Konzepte des systemischen Lernens und der lernenden Organisation prägen seit den 1990er Jahren den Diskurs um Organisationsentwicklung und -beratung. Auch in den praktischen Konzeptionen von Beratungsunternehmen hat sich ein „systemischer Ansatz“ bereits etabliert. Aus diesem Grund weist Mark Ackermann mit seiner Dissertationschrift darauf hin, dass der praktische Erklärungswert der neueren Systemtheorie noch nicht erschöpft ist. Der Autor betrachtet in seinem Buch den radikalen Konstruktivismus sowie die neuere Systemtheorie und verdeutlicht ihren heuristischen Erklärungswert am Beispiel eines organisationalen Change Prozesses. Ackermann vertritt die These, dass Organisationen zur Bewältigung komplexer Aufgaben in einen Prozess des Lernens gebracht werden können. „Aus unserer Sicht sind dafür spezielle Kommunikationsmöglichkeiten (´systemspezifische Kommunikationsarchitekturen´) so zu gestalten, dass Aktion und Reflektion ermöglicht werden“ (15).
Ackermann stellt nach einigen einleitenden Überlegungen (Kap. 1) den Konstruktivismus (Kap. 2) und die neuere Systemtheorie (Kap. 3) vor. Hier beschreibt er sehr ausführlich, dass mit beiden Theorien Besonderheiten für die Wahrnehmung von Organisationen und Individuen einhergehen. Sowohl der Konstruktivismus als auch die Systemtheorie werden in ihrer Relevanz für das Lernen von Organisationen in den Blick genommen. In Kapitel 4 zeigt Ackermann am Beispiel einer Fallstudie, dass die Erklärungskraft beider Theorien genutzt werden kann, um individuelle und organisationale Lernprozesse zu initiieren und zu unterstützen. Die Erfahrungen der Fallstudie und die vorangegangenen theoretischen Überlegungen werden in einem zweiten Theorieteil zu einem Ansatz des systemischen Lernens zusammengeführt (Kap.5). Ackermann konkretisiert den Ansatz, indem er die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Theorien des Organisationslernens herausarbeitet. Im 6. Kapitel stellt Ackermann einen Praxisleitfaden zur Verfügung. Die Leserschaft erfährt hier, wie die gezeigten Vorstellungen des Lernens im Rahmen einer „Organisationsdidaktik“ tatsächlich realisiert werden können. Zusammenfassend diskutiert Ackermann die kritischen Punkte der Studie (Kap. 7).
Dem Konstruktivismus entnimmt Ackermann, dass es handlungsleitende Muster gibt, welche die Handlungsfähigkeit von Organisationen einschränken (30-31). An Hand der Systemtheorie zeigt er, dass diesen Mustern Differenzen zugrunde liegen, an die zur Herstellung der Handlungsfähigkeit angeschlossen werden kann (59). Am Fall des Standortwechsels eines Betriebes beschreibt Ackermann, wie der Betrieb auf die benötigten Differenzen aufmerksam wird. Dazu werden „Kommunikationsplattformen kreiert, um Kommunikationen zu generieren, die bisher nicht möglich bzw. nicht institutionalisiert möglich waren“ (85). Diese bezeichnet Ackermann mit dem Begriff Kommunikationsarchitekturen. Foren für leitende Führungskräfte, besondere Coachingangebote, Mitarbeiter-Aktionen und kick-off-Veranstaltungen werden dafür im Fallbeispiel genannt.
Bei der Kategorie der Kommunikationsarchitekturen handelt es sich laut Ackermann um gestaltbare Strukturen, die innerhalb von Organisationen die Koordination von Handlungen gewährleisten. Zu den Kommunikationsarchitekturen zählt der Autor formelle und informelle Strukturen, denn Handlungen können seiner Ansicht nach sowohl durch Abteilungsbesprechungen als auch innerhalb von Raucherecken koordiniert werden (116). Qualitativ hochwertiger sind die Kommunikationsarchitekturen, deren handlungsleitende Muster zusätzlich Komplexitätserfahrungen ermöglichen. Sie fördern verschiedene Denk- und Verhaltensweisen. Nimmt eine Organisation die unterschiedlichen Denk- und Verhaltensmuster wahr und reflektiert diese, kann laut Ackermann von einem Prozess des systemischen Lernens gesprochen werden.
