Schulprogrammarbeit kommt in die Jahre. Nachdem vor fast zwei Dekaden Helmut Fend die Einzelschule als "pädagogische Handlungseinheit" ausrief und vor einer Dekade die Denkschrift "Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft" die Selbstständigkeit der Einzelschule als notwendige Voraussetzung gelingender Schulentwicklung markierte, arbeiten sowohl Administratoren als auch Lehrerinnen und Lehrer an Gelingensbedingungen von Einzelschulen, die sich intern ihrer Ziele versichern und extern ihre Ergebnisse veröffentlichen. Schulforscher haben diesen Prozess begleitet, um nicht zu sagen, sie haben ihn mit immer neuen Anregungen gespeist. Im Begriff der Schulqualität bzw. Schulkultur fanden sie dabei den Hebel, die vermeintlich gescheiterte makropolitische Steuerung des Schulsystems auf eine mikropolitische umzustellen und diese Umstellung als Prozess im organisationssoziologischen Sinne zu modellieren – sein Drehbuch wurde das Schulprogramm.
In allen Bundesländern, die in den letzten Jahren ihre Schulgesetze neu formulierten, finden sich heute verpflichtende Aussagen und Auflagen zur Konstitution eines Schulprogramms. Aus zunächst freiwilliger Selbstvergewisserung wird nun flächendeckender Druck, das Produkt Einzelschule zu preisen bzw. in ein Licht zu rücken, das den Ansprüchen von Verwaltung und Politik wie Eltern und Schülern genügt. Beide, Finanziers wie Abnehmer, verpflichten damit die internen Akteure der Institution Schule (Schulleiter, Lehrer), die zunächst intern gedachte Selbstvergewisserung über ihr Produkt offen zu legen. Damit wird allenthalben zum Thema, was diejenigen, die sich jenseits äußeren Drucks schon längst auf den Weg gemacht hatten, schon kannten – in den Kollegien bzw. im einzelnen Kollegen werden positive wie negative Kosten der Schulprogrammarbeit aufgerechnet und führen nicht selten entweder zu unauflösbaren Antinomien oder Potemkinschen Dörfern, die nach außen im neuen Glanz erstrahlen, nach innen aber genauso abgedimmt verbleiben, wie eh und je.
Heinz Günter Holtappels hat sich schon sehr früh mit den einzelschulischen Entwicklungen vor dem Hintergrund von Programmsteuerungen beschäftigt, um nicht zu sagen, im Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung steht eine der Herzkammern bundesdeutscher Schulprogrammentwicklung. Holtappels legt dreizehn Beiträge zum Thema vor, davon vier eigene. Dabei hat er sich bemüht, jenseits theoretischer Verortung, Rekonstruktionsversuche von Schulprogrammarbeit zu beschreiben bzw. beschreiben zu lassen, die den Leser mitnehmen in einen Prozess, dessen Ende sich zwar in einer Verschriftlichung materialisiert, dessen Weg aber sehr unterschiedlich ausfallen kann.
Im Fokus stehen exemplarische Beispiele aus vier Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Hessen), in denen Schulentwicklungsforscher Programmarbeit beobachtet haben. Ein österreichisches Beispiel rundet den Band ab. Damit liegt hier ein einzigartiges Kompendium vor, weil die Autoren sich so noch nie gemeinsam zwischen zwei Buchdeckeln wiederfanden, wiewohl sich der im weitesten Sinne Dortmunder Kern der Autoren schon im Jahrbuch der Schulentwicklung aus dem Jahr 2002 zum gleichen Thema in ähnlicher Konnotation äußerte [1]. Um nicht zu sagen, einzelne Beiträge sind dort schon einmal vorgelegt und jetzt wieder, leicht bearbeitet, erschienen. Dies gilt auch für die Beiträge von Heinz Günter Holtappels selbst, die in unterschiedlichen Kontexten schon einmal vorlagen [2, 3, 4]. Für Personen, die sich neu orientieren und im Meer der Publikationen einen ersten Ankerpunkt suchen ist dies jedoch kein Makel.
Der Band gliedert sich in drei Teile. Zunächst geht es vermeintlich um theoretische und konzeptionelle Grundlagen, sodann um Forschungsergebnisse über Schulprogrammarbeit und schließlich um Prozessverläufe und systematische Gelingensbedingungen. Diese nachvollziehbare konzeptionelle Schärfe wird in der Präsentation hingegen nicht eingelöst, vielmehr finden sich Forschungsergebnisse sowohl im Bereich konzeptioneller Grundlagen (Arnold/Bastian/Reh für Hamburg), als auch in dem über Prozessverläufe und Gelingensbedingungen (Altrichter/Eder für Österreich; Haenisch für NRW). Eine Bilanz der Ergebnisse bzw. eine abschließende Beurteilung in Hinsicht auf zukünftige Entwicklungsfelder der Schulprogrammarbeit unterbleibt dabei genauso wie die Bearbeitung des neuen Verhältnisses von einzelschulischer mikropolitischer Schulprogrammarbeit vor Ort und neuer makropolitischer Steuerung durch nationale Assessments. Letztlich wird dieses Verhältnis nur einmal kurz im Beitrag von Wolfgang Maritzen auf den Punkt gebracht. Hier heißt es, dass optimale "Lernbedingungen und Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler (...) die Nagelprobe auf gelungene Schulprogrammentwicklung (sind)" (41).
