EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Thomas Schauder
Heimkinderschicksale
Falldarstellungen und Anregungen fĂĽr Eltern und Erzieher problematischer Kinder
Weinheim: Beltz 2003
(194 Seiten; ISBN 3-621-27533-9; 24,90 EUR)
Heimkinderschicksale Der Klappentext stellt den Autor als Psychologen vor, der "über seine Erfahrungen in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder" berichten und Hilfestellungen zum Umgang mit "verhaltensauffälligen" Kindern geben will. Er selbst präzisiert im Vorwort seinen Schreibanlass um den Wunsch der Information aller denkbarer und möglicher Erwachsener die – in welcher Form auch immer - mit Kindern zu tun haben sowie um den Verarbeitungsbedarf eigener Berufserfahrungen. Außerdem will er zur Wahrnehmungsschärfung seiner Leserschaft und als Öffentlichkeitsarbeit zur Entstigmatisierung der Heimerziehung beitragen. Schon hier ist fraglich, ob er seine vielen Ziele erreichen wird.

Immerhin: Im Vorwort und auch im vierten Kapitel grenzt sich Schauder von Termini wie "schwer erziehbar" und "Anstalt" ab und hält diese Abgrenzung auch durch. Leider gelingt ihm dies für die zwar meist in Anführungszeichen gesetzten "verhaltensgestörten" Kinder nicht. Die kritische Auseinandersetzung mit der Etikettierung und Stigmatisierung erzeugenden und im sozial- wie auch im sonderpädagogischen Fachdiskurs bereits vielfach problematisierten Modell der "Verhaltensstörung" scheinen dem Autor nicht geläufig zu sein. Auch gelingt es Schauder nicht, herauszuarbeiten, wer oder was und warum die Kinder derart gestört hat, dass sie mit für ihre Umwelt problematischen Verhaltensstrategien reagieren müssen.

Im ersten Kapitel sind unter der undifferenzierten Frage "Heimerziehung – was ist das und wozu ist sie gut?" Aspekte zusammengetragen, die von grau unterlegten Auszügen der §§ 27, 28 und 34 (SGB VIII) offensichtlich auf die Rechtslage der im SGB VIII genannten "Hilfen zur Erziehung" (§§ 27-36) verweisen sollen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen werden nur unzureichend dargestellt: Hier wäre die Kenntnis der Kommentierungen des Gesetztes wie auch wenigstens seine gründliche Lektüre hilfreich gewesen, nimmt doch § 27 (2) mit dem Satz "Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der § 28 bis 35a gewährt. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall" eindeutig Bezug auf die eben nicht (!) hierarchisch gedachte Rangfolge der Hilfen. Schauder dagegen erläutert seiner LeserInnenschaft, dass Hilfe zur Erziehung erst einsetzt, wenn Erziehungsberatung nach § 28 nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hat und die stationäre Unterbringung die Erfolglosigkeit aller ambulanten Maßnahmen voraussetzt. Das Instrument der Hilfeplanung nach § 36 unterschlägt er ganz und geht nahtlos, aber äußerst fragmentarisch zum Kindeswohl [1] und seiner Gefährdung über und begründet mit Hinweis auf § 1631 BGB die Unverzichtbarkeit der Heimerziehung

Im ähnlich fragmentarischen und entsprechend fehleranfälligen Schnellverfahren werden im zweiten Kapitel "Konzeptuelle Gedanken der Heimerziehung" in ihrer Breite referiert und der Verallgemeinerung preisgegeben. Ohne einen Gedanken an Differenzierungen zu verschwenden präsentiert Schauder anschließend Distanz und Supervision als "Kennzeichen" der Heimerziehung.

In der Folge finden sich eine Vielzahl an Allgemeinplätzen wie "das Kind dort abholen ..." o.ä., und der Versuch eine rezeptartige Zusammenstellung für Bausteine der therapeutischen Arbeit im Heim zu liefern: Von operanten Konditionierungen nach behavioristischen Modellen, über die "Klingelmatte" bis hin zur Voraussetzung einer "zumindest durchschnittlich ausgeprägten Intelligenz" (23) wird das Heimkind zur Black-Box, die - analog zu den banalen Merksätzen der grauen Kästchen - bedient werden muss, um wieder zu funktionieren. Der unerwartete Schwenk zu systemtherapeutischen Modellen bedient Ansätze der Elternarbeit und streift wieder nur äußerst unbefriedigend die Möglichkeiten von Traumatisierungen als Ursachen von Problemen, die im Rahmen von Heimerziehung bearbeitet werden können.

Bei Schauer geschieht diese Bearbeitung in Anlehnung an das Petermannsche Trainingsmodell, und führt trotz guter Kenntnis systemtheoretischer Ansätze zur Unterscheidung in leistungsbezogene und nichtleistungsbezogene "Störungen", die in ihrer "Behandlungsbedürftigkeit" (39) definiert werden können. Eine Auswahl von Ursachen soll das Bild der Adressaten der Heimerziehung vervollständigen, bleibt aber in seiner Oberflächlichkeit und in seinen Aussagen z.B. zu Traumatisierungen durch z.B. sexuelle Gewalterfahrungen weit hinter dem aktuellen Fachdiskurs [2] zurück.

