Silvia-Iris Beutel stellt sich in ihrer Untersuchung von Grundschulzeugnissen einem reformpädagogischen Postulat: ’Den Kindern das Wort geben’ ist ein pädagogisches Prinzip und ein Anspruch, der hier in der Forschung zur Leistungsbeurteilung nutzbar gemacht wird. Lehrerinnen und Lehrer stehen in der beruflichen Praxis vor der schwierigen Aufgabe, Schülerleistungen beurteilen zu müssen und ihre Urteile den Schülern zu vermitteln, so dass diese die Leistungsbewertung und Notengebung nachvollziehen können. So korrelieren die Qualität von Leistungsbeurteilung und die Qualität des Lernens - dieses Abhängigkeitsverhältnis gilt es empirisch zu prüfen.
Zwei zunächst getrennt voneinander unternommene Forschungsprojekte werden in dieser Arbeit vor- und deren enge Verzahnung miteinander herausgestellt: Die jeweiligen Bildungsverwaltungen von Hamburg und Thüringen haben Studien - dies sind zum einen „Leistungsbeurteilungen und Leistungsrückmeldung an Hamburger Schulen“ (LeiHS) und zum anderen „Einschätzungen zum Lernprozess“ (KomThü) - erheben lassen. Die Autorin verknüpft die Erträge beider Studien auf überzeugende Weise und richtet ihren Blick auf Aspekte der Professionalisierung der Leistungsbeurteilung. Dabei ist es besonders gewinnbringend, dass Zeugnisforschung als Kindheitsforschung verstanden wird, infolgedessen Kinder selbst das Wort erhalten und schließlich erstmals nach kindlichen Expertisen zur Leistungsbeurteilung gefragt wird.
Die Arbeit ist eine gekürzte Fassung der gleichnamigen Habilitationsschrift, die 2003 von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität in Jena angenommen wurde. Die Leser werden nach einer Einführung zum Thema Professionalisierung der Leistungsbeurteilung (Kap. I) durch vier weitere große Kapitel geleitet. Zunächst erfolgt eine Problemanalyse der Forschungsfelder ’Kindheitsforschung’ und ’Schultheorie’. Das Kontinuum beider Perspektiven wird ausführlich vorgestellt (Kap. II). Konkretisiert werden die Forschungsfragen in den Erläuterungen zum Forschungskontext der empirischen Studien anhand der Leistungsbeurteilung in Hamburg und Thüringen (Kap. III). Im Anschluss werden zwei empirische Studien vorgestellt, in denen Zeugnisse aus Kindersicht analysiert werden (Kap. IV).
Dazu werden einerseits Berichts- und Notenzeugnisse, in denen Wortanteile eine Rolle spielen in ihren fördernden und lerndiagnostischen Elementen betrachtet und daraufhin untersucht, ob Kinder in verschiedenen Kompetenzbereichen beurteilt, Ermutigungen ausgesprochen und Kritik konstruktiv formuliert, Gründe für Lernprobleme angesprochen und ob Hinweise für eine Optimierung des Leistungsverhaltens gegeben werden. Andererseits hat die Autorin Interviews mit Kindern inhaltsanalytisch ausgewertet und Wahrnehmungen, Einschätzungen und Sichtweisen von Kindern in Bezug auf Leistungsbewertung und Notengebung rekonstruiert. Die Darstellung bietet insofern einen Einblick in Kindersichten, die von der Autorin sensibel, vielschichtig und detailliert beschrieben werden.
Die einst 1971 von Ingenkamp kritisierte Funktion von Notenziffern, ist - so die Autorin - heute immer noch (oder gerade nach PISA und anderen Bildungsstudien) eine unüberwundene Problematik unterrichtlicher Praxis. Leistungsbeurteilung wird nicht und kann nicht - u.a. aufgrund schulorganisatorischer Rahmenbedingungen - als pädagogisches „und damit dem Lernen und Lernenden verpflichtetes Handeln“(15) vorgenommen werden. Von daher gesehen sind die Ergebnisse der Untersuchung für die Schulpädagogik besonders wichtig, da aufgezeigt wird, dass der Aspekt der Kommunikation in Zukunft eine dezidierte Beachtung im Schulalltag, in der Lehrerausbildung und in der empirischen Forschung finden muss. Professionalisierung der Beurteilungskompetenz - so zeigt die Autorin - geht einher mit der Kommunikation zwischen den Kolleginnen und Kollegen wie mit der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden.
„Kinder sind ’Experten’ ihres Lernens“ lautet letztlich das zentrale Ergebnis. Sie haben, das zeigt diese Studie, ein „höheres Bewusstsein von ihren Lernfortschritten und -defiziten, als dies die Pädagogik im Schulalltag üblicherweise unterstellt“ (231). Ihre Erfahrungen, ihre erlebten Weltausschnitte lassen sich - so wird nachgewiesen - erschließen und pädagogisch wenden. Mit ’Kindern in Diskurs gehen’, ’von und mit Kindern lernen’ sind daher Appelle der Autorin, die sich ebenso an Lehrerinnen und Lehrer wie auch an Forscherinnen und Forscher richtet. Die Arbeit ist sowohl aus praktischer als auch aus theoretischer Sicht ein Gewinn für schulpädagogische Fragestellungen; sie schließt eine bislang offen gebliebene Forschungslücke und regt an, Konzepte für professionelles Beurteilungshandeln zu suchen und damit Transparenz und Gerechtigkeit in der Leistungsbeurteilung zu erzielen.
EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)
Zeugnisse aus Kindersicht
Kommunikationskultur an der Schule und Professionalisierung der Leistungsbeurteilung. (Veröffentlichungen der Max-Traeger-Stiftung; Band 42)
Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2005
(276 S.; ISBN 3-7799-1675-4; 22,00 EUR)
Tanja PĂĽtz (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tanja PĂĽtz: Rezension von: Beutel, Silvia-Iris: Zeugnisse aus Kindersicht, Kommunikationskultur an der Schule und Professionalisierung der Leistungsbeurteilung. (Veröffentlichungen der Max-Traeger-Stiftung; Band 42), Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991675.html
Tanja PĂĽtz: Rezension von: Beutel, Silvia-Iris: Zeugnisse aus Kindersicht, Kommunikationskultur an der Schule und Professionalisierung der Leistungsbeurteilung. (Veröffentlichungen der Max-Traeger-Stiftung; Band 42), Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991675.html