Die Wirkungen öffentlicher Erziehung sind (immer) wieder ein interessierendes und brisantes Thema: Welche Spuren hinterlässt Heimerziehung in der Lebensgeschichte eines Menschen, wie förderlich oder verletzend werden die oft intensiven sozialpädagogischen Interventionen bewertet? In den letzten Jahren sind dazu zahlreiche Untersuchungen veröffentlicht worden, nicht zuletzt auch die beiden großen Evaluationsstudien im Auftrag des Bundes JULE [1] und JES [2]. An der Studie über Leistungen und Grenzen von Heimerziehung (JULE), unter der Leitung von Hans Thiersch in Tübingen bearbeitet, hat auch Margarete Finkel mitgearbeitet. Aus diesem Datenfundus hat sie anschließend nochmals insgesamt 15 Interviews mit Mädchen ausgewählt und im Rahmen einer Dissertation intensiver ausgewertet.
Damit sind die wesentlichen Merkmale dieser Publikation auch schon angesprochen: Es handelt sich um eine vorrangig auf den wissenschaftlichen Diskurs des Themas bezogene Arbeit, sie nutzt die aktuellen Methoden der Biographieforschung und die Entstehungsgeschichte als Qualifikationsarbeit ist ihr deutlich anzumerken – und es ist ein mit viel Gewinn zu lesendens Buch dabei herausgekommen.
In den ersten beiden Kapiteln werden knapp und kompetent der Forschungsstand zum Thema Mädchen in der Heimerziehung – hier hat sich seit den ersten Arbeiten Anfang der 90er Jahre vieles getan – und die theoretisch-methodische Anlage der Untersuchung referiert. So sehr diese Kapitel dem eingeweihten Leser zeigen sollen, dass sich die Autorin in Gegenstand und Methodik auf der Höhe der Zeit bewegt, sind es auch gut lesbare und für Ausbildung ebenso wie für die Orientierung des in aktuellen Forschungsfragen nicht so bewanderten Lesers informative Ausführungen.
In den Kapiteln 3 und 5 entfaltet Margarete Finkel dann das Herzstück ihrer Arbeit, insgesamt drei ausführliche Fallstudien. In einer gelungenen Komposition von präziser Falldarstellung und differenzierter Interpretation gelingen eindrückliche Analysen der Lebens- und Heimerziehungsgeschichten von drei jungen Frauen. In „Theoretischen Zwischenbemerkungen“ (Kapitel 4) sowie wiederum knapp (10 Seiten) und gehaltvoll zugleich geratenen Schlussbemerkungen werden die wesentlichen Erträge dieser Analysen zusammengefasst. Soweit ist die Arbeit eine theoretisch aktuell informierte, methodisch „handwerklich saubere“ und vor allem dem Gegenstand gegenüber ebenso kritische wie einfühlsame und respektvoll Untersuchung. In der aktuellen Debatte um die Wirkungen und Evidenzen öffentlicher Erziehung ist ein wichtiger Beitrag Grundlagenforschung gelungen.
Der besondere Gewinn der Untersuchungen von Margarete Finkel liegt in ihrem offenen und zugleich analytischen Blick auf ihren Gegenstand. In den ausgewählten lebensgeschichtlichen Erzählungen junger Frauen werden produktive und subjektives Wachstum unterstützende Erfahrungen mit öffentlicher Erziehung ebenso deutlich wie ihr Gegenteil. Nicht mehr die Frage, warum öffentliche Erziehung misslingt, prägt ihr Erkenntnisinteresse, sondern wovon es abhängt, ob es gelingen kann. Gezeigt werden kann dabei, dass ein „gelingender Alltag“ nicht Verheißung am theoretischen Horizont lebensweltorientierter Sozialpädagogik bleiben muss, sondern durchaus bedeutungsvoll in der Lebensgeschichte junger Menschen wirksam werden kann. Für junge Frauen ist dabei, so Finkel, vor allem bedeutsam, ob sie in der Trennung von der Herkunftsfamilie Orte und Menschen finden, die ihre Suche nach Eigenständigkeit insbesondere in der reflektierten Auseinandersetzung mit erlebten Geschlechtrollenprägungen unterstützen. Die Anschlussfähigkeit institutioneller Unterstützung an die biographischen Erfahrungen wird damit neben der Zuverlässigkeit von Versorgung und Schutz sowie der Belastbarkeit in Krisen zu den zentralen Momenten gelingender Heimerziehung. Wie detailliert und intensiv die Verstehensanstrengungen der Professionellen sein müssen, diese „biographische Passung“ zu erarbeiten, wird in den umfangreichen Fallanalysen aber auch deutlich. Die „Moderation biographischer Suchprozesse“ junger Frauen und sicherlich auch junger Männer wird mit dieser Arbeit plausibel als die zentrale Aufgaben sozialpädagogischer Fachkräfte herausgearbeitet, aber auch gezeigt wie voraussetzungsvoll und anspruchsvoll dies ist.
[1] BMFSFJ (Hrsg.): Leistungen und Grenzen von Heimerziehung. Bonn 2. Aufl. 2002 (JULE).
[2] BMFSFJ (Hrsg.): Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe. Bonn 2002 (JES).
EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)
Selbständigkeit und etwas Glück
Einflüsse öffentlicher Erziehung auf die biographischen Perspektiven junger Frauen
Weinheim/München: Juventa (Edition Soziale Arbeit) 2004
(336 S.; ISBN 3-7799-1217-1; 34,50 EUR)
Christian Schrapper (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Schrapper: Rezension von: Finkel, Margarete: Selbständigkeit und etwas Glück, Einflüsse öffentlicher Erziehung auf die biographischen Perspektiven junger Frauen. Weinheim/München: Juventa (Edition Soziale Arbeit) 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991217.html
Christian Schrapper: Rezension von: Finkel, Margarete: Selbständigkeit und etwas Glück, Einflüsse öffentlicher Erziehung auf die biographischen Perspektiven junger Frauen. Weinheim/München: Juventa (Edition Soziale Arbeit) 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991217.html