Vier ausführliche Fallbeschreibungen sollen "einen informativen Einblick in das Problemfeld der Heimerziehung" (56) vermitteln und sind nach den "persönlichen" Kriterien ‚Betroffenheit’ und ‚Hilflosigkeit’ des Autors ausgewählt. Trotz der umfangreichen Falldarstellung vor und während der Heimerziehung werden die - immerhin als Ziel des Buches versprochenen - pädagogischen Handlungsoptionen gar nicht, die therapeutischen nur rudimentär skizziert und verlaufen entweder idealtypisch oder absolut unbefriedigend. Die Fälle bleiben auf einer rein deskriptiven Ebene und werden nicht reflektiert.

Ein viertes Kapitel scheint unter der Überschrift "Noch etwas zum Thema Heimerziehung – Ausblick" alle Reste dessen zusammenzutragen, die aus Sicht des Autors zwar zum Thema gehören, aber in den vorangegangenen Abschnitten keinen Platz fanden.

Im fünften Kapitel findet sich eine Sammlung an kurz eingeführten und jeweils im Paket grau unterlegten "Leitsätzen" für Eltern, die "alles richtig" (177) machen wollen. So absurd der Gedanke einer "richtigen" Erziehung auch sein mag, finden sich hier Rezepte wie "Ich liebe mein Kind über alles" (178) oder "Ich behalte meine Geduld" (179). Es scheint, Eltern, die dieses Buch bis hierher gelesen haben, erhalten nun die Aufforderung durch mantraähnliche Wiederholungen dieser Leitsätze ihre Kinder vor den "Schicksalen" der Heimerziehung schützen zu können. Abschließend finden die (deren Mantras nicht innig genug waren) eine Liste von möglichen Anlaufstellen oder können mit dem "Sachregister" Stichworte nachschlagen und mit den beliebig erscheinenden Literaturvorschlägen weiterlesen.

Schauder betont, aus der Sicht des Psychologen zu schreiben und scheint damit die Aussagekraft seiner Äußerungen unterstützen zu wollen, argumentiert aber dennoch immer auch aus einer (vermeintlichen) heilpädagogischen Perspektive, ohne beide Perspektiven je voneinander abgegrenzt zu haben. Erschienen in einer Reihe, die "Psychologisches Know-how für die Praxis" verspricht, genügt dieses Buch in seiner unsystematischen und unreflektierten Sammlung von Halbheiten weder zur Vermittlung von Grundwissen noch kann es einem populärwissenschaftlichen Zugang zu Problemen von Heimerziehungsbiographien genügen.



Ein höchst problematisches Buch, dem man die "(Weiter)Bearbeitung" einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1995 deutlich anmerkt, ging es doch damals um "Verhaltensgestörte Kinder in der Heimerziehung". Heimerziehung nach dem von Schauder vorgegebenen Muster wird für die Adressaten tatsächlich zur Schicksalsfrage und es bleibt zu hoffen, dass möglichst wenige FachkollegInnen oder elterliche ErzieherInnen dieses Buch zu Hilfe nehmen, wenn sie sich mit den problembelasteten Biographien von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Heimerziehung auseinandersetzen und ihnen neue Perspektiven geben wollen. – Es liegen schließlich eine Vielzahl fachlich korrekter und inhaltlich ertragreicher jüngerer Literatur zur Heimerziehung vor.

Wer sich mit den biographischen Möglichkeiten der Erziehungshilfen und den Hilfeerfahrungen aus Adressatensicht auseinandersetzen will, dem seien an dieser Stelle die differenzierte und höchst aussagekräftige Untersuchung von Normann, sowie die Sammlung von Heimkinderselbstdarstellungen von Demirkan und ganz besonders das hervorragende Buch von Wilma Weiß "Philipp sucht sein Ich" empfohlen [3].



Anmerkungen

[1] Zur Komplexität des Kindeswohlbegriffs vgl. Zitelmann, Maud: Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld zwischen Recht und Pädagogik. Münster: Votum 2001
[2] Einen umfassenden und ertragreichen Überblick zur diesbezüglichen Situation und dem noch offenen Handlungsbedarf bieten z.B. Hartwig, Luise, Hensen, Georg: Sexueller Missbrauch und Jugendhilfe. Möglichkeiten sozialpädagogischen Handelns im Kinderschutz. Weinheim: Juventa 2003.
[3] Edina Normann: Erziehungshilfen in biographischer Reflexion. Heimkinder erinnern sich. Beltz Weinheim 2003; Renan Demirkan (Hrsg.): Der Mond, der Kühlschrank und ich. Heimkinder erzählen. Köln 2001; Wilma Weiß: "Philipp sucht sein Ich". Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen.. Beltz Weinheim 1. Auflage 2003, (Juventa Weinheim 2. Auflage 2004)
Anke Spies (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anke Spies: Rezension von: Schauder, Thomas: Heimkinderschicksale, Falldarstellungen und Anregungen fĂĽr Eltern und Erzieher problematischer Kinder, Weinheim: Beltz 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/62127533.html