Otto Rühle hat seine sozialpädagogischen Maximen und politischen Postulate im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts formuliert. Seine radikale Kritik an der gewerkschaftlich und parteilich organisierten Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, seine Position als bindungsloser Idealist, seine rätekommunistischen Ansichten und wohl nicht zuletzt seine thematische Vielseitigkeit haben ihn zu einem Außenseiter der (Sozial-)Pädagogik, insbesondere aber der damaligen Schulreformbewegung, die im nachhinein ‚Reformpädagogik’ genannt worden ist, gemacht.
Bekannt geworden ist Rühle 1911 mit seiner Monographie ‚Das proletarische Kind’. Darin untersucht er die Lebensbedingungen von Arbeiterkindern in Deutschland nach der Jahrhundertwende. Dies macht ihn heute zu einem Wegbereiter einer ‚klassenspezifischen Sozialisationsforschung’ – damals wissenschaftliches Neuland, hatten sich doch die Geistes- und Sozialwissenschaften mit diesem Bereich bislang nicht abgegeben. Doch Rühle ist nicht nur als empirischer Soziologe bekannt geworden: heute kann man ihn als aus der Sicht der Politikwissenschaften ebenso in Anspruch nehmen wie aus jener einer frühen Sozialisationsforschung. Weil er sich Alfred Adler und dessen Individualpsychologie zugewandt hat, nachvollziehbar in seiner Schrift von 1925 ‚Die Seele des proletarischen Kindes’, näherte er sich damit der Kinderfreundebewegung um Löwenstein und dem Bund Entschiedener Schulreformer um Oestreich und Karsen.
Rühle hat also Entscheidendes zur Pädagogik und zur Sozialpädagogik beigetragen Er gilt aber auch als Schulpädagoge, weil es ihm immer um eine kind- und jugendgerechte Schule gegangen ist und weil seine wesentliche erziehungstheoretische Annahme die autoritäre Familienstruktur in Abhängigkeit zu gesamtgesellschaftlichen Einflussgrößen stellt.
Rühle und sein Werk lassen sich demzufolge je nach sozialwissenschaftlichem oder politischem Anliegen und Zugang mit Termini wie politisch, pädagogisch, soziologisch, sozialpädagogisch, individualpsychologisch, sozialisationsforscherisch, rätedemokratisch, kommunistisch, linksradikal, sozialanalytisch und kulturtheoretisch umschreiben.
Im vorliegenden Band wird eine systematische Verortung Otto und Alice Rühle-Gerstels vorgenommen, eine Positionierung vor allem von Otto Rühle als Politiker, Sozialisationsforscher und Sozialpädagoge. Insofern schließt das Buch in erziehungshistorischer Perspektive eine Lücke, die der Nicht-Rezeption Rühles geschuldet ist.
Im ersten Kapitel geht es um Rühles Biographie, im zweiten um Rühle und die Sozialpädagogik, im dritten um das proletarische Bewusstsein und die Arbeiterbildung, im vierten um die Prager Zeit des Ehepaars Rühle, im fünften um ihr Exil in Mexiko und im sechsten um die Rezeptionsgeschichte. Mit der Bibliographie im siebten Kapitel endet der Band.
Was ihm fehlt, ist eine systematische Positionierung Rühles als Reformpädagoge. Dass dies nicht geleistet worden ist, ist bedauerlich. Im übrigen könnten die Texte zum Sozialisationsforscher Rühle anschaulicher gefasst sein. Negativ ins Auge sticht eine unsorgfältige, lieblose biographische Skizze Rühles.
Leider weist der Band etliche Brüche auf, als hätten sich die Herausgeber nicht entscheiden wollen, was denn schließlich zu thematisieren sei. Denn die abgedruckten Beiträge weisen auseinanderdriftende und zudem unkommentiert sich folgende und nicht erläuterte Textsorten auf - Erlebnisberichte, sachbuchartige Artikel, Meinungsbilder – mit undurchsichtigen Bezügen zum DFG-Projekt, das zur transparenten Quellenlagen geführt hat. Außerdem ist die Quellenbasis der Beiträge unzureichend dargelegt - und vor allem nicht erklärt. Wäre der Band ein ‚Sachbuch’, dann dürfte nicht ein schwergewichtiger, langer Artikel zum sozialpädagogischen Werk Rühles neben kürzeren biographieausgerichteten und quellenbezogen kaum abgestützten Beiträgen stehen.
Im vierten Kapitel zur Prager Exilzeit irritiert, dass lediglich ĂĽber Alice RĂĽhle-Gerstels Schaffen im Prager Tagblatt berichtet wird.
Im nachfolgenden Teil mit Bezug auf das maxikanische Exil über den Maler Diego Riviera zu berichten, ist angesichts der Randständigkeit des Themas unnötig. Interessanter wäre es hier gewesen, Rühles Konzept der ‚Education Socialista’ zu verdeutlichen und insbesondere seinen Begriff der ‚Arbeitsschule’ zu schildern.
Was weiter fehlt (sechstes Kapitel) sind rezeptionsgeschichtliche Hinweise zu Rühle mit Blick auf die Sowjetunion und andere nicht-deutschsprachige europäische Staaten.
Schließlich: Ausgesprochen sorgfältig ist die Rühle-Bibliographie zusammengestellt – sie motiviert zur weiteren Beschäftigung mit Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel.
EWR 2 (2003), Nr. 4 (Juli/August 2003)
Otto RĂĽhle
Leben und Werk (1874-1943)
Weinheim und MĂĽnchen: Juventa Verlag 2003
(303 Seiten; ISBN 3-7799-1314-3; 32,00 EUR)
Hans-Ulrich Grunder (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Ulrich Grunder: Rezension von: Stecklina, Gerd / Schille, Joachim (Hg.): Otto RĂĽhle, Leben und Werk (1874-1943), Weinheim und MĂĽnchen: Juventa Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991314.html
Hans-Ulrich Grunder: Rezension von: Stecklina, Gerd / Schille, Joachim (Hg.): Otto RĂĽhle, Leben und Werk (1874-1943), Weinheim und MĂĽnchen: Juventa Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991314.html