Wer eine Publikation zum Thema „Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus“ vorlegt, darf mit Interesse, muss aber auch mit besonderen Erwartungen rechnen, ist doch damit eine lange, bedeutende und bis heute noch nicht abgeschlossene innerfachliche Debatte über die nachhaltig wirksamen Gründungsväter der akademischen Pädagogik angesprochen, die neben heftigen Kontroversen zu einer Reihe materialreicher Studien und wichtiger Forschungserträge geführt hat, an denen sich nachfolgende Untersuchungen wie die vorliegenden zu messen haben. Dabei ist es nicht ohne Reiz, dass die von Thomas Gatzemann (TU Chemnitz) und Anja-Silvia Göing (Universität der Bundeswehr Hamburg) herausgegebenen Beiträge die Ergebnisse eines workshop dokumentieren, der an der Universität der Bundeswehr in Hamburg stattfand und sich vorgenommen hatte, „kritische Fragen nach der Verbindung von Pädagogik, Politik und Militär“ zu stellen. Da darf man mit Recht gespannt sein – doch dieses Vorhaben ist über weite Strecken misslungen.
Damit sind freilich nicht alle Beiträge gemeint, z. B. jene nicht, die sich kritisch mit der pädagogischen Kriegsverherrlichung zwischen Wilhelminismus und Nationalsozialismus samt ihren antiintellektualistischen, antiliberalen und gegen-aufklärerischen Denktraditionen auseinandersetzen (Winfried Böhm) oder – erheblich differenzierter und materialreicher – die von der Historischen Bildungsforschung vernachlässigte „Kriegspädagogik“ 1914-1918 (darunter auch Fr. W. Foerster) rekonstruieren und mit Fragen nach deren Nachwirkung z. B. in der ‚Reformpädagogik’ verbinden (Andreas von Prondczynsky). Das ist zwar nicht alles neu und bezüglich der Fernwirkungen auch zuweilen kräftig überzogen (Böhm), aber doch notwendige Erinnerungsarbeit im Blick auf die Disziplin wie speziell auch auf den vorliegenden Band. Auch Kurt Beutlers präzis belegte Kritik der Militärpädagogik Erich Wenigers ist ausdrücklich hervor zu heben, nicht zuletzt wegen ihrer isolierten Stellung im Themenbereich ‚Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus’, der den Schwerpunkt des Bandes bildet. Dort werden Eduard Spranger (Anja-Silvia Göing), Herman Nohl (Alexander Stühmer), Theodor Litt (Thomas Gatzemann) sowie Erich Weniger behandelt, dem sich gleich zwei Autoren widmen, wie sie gegensätzlicher kaum sein können (Kurt Beutler und Uwe Hartmann).
Es wird also ein weiteres Mal ein Personencorpus untersucht, das (zusammen mit Wilhelm Flitner, Peter Petersen und Theodor Wilhelm) seit Mitte der 1980er Jahre im Zentrum einer Kontroverse stand, in der mit Verve und Polemik über Kontinuität und Diskontinuität der akademischen Pädagogik nach 1933 gestritten wurde und nachholende Fragen zur Haltung der führenden Weimarer Pädagogen zum Nationalsozialismus in manchen Augen noch wie disziplinäre Nestbeschmutzung erschienen. Die Zeit der scharfen, ‚Lager’ bildenden Auseinandersetzungen, die zuletzt noch einmal im Nohl-Buch von Klafki und Brockmann spürbar wurde [1], hat einer zunehmenden Versachlichung der Debatte Platz gemacht und neue Fragestellungen und Forschungsfelder, breiteres Quellenmaterial und differenziertere Untersuchungsmethoden erzeugt. Inzwischen sind wichtige Forschungsbefunde aus zahlreichen weiteren geisteswissenschaftlichen Fächern über die Jahre vor und nach 1933 hinzu gekommen und ermöglichen Vergleiche des pädagogischen Establishment mit ähnlich gelagerten akademischen Eliten und Milieus. Wer sich heute noch zu diesem Thema wissenschaftlich äußern will, wird nicht umhin können, so denkt man, sich sowohl mit der Geschichte und Substanz dieser Debatte wie auch mit dem veränderten Diskussions- und Forschungsstand auseinander zu setzen.
