durchgeführt wurde. Damit treffen sich Linien aus bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskussionen, deren Verknüpfung auf den ersten Blick in keiner von ihnen angelegt zu sein schien. PISA richtet sich als large-scale-assessment in erster Linie an Entscheidungsträger in der Bildungspolitik. Die Studie beansprucht keinen herausgehobenen Stellenwert für Erkenntnisse über die Einzelschule, auch wenn die Möglichkeit, aus ihr Referenzwerte für die Beurteilung der Leistungen einzelner Schulen zu gewinnen, bereits hervorgehoben wurde.
Die Bielefelder Laborschule steht in einer Tradition von Schulversuchen, in der die Ambitionen der Schulentwicklung in pädagogische Konzepte münden, die als Alternativen zur Regelbeschulung verstanden werden. Eine wissenschaftliche Reflexion ist in der Bielefelder Laborschule zwar seit jeher institutionalisiert; sie steht allerdings einer quantitativen Forschung – für die durch PISA in der Bildungsforschung neue Maßstäbe gesetzt wurden – skeptisch gegenüber. Eine höhere Affinität besteht zur Idee der Handlungsforschung, in der eng auf den Einzelfall hin abgestimmte qualitative Verfahren bevorzugt werden. Eine Einzelschule vom Zuschnitt der Bielefelder Laborschule mit den PISA-Instrumenten zu evaluieren verspricht daher Impulse, die nur von einer Begegnung unter Fremden erwartet werden können.
Dem entsprechend schildert das einleitende Kapitel des Bandes die Studie unter dem Titel „Versuchsschule und Evaluationsforschung im Dialog“. Hier wird der Anspruch markiert, eine Leistungsvergleichsforschung, die üblicherweise Datenauswertung auf hohem Aggregationsniveau – und d.h. weit von den Erfahrungsgrundlagen der Praktiker entfernt – vornimmt, mit den Informationserfordernissen schulinterner Entwicklung zu verkoppeln. Der wesentliche Reiz liegt dabei im Vergleich der Ergebnisse aus der Evaluation der Laborschule mit den Ergebnissen der PISA-Studie, die sich auf Gymnasien und Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen beziehen. Der hohe Informationsgehalt, der durch das Ineinandergreifen lokaler Erfahrung und methodisch stringenter Datenerhebung entstehen kann, wird bereits bei der Beschreibung der Schülerschaft respektive der in der Evaluationsstudie befragten Stichprobe deutlich. Aus Sicht der Laborschule wird ein differenziertes Profil der Schülerschaft dargestellt. In ihm bildet sich die ursprüngliche Idee der verstärkten Attraktion von Kindern aus bildungsfernen Schichten nicht ab; es erhält insbesondere durch Quereinsteiger aus einem akademischen Milieu, deren Leistungsfähigkeit nicht den Erwartungen entspricht, sein besonderes Gepräge. Fallschilderungen über einzelne Schülerinnen und Schüler illustrieren den besonderen Förderbedarf, der aus der Zusammensetzung der Schülerschaft resultiert. Die Beschreibung der Stichprobe jener 64 Schülerinnen und Schüler, die als 15-jährige an der Evaluationsstudie teilgenommen haben, greift diese Erfahrungen auf. Sie bestätigt sowohl die sozial positive Selektion der Schülerschaft als auch die schwächeren Fachleistungen der Quereinsteiger. Allerdings zeichnen sich in der Gegenüberstellung auch Grenzen der Studie ab, denn für die besonders hervorgehobene Gruppe der Quereinsteiger lässt sich aus den PISA-Daten zum Land Nordrhein-Westfalen keine Vergleichsgruppe konstruieren. Darüber hinaus aber ist als günstig zu bewerten, dass als Vergleichsgruppe für die Schülerschaft der Laborschule nicht ausschließlich Schülerinnen und Schüler aus nordrhein-westfälischen Gymnasien und integrierten Gesamtschulen gewählt wurden. So wird der Referenzwert der Beurteilung nicht nur an Schultypen gewonnen, die mit der Laborschule für vergleichbar gehalten werden; die Datenbasis von PISA erlaubt ein sehr viel differenzierteres matching der Vergleichsstichprobe, das etwa auf individuellen Angaben zum sozioökonomischen Status und dem kulturellen Kapital der Herkunftsfamilien beruht.
Die Gliederung der einzelnen Beiträge des Bandes spiegelt den angekündigten Dialog wider. Unter den Rubriken des fachlichen und des überfachlichen Lernens wechseln sich Beiträge von Praktikerinnen und Praktikern aus der Laborschule mit Beiträgen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Max-Planck-Institut ab. Dabei wird fast durchgängig ein Muster eingehalten, nach dem zunächst konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung eines Lernbereichs, daran anschließend Ergebnisse der Evaluationsstudie und abschließend Kommentierungen der Ergebnisse aus schulischer Sicht geboten werden.
