Niklas Luhmann hat der Erziehungswissenschaft durch seine gezielten systemtheoretischen Provokationen eine Menge an Texten hinterlassen, zwischen deren Zeilen so manche pädagogische Analyse neu zu schreiben wäre. Insbesondere für die Beobachtungen von Prozessen in der sozialen Dimension des Erziehungssystems enthält die Systemtheorie einen reichhaltigen, nicht immer leicht mit der pädagogischen Tradition zu vermittelnden Anregungsgehalt. Diesem spürt Heike Buhse in ihrem Buch „Innovations-Management in turbulenten Zeiten“ nach. Bereits der Blick auf das Inhaltsverzeichnis vermittelt eine Ahnung von der Faszination, die von den Mitteln einer systemtheoretisch strukturierten Beobachtung auf die Autorin ausgegangen ist – und von der sie selbst im einleitenden Kapitel berichtet: Es sind die Versprechungen und der Reiz großformatiger, begrifflich systematisch entwickelter Theorieelemente, die sich im Aufbau des Buches widerspiegeln. So nimmt das nach der Einleitung zweite Kapitel eine Annäherung an das organisationale Lernen der Schule unter system- und organisationstheoretischer Sicht vor; das dritte Kapitel geht auf das organisationale Lernen unter Berücksichtigung zentraler Begriffe einer systemtheoretischen Organisationstheorie wie Entscheidung und Entscheidungsprämisse ein. Die Kapitel 4, 5 und 6 orientieren sich jeweils an einem Grundbegriff soziologischer Systemtheorie (Komplexität, Zeit und Sinn) unterhalb derer organisationstheoretisch belangvolle Aspekte (die Ressource Vertrauen, der organisationale Wandel und das System-Umwelt-Verhältnis von Organisationen) behandelt werden. Den Abschluss des Buches bilden zwei kurze Kapitel zur Schulentwicklung durch Innovations-Management und zum weiteren Ausblick. Die Gliederung spiegelt aber nicht nur die von dem theoretischen Zugang ausgehende Faszination, sondern auch die Stärken und Schwächen des Buches.
Zunächst zu den Stärken: Die Autorin hat im vollen Bewusstsein der analytischen Kraft abstrakter Begriffe gearbeitet und diese ebenso gezielt wie unprätentiös gegen die nach wie vor oft von Weltanschauung geprägte pädagogische Reflexion gesetzt. Die sichere und originelle Auswahl der thematischen Schwerpunkte aus der System- und Organisationstheorie sowie ihre Differenzierung in Unterkapitel lassen das erkennen. Die Lektüre der Kapitel selbst zeigt eine Leistung, die auf einem gründlichen Quellenstudium beruht. Referenzautoren sind in erster Linie Niklas Luhmann und – in der offenkundigen Wertschätzung der Autorin mit einigen Abstrichen – Chris Argyris und Donald Schön. Deren Konzept des organisationalen Lernens, in dem die Komplexität von Lernprozessen durch die Muster der in ihnen vollzogenen Rückkopplungsschleifen unterschieden wird, findet eine gut begründete Integration in das systemtheoretische Begriffsgefüge. Diese in einem frühen Kapitel erbrachte Leistung zieht leider keine deutlichen Spuren durch die folgenden Darstellungen, so dass sie in der insgesamt gelungenen Gesamtkonzeption des Bandes einen exkurshaften Charakter bekommt.
Die Kapitel 4 bis 6 bieten systemtheoretisch geleitete Überlegungen zu Prozessen und zur Prozessgestaltung in Schulen, die sehr früh von den gut ausgebauten – aber dadurch oft auch sehr konventionell verlaufenden – Argumentationsschienen der Schulentwicklungsdiskussion Abstand nehmen und sich eher auf ein Theorieabenteuer mit unbestimmtem Ausgang einlassen. Diese Kapitel sind in strukturellen „Dreisprüngen“ angelegt. Zunächst wird eine ausführliche begriffliche Grundlegung in Rekurs auf die Systemtheorie geleistet. Diese bieten einigen Rückhalt bei den Erkundungsgängen des Theorieabenteuers und sichern ein durchgängig hohes Argumentationsniveau. In einem nächsten Schritt werden begriffliche Differenzierungen vorgenommen, die einen Problembezug zum Bildungssystem herstellen. So münden die Erörterungen zur Komplexität sozialer Systeme und zur Bewältigung von Komplexität durch Vertrauen in Überlegungen zur Kommunikation innerhalb schulischer Statusgruppen (Schüler; Lehrer) und zu Gesellungsformen, die innerhalb von Schulen von besonderer Bedeutung sind, wie etwa der Kollegialität. In einem dritten Schritt schließlich werden die vorangehenden Analysen in Hinblick auf Handlungsorientierung ausgelotet. In diesem dritten Schritt zeigt sich das Gewinnpotential einer theoretisch weitgehend stringenten Arbeit auch oder gerade für die drängenden Fragen der Praxis. Die auf praktisches Handeln bezogenen Überlegungen münden nirgends in simplifizierende Handlungsmodelle oder gar rezeptartige Verfahrensvorschläge, auf die sich weite Teile der Literatur zum Schulmanagement eingeschossen haben. Vielmehr werden aus der Analyse der Komplexität von Handlungs- und Entscheidungssituationen heraus Betrachtungen aufgeworfen, die das Problembewusstsein von Entscheidungsträgern wach halten können, ohne sie durch ein Angebot vermeintlicher Problemlösungen aus der Verantwortung zu entlassen. Hervorgehoben werden müssen hier insbesondere die Ausführungen zur Bedeutung der Langsamkeit in der Schulentwicklung. Ein gut gesetzter Kontrapunkt zu den durch Änderungstatkraft und Reformeuphorie bisweilen unsinnig beschleunigten Vorgängen der Schulentwicklung!