Ackermann beschreibt ausführlich, dass „Systemisches Lernen“ ein Konzept ist, mit dem bestehende Organisationsstrukturen und individuelle Wahrnehmungsmuster beschrieben und auf Veränderungspotentiale abgetastet werden. Hierbei betont er, dass über die Gestaltung von Kommunikationsarchitekturen die Möglichkeit besteht auf den Lernprozess Einfluss zu nehmen. Durch Gestaltung spezifischer Kommunikationsarchitekturen ist, so Ackermann, ein Prozess des Lernens anzuregen, in dem die bisher getroffenen Unterscheidungen und Beobachtungsmuster hinterfragt und im Sinne der Fortentwicklung des Gesamtsystems verändert werden (121-122).
Für den Umgang mit komplexen Situationen empfiehlt Ackermann ein Systemdenken, das die unterschiedlichen Referenzen (Organisation, Wissensgemeinschaft, Gruppe und Individuum) berücksichtigt. Dieser Zugang zu organisationalen Problemen unterscheidet sich dem Autor zufolge im Lernverständnis und im Kommunikationsverständnis sowie in der Auffassung des System-Umwelt-Verhältnisses von bisherigen Konzepten des organisationalen Lernens (125).
Zusätzlich beschreibt Ackermann den systematischen Rahmen für die Entwicklung geeigneter Kommunikationsarchitekturen. Für jedes Handlungsfeld stellt er einen Leitfaden zusammen, an Hand dessen eine Analyse der Ausgangsbedingungen sowie die Entwicklung geeigneter Kommunikationsarchitekturen vollzogen werden kann. An dieser Stelle zeigt sich eine der zentralen Stärken des Buches. Obwohl sich aus der Systemtheorie nicht direkt Handlungsanweisungen entnehmen lassen, entfaltet Ackermann wie der Entstehungsweg einer Organisationsdidaktik mit den Grundannahmen der Theorie in Verbindung gebracht werden kann. Er weist darauf hin, dass jeder Ansatz, mit dem Lernprozesse beobachtet und gestaltet werden können, auch ein systemtheoretischer, blinden Flecken ausgesetzt ist. Die Beobachter sollten sich deshalb immer die Frage stellen, „welche Kommunikationen habe ich nicht beobachtet bzw. beobachten können“ (181)?
Für mich bleibt offen, wie sich der Spagat Ackermanns zwischen hohem theoretischen und praktischen Anspruch auf die Leserschaft auswirken wird. Die Ausführungen und Illustrationen zum Konstruktivismus und zur Systemtheorie erinnern an die üblichen Einführungslektüren. Während Kenner/innen der Materie sich hier vorschnell unterfordert sehen könnten, dürfte die übrige Leserschaft mit einem Gefühl der Überforderung zu kämpfen haben. Ein solches Problem ist meiner Meinung nach allerdings eher der Systemtheorie als Ackermann zuzuschreiben. In jedem Fall lohnt es sich, das Buch nicht zur Seite zu legen, findet es doch zu einer Organisationsdidaktik, die durchaus von praktischem Nutzen ist.
EWR 5 (2006), Nr. 1 (Januar/Februar 2006)
Systemisches Lernen
Individuelle und organisationale Lernprozesse in Kommunikationsarchitekturen (Bildung und Organisation, Bd. 14)
Frankfurt: Peter Lang 2005
(200 S.; ISBN 3-631-53329-2; 39,00 EUR)
Nils Bethmann (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nils Bethmann: Rezension von: Ackermann, Mark: Systemisches Lernen, Individuelle und organisationale Lernprozesse in Kommunikationsarchitekturen (Bildung und Organisation, Bd. 14). Frankfurt: Peter Lang 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63153329.html
Nils Bethmann: Rezension von: Ackermann, Mark: Systemisches Lernen, Individuelle und organisationale Lernprozesse in Kommunikationsarchitekturen (Bildung und Organisation, Bd. 14). Frankfurt: Peter Lang 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63153329.html