Sehr überzeugend ist bei diesem Vorgehen die Entwicklung von Fragestellungen für – oder zumindest Erwartungen an – die Evaluation aus den konzeptionellen Überlegungen heraus. Gelegentlich ergänzungsbedürftig erscheint die Darstellung der Evaluationsergebnisse, die nicht in allen Punkten die konzeptionell angedeuteten Differenzierungen und didaktischen Praktiken nachvollzieht. Passagenweise enttäuschend sind die Kommentierungen, die nur zu oft typische Abwehrreflexe auf unerwünschte Resultate zeigen. So wird für das sprachliche Lernen ein integratives Konzept geschildert, das die Förderung der Literalität als Ziel jeglichen Fachunterrichts setzt. Aus dieser Idee werden mikrodidaktische Konzepte in Übereinstimmung etwa mit der Idee einer offenen Schule und Erwartungen bezüglich der Leseleistungen einzelner Schülergruppen – insbesondere im Geschlechtervergleich – formuliert. Die Darstellung der Evaluationsergebnisse kann die Leistungserwartungen insofern bestätigen, als die Schülerinnen und Schüler der Laborschule im Durchschnitt das Kompetenzniveau der Vergleichsgruppe annähernd erreichen. Beim Leseinteresse stellen sich sogar überdurchschnittliche Werte ein. Erst der Geschlechtervergleich – dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist – verweist auf Leseleistungen der Jungen, die deutlich hinter den in der Laborschule formulierten Leistungserwartungen zurückbleiben. Offen bleibt in der Auswertung, ob Zusammenhänge zwischen der Nutzung des spezifischen Angebots der Laborschule durch die Schülerinnen und Schüler (Stichwort: Offene Schule) und deren Leseleistungen bestehen. Der knappe Kommentar zu den Ergebnissen vermeidet eine Interpretation der kritischen Ergebnisse mit dem Hinweis darauf, dass es sich aus der Sicht der Schule um keine „Evaluation des gesamten Konzepts und seiner Tragfähigkeit“ (von der Groeben, 119) handele. Dieser triviale Umstand wird gar vorauseilend als ein „Grundsatzproblem, das an verschiedenen Stellen d[…]es Buches wiederkehrt“ (ebd.) empfunden. Dagegen werden die für die Laborschule günstigen Ergebnisse in einer Weise gedeutet, die den Eindruck erwecken, die Leistungen seien trotz ihres besonderen Konzeptes erreicht worden. So wird auf den geringeren Anteil des Deutschunterrichts und die in außerschulischen Unternehmungen „verlorene“ Zeit verwiesen. Sollte man daraus etwa den Schluss ziehen, dass man in der Laborschule der Auffassung ist, die Leistungen der Schüler könnten (noch) besser sein, wenn sie zugunsten von Konzepten der Regelbeschulung ihr eigenes Profil in der Förderung von Literalität aufgäbe?
Die Ergebnisse zu den Fachleistungen in Mathematik sind insofern interessanter, als sie eine größere Diskrepanz zwischen Erwartungen an die Effekte eines integrativen Mathematikunterrichts, die in diesem Falle von den Wissenschaftlern formuliert wurden (126f.), und den Resultaten zeigen. Die Testergebnisse belegen deutliche Leistungsrückstände der Schülerschaft. Auf diese Diagnose erfolgt – eventuell aufgrund seiner Unmissverständlichkeit – eine differenzierte, auf Prozessvariablen der Schule bezogene Kommentierung. So werden Begründungen in dem curricularen Konzept, der Unterrichtsorganisation und der impliziten Lerntheorie des Mathematikunterrichts gesucht. Hier werden die Anregungen genutzt und die Spielräume kritischer Betrachtung ausgelotet, die eine Evaluationsstudie des vorliegenden Typs bietet.
Die gĂĽnstigen Testleistungen in den Naturwissenschaften werden anhand von Interviewnotizen kommentiert, die die Sicht der SchĂĽlerinnen und SchĂĽler auf das Ergebnis spiegeln. Deutlich werden dabei deren Attributionsmuster, die aus Sicht der kommentierenden Lehrerinnen Anlass fĂĽr die Reflexion der bislang geĂĽbten Praktiken der LeistungsrĂĽckmeldung an die SchĂĽler bieten.