Nun zu den Schwächen: Die Rezeption der Systemtheorie durch die Erziehungswissenschaft gab bereits wiederholt Anlass zu der Frage, ob die Systemtheorie zum Erkenntnisgewinn in der Erziehungswissenschaft beitragen kann, oder ob durch die systemtheoretische Reflexion erziehungswissenschaftlicher Fragen lediglich die Absorbtionskraft einer allgemeinen soziologischen Theorie auch für erziehungswissenschaftliche Themen bestätigt wird. Sicherlich lassen sich für beide Positionen Evidenzen finden, das Buch von Heike Buhse könnte aber eher dazu beitragen, die zweite Position zu stützen. Wenn die Stärke des Buches in der Distanz zu den gängigen Argumentationsmustern im Schulentwicklungsdiskurs durch die Verwendung der Systemtheorie besteht, so besteht die Schwäche darin, kaum Distanz zum Duktus der Systemtheorie zu finden – und damit die Spezifika des Themas aus den Augen zu verlieren.
In weiten Passagen breitet die Autorin das begriffliche Schneidewerkzeug der Systemtheorie in so blitzender Sauberkeit aus, dass es zu schade für die Verwendung erscheint. So verbleiben die Ausführungen vielfach bei allgemeinen Feststellungen, die sich einstellen, wenn die Schule als ein System identifiziert ist: Es verfügt über Sinn, es installiert Mechanismen der Komplexitätsreduktion durch Vertrauen und entwickelt sich in der Dimension Zeit. Um im Bild zu bleiben: Die Messer der Systemtheorie schneiden auch den Kuchen Schulentwicklung – aber wie? Man sollte einmal einen Schnitt ansetzen! Heike Buhse zeigt die Instrumente, aber sie nutzt sie nur zaghaft. So bleibt das Kapitel zur Schulentwicklung durch Innovations-Management im Verhältnis zu den anderen sehr kurz und inhaltlich unbestimmt. Es bietet eine andeutungsweise komprimierte Darstellung der im Buch entwickelten Begriffe in Hinblick auf dessen zentrales Thema. Man kann die Systemtheorie für die Analyse von Schulentwicklung nutzen – aber wie? Die Entwicklung einer systemtheoretisch konsequenten Frage an die Funktion des Innovationsmanagements oder einer kritischen Position gegenüber seinen Ideologien unterbleiben. Möglicherweise wäre diese Kritik abzuschwächen, wenn der Titel des Buches das Abstecken systemtheoretischer Eckpunkte eher erwarten lassen würde als die Auseinandersetzung mit den Veränderungserfordernissen, mit denen sich Schulleitungen in jüngerer Zeit konfrontiert sehen. Das führt zu einigen abschließenden Bemerkungen über die Zielgruppe des Buches. Ihm ist eine aufmerksame Leserschaft zu wünschen – aber etwas unklar ist, welche? Auf jeden Fall eine, die weiter daran arbeitet, Lücken zwischen den Zeilen Luhmanns – auf die hinzuweisen das unumstrittene Verdienst des Buches ist – zu füllen. Das können ebenso gut theoretisch Interessierte sein, die sich zu empirischen Forschungsprojekten über Schulentwicklung inspirieren lassen, wie praktisch Geforderte, die in der ungewohnten Perspektive der Systemtheorie ein Mittel gegen Alltagsroutine finden mögen.
EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)
Innovations-Management in turbulenten Zeiten
Zur Analyse von Schulentwicklung und von weiterfĂĽhrenden Perspektiven aus system- und organisationstheoretischer Sicht
(Europäische Hochschulschriften; Reihe XI Pädagogik)
(Europäische Hochschulschriften; Reihe XI Pädagogik)
Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2006
(225 S.; ISBN 3-631-55026-X; 42,50 EUR)
Harm Kuper (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Harm Kuper: Rezension von: Buhse, Heike: Innovations-Management in turbulenten Zeiten, Zur Analyse von Schulentwicklung und von weiterfĂĽhrenden Perspektiven aus system- und organisationstheoretischer Sicht. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63155026.html
Harm Kuper: Rezension von: Buhse, Heike: Innovations-Management in turbulenten Zeiten, Zur Analyse von Schulentwicklung und von weiterfĂĽhrenden Perspektiven aus system- und organisationstheoretischer Sicht. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63155026.html