Dass dies offenbar nicht selbstverständlich ist, belegt die vorliegende Publikation. Die Herausgeber lassen weder erkennen, warum und mit welchen Intentionen das viel diskutierte Thema wieder aufgenommen wurde, noch was dafür spricht, es noch einmal am üblichen historischen Personal zu traktieren. Dagegen wäre wenig einzuwenden, ginge es um neue oder wenigstens zentrale Fragestellungen, kaum behandelte Texte oder innovative methodische Ansätze. Doch davon kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur. Stattdessen zeichnet sich der überwiegende Teil der Beiträge zu diesem Schwerpunkt durch einen fast schon ignoranten Umgang mit dem Forschungsstand aus, wie schon der Blick in die meisten Literaturverzeichnisse belegt. Für die Mehrheit der Beiträger scheint die oben skizzierte Kontroverse gar nicht stattgefunden zu haben oder Relevanz für ihre eigenen Überlegungen zu besitzen. Zwar stellt der Bezug zum Nationalsozialismus so etwas wie einen ‚roten Faden’ der vorliegenden Studien dar, auch wenn dieser manchmal erst gesucht werden muss (so bei Gatzemann und Göing) oder als bloßer Appendix erscheint (wie bei dem recht unbelesenen und unkritischen Nohl-Beitrag von Oberleutnant Stühmer); doch wie (wenn überhaupt) die Indikatoren und Kriterien für eine genauere Analyse dieser Beziehung bestimmt werden, verrät in ihrer Hilflosigkeit einmal mehr die mangelnde Wahrnehmung einer jahrelangen Debatte, in der es nicht zuletzt um diese Aspekte ging.
Was von der Auseinandersetzung um „Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus“ im vorliegenden Band geblieben ist, wird geradezu exemplarisch in der zweifachen Behandlung der Militärpädagogik Erich Wenigers deutlich. Die Autoren sind Kurt Beutler (Universität Hannover), selbst Akteur in der Kontroverse, der mit einer Reihe kritischer Studien über die umfangreichen militärpädagogischen Schriften des Göttinger Pädagogen die Debatte über den „anderen Weniger“ [2] erst angestoßen und mit vorangetrieben hat, und der Diplompädagoge und Oberstleutnant Uwe Hartmann, der Weniger mit den Augen eines Generalstäblers der Bundeswehr liest. Während Beutler keinen Zweifel lässt, dass der vom „Kriegserlebnis“ (1914-1918) nachhaltig faszinierte Weniger Militär und Krieg entschieden befürwortete und in seinen nach 1933 an die Adresse der NS-Wehrmacht publizierten militärpädagogischen Schriften dem Nationalsozialismus nicht nur ideologisch entgegen kam, sondern sich z. T. auch explizit pronazistisch äußerte, wischt Hartmann solche Argumente und Belege rigoros vom Tisch, wobei er die fachinterne Weniger-Kontroverse ebenso vollständig ignoriert wie die Arbeiten Beutlers und Siemsens. Stattdessen feiert er mit strategisch-selektivem Blick fürs Wesentliche Erich Weniger als unbescholtenen, auch innerhalb der Wehrmacht stets dem Prinzip der pädagogischen Autonomie verbundenen Berater beim Aufbau der Bundeswehr und wichtigen Stichwortgeber bei der Entwicklung des Konzepts der „Inneren Führung“. Dass seine Militärpädagogik in Erziehungswissenschaft und Bundeswehr in Vergessenheit geraten sei, wertet Hartmann als ein „schweres Defizit“ (137), könnten doch gerade heute „die Erziehungswissenschaften (...) einen wichtigen Beitrag leisten (...), um die gesellschaftliche Integration der reformierten Bundeswehr als ‚Armee im Einsatz’ sicherzustellen“ (126).
Dass solche militärische Indienstnahme von Erziehungswissenschaft unter Beharrung auf fragwürdigen pädagogischen Denktraditionen, aber auch manch anderer der weniger offensiv der Problematik ausweichenden Beiträge kommentarlos von Erziehungswissenschaftlern für publikationswürdig gehalten werden konnte, muss zu denken geben. Mit „kritische(n) Fragen nach der Verbindung von Pädagogik, Politik und Militär“, so der Anspruch, hat das allenfalls ansatzweise noch etwas zu tun.
[1] Klafki, Wolfgang/Brockmann, Johanna-Luise (2002): Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus. Herman Nohl und seine " Göttinger Schule" 1932-1937. Eine individual- und gruppenbiografische, mentalitäts- und theoriegeschichtliche Untersuchung. Weinheim: Beltz.
[2] Siemsen, Barbara (1995): Der andere Weniger. Eine Untersuchung zu Erich Wenigers kaum beachteten Schriften. Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang.
EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)
Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Krieg und Nationalsozialismus
Kristische Fragen nach der VErbindung von Pädagogik, Politik und Militär
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004
(186 Seiten; ISBN 3-631-50840-9; 29,80 EUR)
Hasko Zimmer (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hasko Zimmer: Rezension von: Gatzemann, Thomas / Göing, Anja-Silvia (Hg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Krieg und Nationalsozialismus, Kristische Fragen nach der VErbindung von Pädagogik, Politik und Militär, Frankfurt am Main: Peter Lang 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63150840.html
Hasko Zimmer: Rezension von: Gatzemann, Thomas / Göing, Anja-Silvia (Hg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Krieg und Nationalsozialismus, Kristische Fragen nach der VErbindung von Pädagogik, Politik und Militär, Frankfurt am Main: Peter Lang 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63150840.html