Der Teil des Buches, der Ergebnisse zum überfachlichen Lernen enthält, umfasst Texte zur Laborschule als polis und Verantwortungsgemeinschaft, zum selbständigen Lernen, zu den didaktischen Prinzipien und dem Lehrerhandeln sowie zum Konzept der geschlechterbewussten Pädagogik und daran anschließende Geschlechtervergleiche. Überzeugen können in diesem Teil die Ausführungen zur Laborschule als polis, in denen eine Relation zwischen dem programmatischen Anspruch der Schule und den erhobenen Testdaten hergestellt werden kann. Wünschenswert wäre hier allerdings eine ausführlichere Interpretation der Ergebnisse gewesen, die zwar im Vergleich zu den landesweiten Referenzwerten günstig sind, aber angesichts des hohen Anspruchs der Schule doch in erstaunlicher Weise Normalität der Verhältnisse an der Laborschule wiedergeben.
Auch die Ausführungen zum selbständigen Lernen weisen eine hohe Stimmigkeit zwischen programmatischem Anspruch und den in der Evaluation erhobenen Dimensionen der Selbstregulation und des schulischen Selbstkonzeptes auf. Allerdings tritt auch hier eine gewisse Kurzatmigkeit in der Interpretation zu Tage. So drängt sich etwa die Frage auf, weshalb bei der Kommentierung der Ergebnisse zu den fachlichen Selbstkonzepten nicht auf die ausführlichen Darstellungen fachlicher Leistungen aus dem ersten Teil des Buches Bezug genommen wird.
Auf eine besondere Konfiguration in der Schülerschaft der Laborschule machen die Befunde zum Geschlechtervergleich aufmerksam. Sowohl in den Fachleitungen als auch bei den Selbstkonzepten werden für die Jungen hinter den Erwartungswerten zurückbleibende Testwerte erhoben. Das gilt allerdings kaum für interpersonelle Kompetenzen und gerechtigkeitsbezogene Werthaltungen. Wie diese Befunde als Anlass einer kritischen Reflexion des Konzeptes einer geschlechterbezogenen Pädagogik genommen werden können, die auch Besonderheiten der Schülerschaft im Auge behält, wird in den kurzen Kommentierungen deutlich.
In Zeiten empirisch basierter Rückmeldesysteme für Schulen ist das Buch Pflichtlektüre für alle an Schulentwicklung Interessierten. Es zeigt Optionen der wechselseitigen Bezugnahme von Wissenschaft und Praxis. Deutlich bleibt dabei die Differenz der Denkweisen und Diktionen – im einen Falle technisch abstrakt, im anderen Falle erlebnisbasiert konkret – die eine über die Fallstudie hinaus typische Asymmetrie zwischen Wissenschaft und Praxis wiedergeben. Im Sinne des angekündigten Dialogs wäre gelegentlich etwas mehr „Kongenialität“ der beiden Seiten zu erwarten gewesen. Etwa hinsichtlich der Akzeptanz zwangsläufig selektiver Forschungsresultate durch die Praxis und hinsichtlich der Fokussierung von Subgruppen der Schülerschaft und der Konstruktion entsprechender Vergleichsgruppen durch die Wissenschaft. Dass diese Einschätzung auch von den Autoren geteilt wird, zeigt das abschließende Kapitel, in dem die Grenzen der Untersuchung hervorgehoben werden. Hier schlägt eine ebenso redliche wie angenehme, aber letztlich zu strenge Selbstkritik durch: Man hätte das Buch – angesichts der facettenreichen Einschätzungen und Ergebnisse – auch getrost mit einem Ausblick auf die Fortsetzung des Dialogs beschließen können.
EWR 5 (2006), Nr. 2 (März/April 2006)
Die Laborschule im Spiegel ihrer PISA-Ergebnisse
Pädagogisch-didaktische Konzepte und empirischer Evaluation reformpädagogischer Praxis
Weinheim, MĂĽnchen: Juventa 2005
(320 S.; ISBN 3-7799-1678-9; 24,50 EUR)
Harm Kuper (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Harm Kuper: Rezension von: Watermann, Rainer / Thrun, Susanne / Tillmann, Klaus-JĂĽrgen / Stanat, Petra (Hg.): Die Laborschule im Spiegel ihrer PISA-Ergebnisse, Pädagogisch-didaktische Konzepte und empirischer Evaluation reformpädagogischer Praxis. Weinheim, MĂĽnchen: Juventa 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991678.html
Harm Kuper: Rezension von: Watermann, Rainer / Thrun, Susanne / Tillmann, Klaus-JĂĽrgen / Stanat, Petra (Hg.): Die Laborschule im Spiegel ihrer PISA-Ergebnisse, Pädagogisch-didaktische Konzepte und empirischer Evaluation reformpädagogischer Praxis. Weinheim, MĂĽnchen: Juventa 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991678.html