Zwei Erträge der sowohl qualitativ wie quantitativ erhobenen Entwicklungsprozesse moderieren positiv die Gesamtbeurteilung dieses Bandes. Zum einen ist offensichtlich, dass Schulprogrammarbeit "konstruktive Kommunikationsprozesse" in den Kollegien in Gang setzt, wie Arnold/Bastian/Reh ausdrücklich vor dem Hintergrund ihrer Hamburger Erfahrungen an sechs Schulen fall-rekonstruktiv beschreiben (59). Jörg Schlömerkemper bestätigt diesen Eindruck nachdrücklich mit seinen Beobachtungen in Hessischen Schulen. Zum anderen wird aber auch klar, dass die Programmarbeit nicht selbstverständlich zu dem führen muss, was eigentlich intendiert war, nämlich Schulen in Bewegung hin zu mehr Partizipation, Selbstvergewisserung und Ergebnissicherung zu setzen. So heißt es etwa bei Holtappels in der Zusammenschau seiner niedersächsischen Erfahrungen, die "Schulprogrammarbeit (scheint) kurzfristig keine nennenswerten Wirkungen in Form von Qualitätsverbesserungen in der Lernkultur und der Unterrichtsgestaltung zu entfachen" (194). Dies wird bei ihm auf die kurzen Zeitintervalle der Beobachtungen zurückgeführt, während hingegen die österreichischen Kollegen in der Stabilität beruflicher Routinen, die sich auch durch extreme externe Interventionen nicht selbstverständlich verflüssigen, den Ursprung der geringen Wirkungen sehen.
Insbesondere Altrichter/Eder regen mit ihrem Beitrag an, weiter zu denken vor dem Hintergrund von Lehrertypologien. Die beiden können nämlich zeigen, dass das einmal bei Lortie angedachte "Autonomie-Paritäts-Muster" (APM) tatsächlich als Trias aus Reklamation von Eigenverantwortlichkeit und Gleichbehandlung bei geringer Bereitschaft zur Kooperation modellier- und replizierbar ist. In der Beobachtung von 16 Schulen münden die dazu notwendigen Beobachtungen clusteranalytisch schließlich in drei Typen – diejenigen, die dem APM entsprechen, diejenigen, die ähnliche Autonomiebedürfnisse zeigen, hingegen differenzierte persönliche Leistungen und Kompetenzen jenseits von Gleichheitsvorstellungen befürworten (sogenannten "berufliche Einzelkämpfer") und diejenigen, die ausgesprochen auf Teamorientierung, Leistung und Kooperation setzen. Das Ergebnis nimmt letztlich nicht wunder, "Schulen, die sich für die Teilnahme an Schulentwicklungsprojekten entscheiden, zeichnen sich durch eine überproportionale Anzahl von Lehrer/innen mit Teamorientierung aus (das APM scheint dafür von geringerer Bedeutung), während an schulentwicklerisch inaktiven Schulen Lehrer/innen mit APM oder Einzelkämpfereinstellung überproportional vertreten sind" (218).
Wie gesagt, der Band gibt eine gute Zusammenschau des Standes der Schulprogrammarbeit in bundesdeutschen Schulen und ihre Rekonstruktion durch zentrale Schulprogrammforscher in den letzten Jahren. Entwicklungsweisend sind dabei besonders die Stellen, an denen mehr als deskriptive Befunde vorgelegt werden, weil durch Wiederholung des Ähnlichen nicht neuer Erkenntnisgewinn hervorzuzaubern ist.
Anmerkungen:
[1] Rolff, Hans-Günter et al. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Band 12. Weinheim/München: Juventa.
[2] Holtappels, Heinz Günter/Müller, Sabine (2002): Inhalte und Struktur von Schulprogrammen. Inhaltsanalyse der Schulprogrammtexte Hamburger Schulen. In: Rolff, Hans-Günter et al. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Band 12. Weinheim/München: Juventa, S. 209-231.
[3] Holtappels, Heinz Günter/Müller, Sabine/Simon, Frank (2002): Schulprogramm als Instrument der Schulentwicklung. Inhaltsanalyse aller Hamburger Schulprogrammtexte. In: Die Deutsche Schule 94, S. 217-233.
[4] Holtappels, Heinz Günter (2003): Schulqualität durch Schulentwicklung und Evaluation. Konzepte. Forschungsbefunde. Instrumente. München/Unterschleißheim: Wolters Kluwer/Luchterhand.
EWR 4 (2005), Nr. 2 (März/April 2005)
Schulprogramme – Instrumente der Schulentwicklung
Konzeptionen, Forschungsergebnisse, Praxisempfehlungen
Weinheim/München: Juventa 2004
(272 S.; ISBN 3-7799-1669-X; 23,00 )
Axel Gehrmann (Rostock)
Zur Zitierweise der Rezension:
Axel Gehrmann: Rezension von: Holtappels, Heinz Günther (Hg.): Schulprogramme – Instrumente der Schulentwicklung, Konzeptionen, Forschungsergebnisse, Praxisempfehlungen, Weinheim/München: Juventa 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991669.html
Axel Gehrmann: Rezension von: Holtappels, Heinz Günther (Hg.): Schulprogramme – Instrumente der Schulentwicklung, Konzeptionen, Forschungsergebnisse, Praxisempfehlungen, Weinheim/München: Juventa 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991669.html